Wiedergelesen von Klaus M. Fiedler

Christa Wolf: Der geteilte Himmel

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1963, 320 S.

Christa Wolf war 34, als 1963 ihre Erzählung Der geteilte Himmel erschien. Das war nach ihrem Debüt mit der Moskauer Novelle (1961) erst ihre zweite literarische Arbeit, doch sie sollte die Literaturlandschaft in der DDR nachdrücklich prägen und sorgte dann auch wie die späteren Arbeiten etwa Nachdenken über Christa T. oder Kein Ort. Nirgends und Kassandra für heftige, mitunter stark kontroverse Diskussionen. Worum geht es in Der geteilte Himmel? Christa Wolf siedelt die Liebesgeschichte zwischen der Angestellten und späteren Pädagogikstudentin Rita Seidel und dem Chemiker Manfred Herrfurth in den DDR-Alltag am Vorabend des Mauerbaus an. Die Liebe zerbricht. Manfred kann sich in seiner Arbeit nicht verwirklichen; die bürokratischen Hindernisse, die ihm von Dogmatikern in den Weg gelegt werden, sind ihm zu groß - er geht in den Westen. Ritas Versuch, ihn umzustimmen, scheitert. Sie fährt von Westberlin aus allein nach Halle zurück.

Beim Wiederlesen der Erzählung stellen sich a priori Fragen ein. Etwa die: Ist die Entscheidung der Rita Seidel auch aus heutiger Sicht noch nachvollziehbar? Mußte Manfred Herrfurth wirklich scheitern und ist sein Schritt ins andere Deutschland, diese „Republikflucht“, immer noch zu verurteilen? Ritas schmerzvollen Abschied vom Geliebten hat Christa Wolf mit ihrer kunstvollen Erzählstruktur, übergangslosen Rückblenden, ineinander verschlungenen Zeitebenen überzeugend dargestellt. Was damals selbstverständlich war, Ritas tiefe Verwurzelung in den Arbeitsprozeß der Waggonbauer mit den sie prägenden Figuren wie Meternagel oder Wendland, hat auch über drei Jahrzehnte später nichts von seiner Logik eingebüßt. Leichtfertig gibt sie Manfred nicht auf; sie kämpft um ihn und um sich bis zur physischen Selbstaufgabe, denn sie weiß, daß auch sie versagt hat, daß auch sie dem Mann, der ihr Leben veränderte, nicht den Halt geben konnte, den er brauchte, als Zweifel und Skepsis ihn förmlich zerrissen. Und dann dieser Manfred Herrfurth. Wir wissen heute, daß der Dogmatismus bald nach dem Mauerbau in der DDR schillernde Blüten trieb und daß sich das Individuum immer stärker dem „Kollektivgeist“ unterordnen mußte oder in Nischen floh. Viele Herrfurths wurden so als für sie einzige Überlebensmöglichkeit zu Opportunisten. Manfred wollte nicht zum Mitläufer werden, darum lief er fort. Uns ist nicht bekannt, ob er dort, wo er für sich die besseren Arbeitsbedingungen erhoffte und sie wohl auch - Christa Wolf deutet es kurz an - vorfand, nicht auch, wenn auch unter anderen Vorzeichen, zu einem Ja-Sager geworden ist. Es ist anzunehmen - doch dies wäre eine andere Erzählung wert.

Im Prolog beschwört Christa Wolf Stimmungen; sie spiegelt wie in einem psychologischen Zeitraffer die Atmosphäre des Sommers 1961. „Ein Schatten war über die Stadt gefallen, nun war sie wieder heiß und lebendig, sie gebar und begrub, sie gab Leben und forderte Leben, täglich.“ Ein Schatten; er sollte, wie einst gedeutet wurde, auf die tödlichen Gefahr hinweisen, die aus den Folgen des Kalten Krieges für die Menschen erwuchs und die nun - die Stadt war „wieder heiß und lebendig“ - mit dem Mauerbau gebannt war. Das Bild könnte, durch das Teleobjektiv unserer Tage betrachtet, aber auch einen Schatten meinen, eine Vorahnung, das plötzliche totale Getrennt-Sein von Familien, von Freunden und Bekannten betreffend: eine Mauer als Sicherheit, aber auch eine Mauer als unüberwindbare Grenze zwischen Brüdern.

Die Diskussion um Christa Wolfs Der geteilte Himmel hatte überwiegend zustimmende Tendenzen. Das, wenn auch mühsam erkämpfte Ja der Rita Seidel zum Arbeiter- und Bauernstaat wurde als positives Beispiel für die eigenständige sozialistische Gegenwartsliteratur gewertet. Der sowjetische Dichter Konstantin Simonow sah es in einem Interview mit der Tageszeitung „Neues Deutschland“ so: „Die Entscheidung der Heldin ist meiner Meinung nach künstlerisch am besten gelungen. Eigentlich geschieht nicht viel, aber ihre Empfindungen sind so gut wiedergegeben, daß ihr Entschluß in Westberlin, nach Hause zurückzukehren, überzeugend ist.“ Die „Neue Zeit“ lobte Ritas „Identifizierung mit ihrer Umgebung, also mit der sozialistischen Wirklichkeit“ und ihr Streben, „die neuen individuellen Perspektiven mit denen der neuen Gesellschaft zu verbinden“. Manfred dagegen bleibe, wie der Rezensent feststellt „im Individualismus stecken“ und läßt sich „in den Sog des Menschenhandels und der Kriegshysterie hineinziehen“.

Auf allgemeines Unverständnis stießen die Betrachtungen, die von der SED-Bezirkszeitung Halle „Freiheit“ veröffentlicht wurden. Die halleschen Literaturkritiker vermißten in der Erzählung von Christa Wolf die positive Rolle der Partei; ihre Vertreter wie Wendland, Meternagel, Schwarzbach würden in dem Werk nicht typisch sein für die Mehrheit der Genossen, sie würden zu oft allein agieren und nicht die Kraft der Partei, des Kollektivs suchen. Die Schilderung dieser Personen bezeichnete das SED-Organ aus Halle als „dekadent“. Damit war die „Freiheit“ zu weit gegangen und mußte, völlig zu recht, allgemeine Schelte hinnehmen. Ausführlich beschäftigte sich beispielsweise Professor Dr. Hans Koch, damals 1. Sekretär des Deutschen Schriftsteller-Verbandes, mit den Argumenten der Freiheit-Autoren und kam zu dem Schluß, „daß wir mit einer derartigen Charakterisierung eines wichtigen Buches, das ein Mitglied unseres Vorstandes schrieb, keinesfalls einverstanden sind“. Ein Urteil, das bis auf den heutigen Tag Bestand hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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