Literaturstätten von Sabine Graßmann

Kraft schöpfen
im „Raum der Stille“

Ökumenisches Frauenzentrum Evas Arche e. V. in Berlin-Mitte

Es ist einer dieser trüben Wintertage, an denen die Sonne die dichte graue Wolkendecke nicht zu durchdringen vermag. Die Temperatur pendelt gegen Null, kann sich weder für Plus noch Minus entscheiden. Feiner Niesel schwebt in der Luft. Kalter Wind läßt mich frösteln. Vom S-Bahnhof Hackescher Markt kommend, überquere ich Straßenbahngleise, stapfe ein Stück die Oranienburger über verstreuten Sand und Kies, balanciere über bürgerfreundlich gelegte, doch verrutschte, glitschige Bretter. Übliches Baustellenchaos in Berlin. Einbiegen in die Große Hamburger. Häuser, verhüllt in Weiß und Blau - diesmal nicht von Christo -, rote Markisen kleiner Cafés, die einladend drunter vorlugen. Riesige Mischfahrzeuge wälzen mit Getöse Zement; auf den Gerüsten vielsprachiges Stimmengewirr, es wird gehämmert, gesägt, Krane schwenken ihre Lasten ...

Große Hamburger Straße 28 - zwischen Schreibwarengeschäft und Antiquariat das Tor zu „Evas Arche“, dem ersten und einzigen ökumenischen Frauenzentrum Berlins, in dem sich Frauen verschiedener Konfessionen und auch jene, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, treffen können.

Und dann, im ersten Stock, der „Raum der Stille“.

Hier gibt es kein Stühlescharren, denn wer hier Ruhe sucht oder ein vertrauensvolles Gespräch, wer meditiert oder Andacht mit Pastorin Inge Heiling hält, läßt sich auf eines der am Boden liegenden Sitzpolster nieder. Rund 480 Veranstaltungen, ob „Die Bibel mit Augen von Frauen gelesen“ oder „Die Hexen in Berlin“, fanden hier im Vorjahr statt. Lesen Frauen die Bibel anders? Das interessiert mich dann doch. „Die Bibel ist ihrer patriarchalischen Zeit entsprechend von Männern geschrieben und geprägt worden. Frauen unserer Zeit lesen die Bibel ganz anders und interpretieren sie mit ihren unterschiedlichsten Lebenserfahrungen daher auch anders“, klärt mich Inge Heiling auf. Daraus, so erfahre ich weiter, schöpfen viele Frauen neuen Lebensmut und Selbstvertrauen. Die Pastorin aus Mecklenburg begleitet seit 2 Jahren nicht nur das religiöse Leben der „Arche“, sie bietet auch als Ehe- und Lebensberaterin Gespräche für Frauen in unterschiedlichsten Konfliktsituationen an.

Fast hätte ich den Eingang übersehen, so versteckt sind die Hinweistafeln an der Tür und der inneren Mauerfläche angebracht. „Wer zu uns will, der findet uns auch“, sagt die Sozialpädagogin Petra Ziep, Initiatorin des Frauenzentrums. Schon in den letzten Jahren der DDR hatte sie die Idee, einen Treffpunkt zu schaffen, in dem sich Frauen ungestört über ihre täglichen Alltagssorgen - und deren gab es wahrlich viele - austauschen und nach praktikablen Lösungen suchen konnten. Erst nach der Wende - und auch da war der Anfang schwer und dornenreich, denn es fand sich zunächst kein Träger des Projekts, auch kein kirchlicher, es mangelte an geeigneten, bezahlbaren Räumen - haben sich die Arche-Frauen durchgekämpft und mit zwei Mitarbeiterinnen mit Sozialberatung und Selbsthilfekursen für Frauen begonnen. Das „Mittwochsfrühstück“ - Frauen trafen sich, um gemeinsam zu frühstücken, dabei ins Gespräch zu kommen, sich praktische Lebens- und Überlebenshilfe zu vermitteln - gehörte zu den ersten Angeboten.

Viele Frauen, die zu DDR-Zeiten „ihren Mann standen“, gleich welchen Berufsstandes, fielen nach der Vereinigung Deutschlands durch Arbeitslosigkeit und das dem weiblichen Geschlecht aufgezwungene Minderwertigkeitsgefühl durch die jetzige Gesellschaft in ein tiefes Loch, ließen sich auf bloßes Objektsein reduzieren. Dabei ist das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität geblieben. Sie möchten aufgefangen und angenommen sein. Diesem Wunsch gibt die „Arche“ Raum, begleitet Frau auf dem Weg in die neu zu gestaltende Selbstbehauptung.

„Arche“, das meint: Ein geschützter Raum, in diesem Fall ausschließlich für Frauen, die für ein paar Stunden Geborgenheit suchen, Verständnis und Begleitung für ihren neuen Lebensprozeß finden, neue Kraft schöpfen wollen.

Es ist eine glückliche Fügung, daß „Evas Arche“ ihr Domizil schließlich in der ersten Etage des Sophien-Gemeindehauses Berlin-Mitte fand. In jenem Haus, das gegen Ende des letzten Jahrhunderts den von Pfarrer Burkhardt gegründeten „Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend“ beherbergte. Ein Verein, der die Dienstmädchen, die vom Lande kamen, unter seine Obhut nahm und davor schützte, schon auf den großen Berliner Bahnhöfen Mädchenhändlern in die Netze zu gehen. Zeitungsmeldungen aus dem Jahr 1895 dokumentieren das. Das ehemalige „Burkhardt-Haus“ steht unter Denkmalschutz, deshalb auch keine Möglichkeit, Werbung für den Verein am Gebäude zu installieren.

Aber das hat „Evas Arche“ auch nicht mehr nötig. Frauen aus Ost und West, aus Nord und Süd, aus unterschiedlichen Kirchen, Religionen und nichtreligiösen Bereichen, selbst aus dem Ausland finden den Weg hierher. In insgesamt fünf zweckmäßig, aber dennoch geschmackvoll eingerichteten Zimmern und der geräumigen Wohnküche kamen über das Jahr 1996 verteilt rund 5 000 Frauen zusammen.

Mittlerweile laden die Arche-Frauen zu etwa 120 Kursen und Veranstaltungen im Vierteljahr ein. Das Frauenfrühstück jeden Mittwoch von 10-12 Uhr mit einem Unkostenbeitrag von 3.- DM gibt es immer noch und die Tea-Time jeden zweiten Dienstag im Monat, Kinderbetreuung eingeschlossen.

Englisch-, Französisch- und Russischkurse, Gesprächsgruppen für Frauen in Leitungsfunktionen, Atemtherapie, Yoga, orientalischer und sakraler Tanz, Seidenmalerei sowie Selbsterfahrungskurse gehören ebenso zu den Angeboten wie Stadtspaziergänge zur Frauengeschichte , Vorträge zur Bedeutung jüdischer Feste, zur Situation der Frauen im Islam, in St. Petersburg oder in Afghanistan.

Einmal im Monat trifft sich ein fester Kreis von Frauen mit anderen Teilnehmerinnen in der „kreativen Schreibstube“, sich gegenseitig Schreibimpulse gebend. „Ost- und West-Frauen“ erzählen sich ihre Lebensgeschichte - Trümmerfrauen von heute, die Mauerreste aus Seele, Kopf und Herz tilgen und sie zu einer Kette von Verständnis und Verständigung reihen; Schreiben, als Selbstbetrachtung und -erfahrung, kann zu neuen Sichten führen, zu neuen Lebensmaximen vielleicht.

Das gegenseitige Vorlesen gehört zu den Höhepunkten eines solchen Nachmittags wie die abschließende „Klönstunde“ in der Küche.

Leseabende, an denen Autorinnen aus ihren Romanen, Erzählungen, Gedichten lesen - veröffentlichten wie unveröffentlichten -, gehören zum festen Bestandteil des Programms.

Historikerinnen erforschen das Leben Berliner Frauen und berichten darüber. Waren es im vorigen Jahr sowohl Kurfürstin Dorothea als auch Clara Zetkin, Königin Luise als auch Rosa Luxemburg, so werden es in diesem Jahr Kaiserinnen Preußens, Schriftstellerinnen, Frauen in der Kunstgeschichte oder auch Berliner Arbeiterinnen sein, deren Leben und Werke vorgestellt werden.

Im letzten Jahr wurde auch ein ABM-Projekt in die „Arche“ integriert, in dem 12 Frauen Kinder alleinerziehender Mütter und sozialschwache Seniorinnen betreuen.

Übrigens: Gelegentlich dürfen doch Männer in die „Arche“ z. B. zu Sommerfesten, zum „Tag der offenen Tür“, zu Ausstellungseröffnungen oder zur adventlichen Musik.

Wenn in diesem Jahr „Evas Arche“ ihr fünfjähriges Bestehen feiert, inzwischen im „Plenum Ostberliner Frauenprojekte“ mit 23 Frauenzentren Berlins zusammengeschlossen, wird es an Gratulanten nicht fehlen, bleibt zu hoffen, daß die finanziellen Mittel ausreichen, damit das ökumenische Frauenzentrum auch zukünftig Frauen ermutigen kann, ihre Visionen zu verwirklichen.

Als ich die Große Hamburger zurück in die Oranienburger und zum S-Bahnhof Hackescher Markt laufe, dunkelt es bereits, noch immer begleitet mich Baulärm, die Wege sind glitschiger, kalter Wind treibt mir Niesel ins Gesicht - aber tief in mir breitet sich Wärme aus.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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