Literaturstätten von Klaus M. Fiedler

Das Buch als Kunstwerk

Barbara Wien und ihr Laden & Verlag

In den prall mit Büchern gefüllten Regalen fehlen Stephen King und Rosamunde Pilcher; vergeblich sucht der Blick nach Goldhagen oder Allende, nach Balzac oder Dumas. Eine andere Buchwelt tut sich auf in den beiden hellen Räumen eines Ladens in der Schöneberger Gleditschstraße: das Buch als ästhetisches Kunstwerk, als Verbindung von Wort und Bild. Sehen - Fühlen - Lesen - Denken. Dazu lädt Barbara Wien ein. Die geborene Münchnerin - Germanistik- und Kunstgeschichtsstudium in Freiburg und Berlin, dann Kunstkritikerin und Mitarbeiterin in Dieter Roths Basler Verlag, „wo ich so manche praktische, verlagstechnische Dinge beigebracht bekam“ - ist Buchhändlerin und Verlegerin, Autorin und Herausgeberin in einem. Es begann 1988 mit dem faksimilierten Druck eines kleinen Unikat-Buches von Nanne Meyer „Die Kunst lebt“ in einer Auflage von 800 Stück. Der Gedanke, in ihr langsam über Jahre hinweg gewachsen, war nun auf einmal papierne Realität geworden. „Ich wollte Bücher für Künstler machen, bei denen die Künstler selbst alles von A bis Z konzipieren und gestalten“, erzählt sie, und sie als Verlegerin trete dabei in den Hintergrund. Kleine Editionen würden es zumeist sein, auch signierte Unikate, dazu Grafiken, Zeichnungen, Objekte.

Mit Nanne Meyer war also der Anfang gemacht. Andere folgten. Und Barbara Wien wurde mehr und mehr auch zur Sammlerin. Stück für Stück holte sie in ihren kleinen Laden, stets um Komplettierung ihrer Themengebiete, vor allem der zeitgenössischen Kunst, bemüht. Sämtliche Künstlerbücher von Marcel Broodhaers etwa hat sie längst bei sich vereint oder nahezu alles von oder über Joseph Beuys.

Wiens Laden & Verlag hat inzwischen sein Stammpublikum gefunden. An den liebevoll gestalteten Büchern, oftmals Raritäten, und Objekten von Aktionskunst bekunden Kunststudierende und Künstler, Handschriftenabteilungen von Bibliotheken und Sammler lebhaftes Interesse. Mehrmals im Jahr trifft man sich auch im Laden in der Gleditschstraße 37. Barbara Wien präsentiert dann vielleicht ein neues Buch, eröffnet eine kleine Ausstellung oder stellt talentierten Nachwuchs vor. Viele, die an diesen Abenden kommen, kennen sich. Küßchen rechts, Küßchen links, ein Schluck Rotwein und dann aufmerksame Stille, wenn etwa Emmett Williams, in Berlin lebender Amerikaner schon älteren Jahrgangs, mit spärlicher Haartolle und großkariertem Hemd, aus seinem neuen Werk „Mr. Fluxus“ liest, einer originellen Biographie von George Maciunas, dem Fluxus-Theoretiker, der einmal diese Kunstbewegung der fünfziger und sechziger Jahre, dieses Zusammenwirken von figürlichen Handlungen mit akustischen, musikalischen Formen, als „Erzeugung unspezialisierter Formen von Kreativität“ charakterisiert hatte.

Individuelle Sicht auf die Kunst, Neues aufspüren, Tradiertes in Frage stellen, unbekannten Künstlern auf dem schwierigen Weg zum Bekannt-Werden behilflich sein - diesem Credo hat sich Barbara Wien verschrieben. Gundi Feyrer gehört zu ihren Entdeckungen, eine junge Autorin, deren Erstlingswerke „Das eigene Springen“, „Das Warten vermehrt sich von selbst“ oder „Die Watte der Gedanken“ Wiens Verlag herausbrachte und für die sich nun auch größere Verlage interessieren. In vierjähriger Arbeit hat sich die Verlegerin dem deutsch-dänischen Künstler und Schriftsteller Arthur Köpcke (1928-1977) genähert, hat dessen unbekannte oder nichtbearbeitete literarische und kunsttheoretische Texte entdeckt, aus dem Dänischen übersetzen lassen, kommentiert und veröffentlicht unter dem Titel „begreifen erleben / Gesammelte Schriften“.

Gern drückt sie dem Besucher auch Antje Dorns „Cookie Park“ in die Hand. Es ist ein Anti-Lexikon, ein ungewöhnliches Nachschlagewerk aus schwarzweißen Tuschezeichnungen, das ohne ein Wort auskommt und von dem ein Kunstkritiker schrieb: „So schimmert in dem Buch der Geist des Enzyklopädisten Diderot, und mit Verwunderung stellen wir fest, wie bewegend und anders die einfachen Dinge sein können, beginnt man mit ihnen zu lesen; denn das wahre Bilderbuch ist ein Lesebuch und umgekehrt.“ Ein Satz, der von Barbara Wien sein könnte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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