Literaturstätten von Jürgen Harder

Verlagsporträt: edition ost

Ein Projekt auch für andere Himmelsrichtungen?

Der Verlag edition ost steht - nach der „Wende“ - für eines der unzähligen kühnen, rätselhaften und abenteuerlichen Wagnisse auf dem weiten, aber steinigen Felde zwischen versinkender alter Verlagslandschaft und verlegerischem Brachland. Den etablierten DDR-Verlagen drohte mit dem Untergang ihres Staates ihr eigener Untergang, oder sie mußten quasi über Nacht - wenn keine „rettende“ Übernahme in Aussicht stand - in einen völlig ungewohnten und dazu noch wenig erfolgversprechenden Überlebenskampf eintreten. Diese kaum ermutigende, eher abschreckende Lage hielt indes niemand von den vielen hoffnungsfrohen und initiativreichen Frauen und Männern im Osten des vereinigten Deutschland davon ab, ihre Zukunft, ihr Glück ausgerechnet auf Bücher zu bauen.

Am Anfang, das hieß am Ende der DDR, stand - wie sich der Mitbegründer, Verleger und Geschäftsführer von edition ost, Frank Schumann, im Gespräch mit mir recht vergnüglich erinnerte - eine „Schnapsidee“. Mit zwei anderen Leuten zusammen, alle damals übrigens noch „in Lohn und Brot stehend“, suchte und fand Schumann die ganz eigene Antwort auf die Frage: Warum eigentlich stressig antichambrierend einen Verlag suchen, nur weil man ein Buch machen will? Zunächst schwebte den dreien ein bescheidenes Satire-Bändchen vor. Vielleicht ja auch nur, um auf diese Weise „leichter weil heiter“ von der Vergangenheit zu scheiden. Der Wunsch jedenfalls, einmal mit so befreiend bissigen Sprachartisten wie Dietrich Kittner und Lothar Kusche zu arbeiten, war ihnen ebenso Inspiration für ein eigenes Verlagsprojekt wie die Realsatire: in ihren Augen von keinem so einzigartig und mustergültig verkörpert wie von Erich Honecker.

So überraschte es kaum, daß edition ost ihr verlegerisches Debüt auf dem freien Markt mit dem Titel Wir wollen unseren alten Erich wieder ham! absolvierte. Überraschender war da schon, daß diese Honecker-Satire zwischen Januar '92 und Juni '94 vier Auflagen erlebte.

Überraschend schließlich: Anspornende Aufmerksamkeit kam ausgerechnet auch aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung - aus dem Westen. So war im „Stern“ zu lesen: „Den Einband schmückten sie mit einem Aufkleber, den die SED-Führung zum 40. Jahrestag entworfen, aber nicht mehr ausgeliefert hatte: ‚DDR 40-Erfolg verpflichtet!‘ Von dem Satire-Bändchen waren binnen kurzem 17 000 Exemplare verkauft.“

Und wie das mit Klassikern so geht: Die Nachfrage ist ungebrochen. So ermutigend der erste Auftritt auf einem der am härtesten umkämpften Märkte - dem Buchmarkt - für edition ost auch verlief: Der Durchbruch gelang erst 2 1/2 Jahre nach dem Start mit: Erich Honecker: Moabiter Notizen.

Welch „schicksalhafte“ Merkwürdigkeit! Der Chef von edition ost, unter Honeckers Diktatur noch Redakteur und Chefreporter der „Jungen Welt“, seit Gorbatschows Perestroika auch für seine Republik eine kräftige Reform herbeisehnend, debütiert im vereinten Deutschland als Verleger mit einer Satire auf den Mann, der es ihm damit dankt, daß er als Jungunternehmer im Kapitalismus überleben kann. Für edition ost also ein wahrhaft historisches Datum: Elf Tage vor Honeckers Tod kam der Verlagsvertrag zustande. Die makabre Seite der „Fügung“ tat ein übriges: Die bald folgende Todesmeldung pushte die Nachfrage nach diesem „letzten schriftlichen Zeugnis“ ungeahnt. Honecker hat kein ausdrückliches politisches Testament hinterlassen. Die „Moabiter Notizen“ können jedoch als ein solches gelten.

In Deutschland wurden in kurzer Frist 35 000 Exemplare verkauft. Lizenzen konnten in viele Länder und Sprachen vergeben werden. Das Buch „eroberte“ 1994 mehrere Bestsellerlisten.

Selbst damit waren die Würfel für den weiteren Fortgang des Projekts edition ost keineswegs endgültig gefallen. Frank Schumann erinnerte daran - es gab danach durchaus die Alternative: Mit dem Honecker-„Testament“ gutes Geld zu machen und dasselbe in völlig andersartige Vorhaben zu stecken oder voll auf die Professionalisierung der begonnenen Verlagsarbeit zu setzen. Man entschied sich für letzteres. Überdies verknüpfte man diese Entscheidung mit einer richtigen strategischen Weichenstellung. Der Verlag kaufte vom Erlös moderne Satztechnik, konnte so seine Produktionskosten senken und schuf sich damit zugleich ein zweites Standbein: eine Dienstleistungs-Agentur. Auch für die weitere inhaltliche Profilierung von edition ost gab es damals einen neuen kräftigen Motivationsschub: den wachsenden Unmut über den Umgang mit DDR-Geschichte. Den „editoren ost“ lag zwar nichts ferner als Ostalgie oder DDR-Nostalgie. Aber welche geistigen Verheerungen von einseitiger Geschichtsdarstellung ausgehen können, war ihnen noch allzu vertraut. Und nicht zuletzt, weil sie sich möglicher Mitverantwortung zu DDR-Zeiten nicht entziehen wollten, war ihnen durchaus an einer Kritik der DDR, an deren Politik und Geschichte, gelegen. Mehr noch: Es sollte schon eine grundsätzliche Kritik - eine „Fundamentalkritik“ sein. Nur eben nicht wieder einseitig, sondern authentisch, differenziert und dialektisch: endlich und endgültig frei von parteiischen Verzerrungen, eifernden Diffamierungen, selektiven Herabwürdigungen und unvertretbaren Aufwertungen oder Überbewertungen! Diesem selbst auferlegten hohen Anspruch versucht der Verlag seitdem mit seiner „Roten Reihe“ gerecht zu werden.

Dem Gegenstand gemäß ist das thematische Spektrum weit gefächert. Es reicht von der Zerstörung des MfS-Mythos vom „Schild und Schwert“ über diverse Insider-Berichte und -Analysen aus dem „Großen Haus“ (dem ZK der SED) bis zu aufschlußreichen Lebensbeichten maßgeblicher Exponenten des DDR-Regimes. Wissend, daß jeder Zeitzeuge letztlich seine subjektive Wahrheit einbringt, will edition ost auch mittels solcher authentischer Zeugnisse die Annäherung an die historische Wahrheit befördern. Besonders aufschlußreich sind in der „Roten Reihe“ die beiden Bücher „Glaubenskrieg“ und „Hinterm Zaun“. Erhellt das erste die internen Kämpfe gegen die Kirche in der DDR, so belegt das zweite geradezu sensationell: Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das SED-Politbüro weisen aus, daß es eine Zeitlang in der DDR eine qualifizierte Mehrheit gab, die diesen Staat emotional und auch aus politischer Überzeugung getragen hat. Als die Honecker-Führung diesen Kredit nach und nach verspielte, wurde der Überbringer der schlechten Nachricht - das Meinungsforschungsinstitut - liquidiert.

Inzwischen ist der Verlag als Adresse für ostdeutsche Zeitgeschichte angenommen worden. Dies ist den letzten Auskünften Hermann Axens im Gespräch mit Harald Neubert, den Schilderungen des glatten Parketts für DDR-Diplomaten von Horst Grunert, den jüngsten autobiographischen Bekenntnissen Andrè Bries ebenso zu danken wie den als „Länderspiel“ getarnten - vom Machtwechsel in Bonn bezeichnenderweise unberührt gebliebenen! - und jetzt offenbarten deutsch-deutschen Geheimgesprächen der 70/80er Jahre und nicht zuletzt den ebenso unbestechlichen wie beunruhigenden Zeitdiagnosen des prominenten Dissidenten Rudolf Bahro.

Bereits hier läßt sich die Frage nach den anderen „Himmelsrichtungen“ beantworten: edition ost ist ein Projekt fürs ganze Land! Nicht nur, daß die DDR-Geschichte für das vereinigte Deutschland insgesamt von Bedeutung ist, der Verlag hat selbst bei der „Roten Reihe“ großen Wert auf die mögliche Mitwirkung von Autoren „aus dem Westen“ gelegt.

So finden sich Texte von Egon Bahr im Axen-Buch, von Kurt Biedenkopf und Ulrich von Weizsäcker im Bahro-Buch - um nur Beispiele zu nennen. Wie wenig das Verlagsprofil auf den Osten fixiert ist, zeigt insbesondere die „Reihe Cognoscere“. Sie zielt auf Erkennen, Entdecken und Verstehen anderer Völker, Religionen und Kulturen - um auch mit der Kraft von Büchern der Fremdenfeindlichkeit in unserem Lande zu wehren. Die Reihe präsentiert u. a. Aufzeichnungen und Berichte von Forschungsreisenden, Missionaren, Händlern und Diplomaten, die meistens bereits im vorigen Jahrhundert als Bücher erschienen und dann - unberechtigterweise - dem Vergessen anheimfielen. Das Börsenblatt verhehlte nicht seine Anerkennung für diese Reihe. Es würdigte die einzigartige Anstrengung der edition ost, ein Projekt auf dem deutschen Büchermarkt zu plazieren, bei dem großen Unternehmen immer wieder der Mut fehlte: ein beschämender Offenbarungseid der Großen der Branche. Außerdem demonstriert unser Porträt auch dies: Die Ost-Editoren sind die leibhaftige Widerlegung dessen, wonach die Sozialismusdeformation jedem im Osten die Fähigkeit zu Selbständigkeit und Risikobereitschaft, zu Phantasie und Kreativität zerstört hätte.

Mit der „Bunten Reihe“ und der „Quadratischen Reihe“ setzt der Verlag weiter auf seine satirische und unterhaltende Linie, die sich in der Regel auch nicht an eine einzige Himmelsrichtung hält. Zu den Autoren gehören Lothar Kusche, Jochen Petersdorf, Peter Reusse, Gisela Karau, Harald Kretschmar sowie das Duo Reinhold Andert und Mathias Wedel. Wer allerdings eine bestimmte Himmelsrichtung mit einer ganz bestimmten politischen Richtung verknüpft - dem Erzreaktionären, dem Chauvinistischen, dem Faschistischen -, kann nicht auf die edition ost setzen. Im Gegenteil. Mit seiner „Weißen Reihe“ stellt der Verlag Warntafeln auf: von der „Strasser-Legende“ bis zu Texten zum Rechtsextremismus. Das Porträt edition ost bliebe unvollständig ohne Verweis auf „Zäpfchen“, das Magazin für junge Literatur. Die Intention des Verlags: Junge Autoren aus ganz Deutschland teilen sich in ihrer eigenen Art mit - deutlich und dabei uneitel, aber auch verspielt und naiv.

Angesichts von mehr als 5000 Verlagen in Deutschland, die ihre Leser mit über 70 000 Neuerscheinungen im Jahr beglücken, bleibe ich dabei: edition ost, im sechsten Lebensjahr und mit einem Team von fünf Leuten, ist ein Wagnis - kühn, rätselhaft und abenteuerlich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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