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Hannelore Lehmann

Wie der Pietismus
mit Philipp Jakob Spener
1691 nach Preußen kam.

Kleiner Einblick in ein großes Thema

Immer hat es in der Geschichte des Christentums Phasen gegeben, wo fromme Christen, unzufrieden mit dem Zustand der Kirche, neue Wege für ihr innerweltliches Wirken im Geiste ihres Religionsstifters, des Zimmermannssohnes Jesus aus Nazareth, suchten. Häufig kam es zu mehr oder weniger erfolgreichen Reformversuchen, Spaltungen unter den Gläubigen, Verfolgungen andersdenkender Gruppen. Das religiöse Geschehen spielte sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern im engen Wechselverhältnis mit sozialen und politischen Entwicklungen.

Das gilt auch für den Pietismus (pietas = Frömmigkeit), einer religiös-sozialen Reformbewegung des 17./18. Jahrhunderts, die sich hauptsächlich in verschiedenen deutschen Territorien lutherischer Konfession verbreitete.

Der Name stammte von den Gegnern der neuen Bewegung, war häufig diffamierend gemeint und wurde von jenen, die heute wissenschaftlich-wertfrei als Pietisten bezeichnet werden, damals in der Regel zurückgewiesen.

Wellen erneuerter Frömmigkeit, wie den Pietismus, gab es zu dieser Zeit auch in anderen europäischen Ländern und in unterschiedlichen christlichen Konfessionen. Hatte doch ganz Europa seit der Wende zum 16. Jahrhundert Anteil an einem gesellschaftlichen Umschichtungsprozeß, der überall ähnliche Kräfte weckte und bis in unsere Zeit hineinreicht.

Werfen wir den Blick um etwas mehr als 300 Jahre zurück. Damals traf am 6. 6. 1691 ein Mann in Berlin ein, der unter dem Namen „Vater des Pietismus“ bekannt wurde: Philipp Jakob Spener (1635-1705). Wenn es auch vor ihm bereits Elemente einer tieferen verinnerlichten Frömmigkeit, vorbereitet durch Johann Arndt (1555-1621) und sein Werk „Wahres Christentum“ gab, hatte Spener doch mit seiner Programmschrift Pia Desideria (Fromme Forderungen) den eigentlichen Grund für die betonte Ausrichtung der pietistischen Bewegung auf Lebensnähe und Praxis gelegt.

Die Pia Desideria entstanden 1675 in Frankfurt am Main, wo Spener von 1666 bis 1686 die erste Stelle unter der lutherischen Geistlichkeit einnahm. Er analysierte in seiner Schrift den Zustand der Kirche, befand die lutherische Lehre zwar als zureichend, die Umsetzung in der Praxis jedoch als völlig unbefriedigend. Wie es damals üblich war, ging er von der Vorstellung einer „Dreiständeordnung“ (Obrigkeit, Geistlichkeit, Gemeinden) aus. Er sah die Hauptschuld für den Mangel an wahrem Christentum bei den beiden ersten Ständen. Die lutherische Obrigkeit mißbrauche das ihr zustehende Kirchenregiment im eigenen Interesse und erreiche durch ihre kirchlichen Anordnungen nur äußerlichen Gehorsam ohne innere überzeugte Frömmigkeit; die Kirche lege das Schwergewicht zu sehr auf die Heiligkeit des Amtes, anstatt auf die innere Berufung der Prediger, wodurch Karrierismus und Profilierungssucht durch Lehrstreitigkeiten bei der Kirche ins Kraut schössen. Diese Schäden wirkten sich entsprechend auf das gesamte Gemeindeleben aus. Es „seien Trunkenheit, Rechtsprozesse, wirtschaftliches Gewinnstreben, das zum „Unterdrücken und Aussaugen“ der Armen führe, unter den Christen verbreitet und würden nicht für Sünde gehalten. Die „Regeln unseres Christentums“, wie sie sich aus der Nächstenliebe herleiten, seien verdunkelt und vergessen. Von der „Übung der recht ernstlichen Bruderliebe“ sei man weit entfernt. (Wallmann, Der Pietismus, S. 46) Doch habe Gott, betonte Spener, je in der Bibel bessere Zeiten für die Kirche schon hier auf Erden verheißen, so wie die frühen Christen vor ihrer Anerkennung durch den römischen Staat (im Jahre 313 durch Kaiser Konstantin; im Jahre 314 wurden die Christen auf der Synode von Arles zum Waffendienst für die Obrigkeit verpflichtet. - Nach dem Ende der Christenverfolgungen Herausbildung einer dogmatisch-unduldsamen Staatskirche) eben auch schon einmal ein ganz anderes, wahrhaft christliches Leben geführt hätten. Diese „Hoffnungen besserer Zeiten“ schon auf Erden (sog. Chiliasmus) soll, wie die Forschung heute meint, der Motor für die Anstrengungen gewesen sein, mit denen die Pietisten die dem Erdenbewohner zugemessene Lebenszeit (keiner weiß, wann sie zu Ende geht, und die Chance, sich das ewige Leben zu erwerben, endet) „zu Ehren Gottes und zum Nutzen der Menschen“ (so eine geläufige Formulierung) intensiv auszufüllen trachteten.

Die eigentlichen Reformvorschläge Speners bestanden in 6 Punkten:
1. Der Christ solle sich auf alle Weise viel stärker mit dem „Wort Gottes“, der gesamten Bibel, bekannt machen. Neben Gottesdienst und Bibellesestunden empfahl Spener, sich wieder wie die frühen Christen in kleineren Kreisen zu versammeln, in denen jeder, der sich dazu gedrängt und in der Lage fühlte, das Wort zur Heiligen Schrift ergreifen, Fragen und Zweifel anbringen und an der Klärung von Problemen mitwirken dürfe.
Diese Zirkel (Konventikel) sollten bald große Zustimmung finden, denn wo durfte das Volk schon mitreden? Prägte doch die Erziehung zu passivem Gehorsam (Sozialdisziplinierung), kritikloser Unterordnung unter den Willen der Obrigkeiten, gerade die feudalabsolutistische Ära dieser Zeit.
2. Die Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien, die bei den Lutheranern trotz Luthers Betonung des allgemeinen Priestertums fortdauere, sei endlich fallenzulassen.
Die 2. Forderung verlieh der Konventikelidee besondere Brisanz, weil damit neben Zirkeln unter der Leitung von Pfarrern auch solche, die von Laien geleitet wurden, ihre Legitimierung fanden.
3. Das Christentum solle sich weniger im Wissen, als in einer christlichen Praxis, in der Nächstenliebe zeigen, und zwar nicht nur der Christen untereinander, sondern gegenüber allen Menschen.
Gerade diese Forderung kam der heranreifenden Aufklärungsphilosophie mit dem ihr eigenen Toleranzdenken entgegen. Pietismus und Aufklärung konnten zeitweise Bündnisse gegen die in Rang und Würden stehende und mit der hergebrachten Gestalt der luterischen Kirche konform gehende Geistlichkeit (Orthodoxie) eingehen.
4. Die theologischen Streitigkeiten sollten eingeschränkt, Irrgläubige lieber durch das Vorbild als durch Disputationen überzeugt werden.
Trotz der Hochschätzung des allgemeinen Priestertums legte Spener besonderes Gewicht auf die Forderung einer Reform des Theologiestudiums (5) im Geiste seines Gesamtanliegens und auf eine veränderte, von rhetorischem Schwulst und herausgestellter Gelehrsamkeit befreite, allen verständliche Predigt (6).

Das von Spener in Frankfurt am Main gehaltene Konventikel und die „Pia Desideria“, die steigende Aufmerksamkeit und Beispielwirkung erzielten, erregten jedoch auch bald Besorgnis bei Kirche und Obrigkeit. Dies um so mehr, als schon das dargelegte Programm den Kern einer Spaltung in konsequente Gegner der bestehenden kirchlichen und damit verquickten weltlichen Ordnung (radikale Pietisten) und in Vertreter einer gemäßigten, zu Kompromissen bereiten Reformtätigkeit in sich barg. Bei ersteren zeigte sich zum Erschrecken Speners schon in Frankfurt die Tendenz, sich von der Kirche zu trennen (Separatismus). Die „neue Welt“, Amerika, schien sich als Zufluchtsort kleiner, in brüderlicher Liebe (der Name Philadelphia beinhaltet diesen Begriff) verbundener Christengemeinden anzubieten. Der englische Quäker William Penn war 1677 zweimal in Frankfurt und rief auch dort zur Besiedlung des nach ihm benannten Pennsylvanien als „heiligem Experiment“ auf. Speners Freund, Franz Daniel Pastorius (1651-1720), folgte dem Ruf. Er gründete mit 13 frommen Auswandererfamilien aus Krefeld den Ort Germantown bei Philadelphia.

Hierzulande nahmen Spannungen und Konventikelverbote zu. Als in Leipzig ein weltoffenes Bürgertum, einschließlich Studenten, Handwerkern, Frauen, das Angebot zu religiösen Privatversammlungen annahm und der Frühaufklärer Christian Thomasius (1655-1728) im Pietismus einen Verbündeten gegen kirchliche Intoleranz verteidigte, ließ die sächsische Regierung am 10. März 1690 ein Konventikelverbot ergehen. Obwohl Spener, seit 1686 Hofprediger in Dresden, sich seiner Leipziger Anhänger anzunehmen suchte, wurden die führenden Köpfe ausgewiesen.

Nun wird Spener 1691 in der brandenburg-preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin Propst der Nikolaikirche und brandenburgischer Konsistorialrat. Walter Wendland hat 1926 in seinen „Studien zum kirchlichen Leben in Berlin um 1700“ (Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 21, S. 129-197) die Bedingungen umrissen, unter denen der „Vater des Pietismus“ hier wirkte. Bald sollte ein zweites Zentrum des Pietismus in Brandenburg-Preußen entstehen: Halle.

Kurfürst Friedrich III., mütterlicherseits Enkel eines Statthalters der Niederlande, ist Reformierter, wie alle brandenburgischen Hohenzollern seit 1613. Die Untertanen, auch die immer noch einflußreichen Ständevertretungen des Adels und der städtischen Magistrate, waren lutherisch geblieben. Aus diesem Zwiespalt erwächst der Zwang zu „staatlich verordneter“ Toleranz, um einen heute geläufigen Ausdruck zu benutzen. Wie anderen protestantischen Glaubensflüchtlingen standen auch den verfolgten Pietisten, von denen man sich (vgl. den Inhalt der Pia Desideria) eine Verstärkung dieser Linie erhoffen durfte, die Tore offen. Unter denen, die Spener heranzieht, ist der aus Lübeck gebürtige August Hermann Francke (1663-1727). Er war nach Glaubenszweifel, Bußkampf und plötzlich erfolgter Glaubensversicherung (Wiedergeburt) in Leipzig und Erfurt im Sinne Speners aktiv geworden und mußte daraufhin Erfurt Ende 1691 verlassen.

In Glaucha bei Halle erhält er eine Pfarrstelle, außerdem ein Lehramt an der gerade im Entstehen begriffenen Friedrichsuniversität. 1694 beginnt er von der Pfarre aus mit dem Aufbau eines sozialen, pädagogischen, wirtschaftlichen und missionarischen Unternehmens, den Glauchaer Anstalten, später als Francksche Stiftungen bekannt. Eng mit der Universität verbunden, gestützt auf einen hochmotivierten Mitarbeiterkreis, wird man von hier aus dem preußischen Staat disziplinierte und fachlich vielseitig verwendbare Zöglinge zur Verfügung stellen. Die Auswirkungen sind bis heute umstritten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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