Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Hans-Joachim Beeskow

Mit und durch Martin Luther weiter im Gespräch,
oder hat es sich
schon wieder „ausgeluthert“

Bericht über eine ungewöhnliche Tagung

Wenige Tage nach dem 513. Geburtstag von Martin Luther fand in den Räumlichkeiten des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung (Planckstraße 20, 10117 Berlin-Mitte) das 5. Werkstattgespräch zum Thema „Luther und die DDR - Gespräche über ein ungewöhnliches Jubiläum 1983“ statt. Die Herren Generalsuperintendent von Berlin i. R. Dr. Günter Krusche, Vorsitzender des Fördervereins des genannten Instituts, und Prof. Dr. Horst Dähn, Direktor des Instituts, hatten zu diesem Werkstattgespräch eingeladen. Der Einladung folgten eine Vielzahl von Persönlichkeiten des öffentlichen und kirchlichen Lebens; so zum Beispiel Altbischof Dr. Albrecht Schönherr und EKU-Präsident i. R. Dr. Friedrich Winter.

Der Direktor des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, Prof. Dr. Horst Dähn, eröffnete das Werkstattgespräch und bekräftigte u. a. das, was bereits der Einladung zu entnehmen war:
„Ziel der Veranstaltung ist es, durch Gespräche mit Zeitzeugen ein lebendiges Bild vom widersprüchlichen Charakter der Luther-Ehrungen in der DDR 1983 zu vermitteln. Dazu sollen in vier Gesprächsrunden wissenschaftsgeschichtliche, kirchenpolitische sowie medienpolitische Fragen diskutiert werden.“

Viele Zeitzeugen, die an der Vorbereitung und Durchführung der Luther-Ehrung 1983 der DDR auf die unterschiedlichste Art und Weise beteiligt waren, hatten sich zur eingangs genannten Tagung eingefunden. Sie nahmen in den jeweiligen (vier) Gesprächsrunden das Wort.

In der 1. Gesprächsrunde, die von Prof. Dr. Horst Dähn moderiert wurde, diskutierten über „Die DDR-Erbepflege und Martin Luther“ die nachfolgend genannten Persönlichkeiten:
Dr. Siegfried Bräuer, ehemaliger Leiter der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin und durch eine Vielzahl von Publikationen ausgewiesener Reformations-Historiker; Prof. Dr. Gerhard Brendler, ehemals Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte (ZfG), bekannt geworden u. a. durch seine Biographien über Martin Luther und Thomas Müntzer; Prof. Dr. Adolf Laube, ebenfalls Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte, u. a. Mitherausgeber und -autor der zweibändigen Edition von „Flugschriften der frühen Reformationsbewegung“, und Prof. em. Günter Vogler, ehemals Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und u. a. Mitherausgeber und -autor der Publikationen „Buch der Reformation“ und „Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung“. Jeder der genannten Gesprächsteilsnehmer begann mit einer sehr persönlich gehaltenen Reminiszenz und beschrieb seinen Weg, der ihn zur Beschäftigung mit Martin Luther führte.

Prof. Dr. Adolf Laube verwies auf die bekannte Tatsache, daß Ende der 70er Jahre marxistische Historiker damit begannen, sich mit dem Leben und Werk von Martin Luther wissenschaftlich zu beschäftigen, was u. a. auch zu einer Verwissenschaftlichung des Luther-Bildes führte und nicht mehr vordergründig polemisch-propagandistisch geprägt war. Die Führung der DDR war an Thomas Müntzer orientiert, was dann auch entsprechende Konsequenzen in der Propaganda hatte. Martin Luther galt als „Bauernschlächter und Fürstenknecht“. In diesem Zusammenhang sei an die Schrift von Alexander Abusch „Irrwege einer Nation“ (1946) erinnert, der jenes Bild mit einem Firniß versah und damit zementierte. Marxistische Historiker entdeckten dann später (Ende der 70er Jahre) Martin Luther als Theologen und die Dialektik von Theologie und sozialen Bestrebungen. Lange vor der Luther-Ehrung 1983 der DDR kam es zu wissenschaftlichen Gesprächen zwischen marxistischen und Kirchen-Historikern, bei denen ein reger Austausch stattfand, die aber doch mehr im Verborgenen ihren Ort hatten. Darauf machte vor allem Dr. Siegfried Bräuer aufmerksam, der auch während seiner Zeit als Pfarrer in Leipzig (vor 1980) Kontakte zu Max Steinmetz, dem sogenannten Nestor der marxistischen DDR-Geschichtsforschung, pflegte.

Sinn und Ziel der Luther-Ehrung 1983 der DDR beschrieb Prof. Dr. Gerhard Brendler u. a. so:
„Wenn die DDR zur eigenen Staatsnation werden und sich für lange Fristen in Europa einrichten wollte, dann mußte sie ihre eigene Ikonographie aus dem eigenen Staatsterritorium heraus entwickeln. Alles andere war Tünche, Leihgabe und fremdes Alphabet. Vielleicht waren dann sogar Marx und Engels nur Trier und Wuppertal - also Westen; Luther hingegen Wittenberg, Friedrich II. Potsdam und Bismarck die Altmark - also unser Land. Der Kern der neuen Führung war Ende April 1945 aus Moskau eingeflogen worden, jetzt griff das Land nach deren Nachfolgern, und diese selber umwarben das Land. Dies war der historische Sinn der Luther-Ehrung 1983 und die sich anbahnende Lösung des Traditionskonfliktes.“

Der von Prof. Brendler auf der Tagung vorgetragenen These, daß die DDR-Führung das Luther-Jahr 1983 auch dazu nutzte, um ihren „Revolutionserfahrungen“ nun „Herrschaftserfahrungen“ hinzuzufügen - („was passiert, wenn das Pferd (=Luther und seine Bewegung mal bockt?“) -, wurde von Prof. Vogler und Prof. Laube vehement widersprochen. Das sei nicht genuin, sondern eine nachträgliche „Draufsicht“.

Die zweite Gesprächsrunde unter der Leitung von Reinhard Henkys, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift „Kirche im Sozialismus“ (sie erschien bis zum Wendejahr 1989 in ehemals West-Berlin), thematisierte den Problemkreis „Staat und Kirche ehren Luther“. An dieser Gesprächsrunde nahmen teil: Prof. Dr. Horst Dohle, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen der DDR; Kurt Löffler, ehemaliger Staatssekretär im Ministerium für Kultur und Sekretär des Martin-Luther-Komitees der DDR und letzter Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR; Siegfried Rakotz, ehemaliger Leiter des Organisationsbüros des Martin-Luther-Komitee der DDR, und Oberkirchenrat Dr. Helmut Zeddies, ehemaliger Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses des Lutherkomitees der Evangelischen Kirchen in der DDR.

Kurt Löffler beschrieb eingangs der Gesprächsrunde die Ziele, die sich die DDR-Regierung mit der Luther-Ehrung 1983 gesetzt hatte. Angesichts der Tatsache, daß die DDR bereits über reiche Erfahrungen mit Jubiläen bzw. Ehrungen verfügte (so zum Beispiel bei der Dürer- und Cranach-Ehrung oder beim Bauernkriegs-Jubiläum), sollte mit der Luther-Ehrung die Traditionspflege fortgeführt werden, um auch mit diesem Jubiläum zu verdeutlichen, daß „die DDR tief in progressiven Traditionen wurzelt“. Eine Konfrontation mit der Kirche sollte ausdrücklich vermieden werden. Die Luther-Ehrung sollte (und wurde auch) zu einem gesamt-nationalen Ereignis. Es lag in der Absicht der DDR-Regierung, mit der Luther-Ehrung auch eine außenpolitische, internationale Aufwertung zu erfahren.

Während Kurt Löffler die allgemein-politische Dimension beschrieb, gab Siegfried Rakotz ein paar ganz praktische Erfahrungen weiter, die er als ehemaliger Leiter des o. g. Büros, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern, sammeln konnte. So gab beispielsweise das Büro Hilfestellungen bei sogenannten nicht-verlagsgebundenen Publikationen, organisierte eine Vielzahl von größeren und kleineren Luther-Ausstellungen, so daß „bis in die letzte Gemeinde hinein“ etwas von dem Anliegen und Geist der (staatlichen) Luther-Ehrung spürbar wurde.

Oberkirchenrat Dr. Helmut Zeddies nannte dann die kirchlichen Prämissen und Anliegen, die bei der Luther-Ehrung 1983 zur Geltung kommen sollten und auch kamen: Dem kirchlichen Lutherkomitee war wesentlich und wichtig, eine konfessionalistisch geprägte Luther-Ehrung zu vermeiden und vor allem „eine Neuauflage“ von 1933 (die Nazis feierten Luthers 450. Geburtstag) prinzipiell zu verhindern. Des weiteren sollte eine staatliche Bevormundung auch bei der Luther-Ehrung 1983 unter keinen Umständen zugelassen werden und „keine größere Kluft zur katholischen Kirche“ entstehen. Die Kirchen wollten ebenfalls bei der Luther-Ehrung ihre Eigenständigkeit bewahren (was auch im wesentlichen gelungen ist), jedoch bei gleichzeitig signalisierter Bereitschaft „zur Kooperation“ mit dem staatlichen Luther-Komitee, dessen Vorsitz Erich Honecker innehatte. Das kirchliche Lutherkomitee wollte und hat durch eine Vielzahl von Veranstaltungen, Tagungen, Ausstellungen, Publikationen u. v. a. m. die Botschaft von Martin Luther zur Geltung gebracht bzw. thematisiert. Das Jubiläum 1983 war für die Kirchen in der DDR im eigentlichen Sinne ein ‚Bibel-Jahr‘, denn Martin Luther weist immer von sich, von seiner Person weg und auf die Heilige Schrift, auf die Bibel, hin.

Kurt Löffler und Siegfried Rakotz merkten abschließend kritisch an, daß das Luther-Jahr 1996 (anläßlich des 450. Todestages des Reformators) im Vergleich zu 1983 sehr verhalten, „kaum spürbar“ verlaufen sei.

Die Luther-Ehrung war „eine Episode“ in der DDR-Geschichte (so Dr. Zeddies), hatte jedoch ein Modell im Umgang zwischen Staat und Kirche geschaffen, das nur von sehr wenigen aufgenommen bzw. genutzt worden ist. Zu ihnen gehörte Klaus Gysi, der seines Amtes als Staatssekretär für Kirchenfragen enthoben wurde. Dieses Modell war gesamtstaatlich nicht gewollt, vor allem von jenen, die am längeren Hebel der Macht saßen.

Die dritte Gesprächsrunde widmete sich dem Thema: „Fernsehen, Rundfunk, Verlage, Ausstellungen“. Es diskutierten miteinander: Lutz Borgmann, ehemaliger Referent des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR für Rundfunk- und Fernseharbeit, Dr. Siegfried Bräuer; Dr. Marion Dammaschke, ehemalige Mitarbeiterin der Hauptverwaltung Verlage im Ministerium für Kultur der DDR; Rolf-Dieter Günther, ehemaliger Pressereferent des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, und Siegfried Rakotz.

Dr. Siegfried Bräuer zog eine kurze Bilanz bezüglich des Verlagsprogramms der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin bis zum Jahre 1983. Durch eine Vielzahl von Luther-Publikationen im 83er Jahr „wurde die Evangelische Verlagsanstalt international entdeckt“. In der Zusammenarbeit zwischen dem Verlag und der Hauptabteilung Verlage im DDR-Kulturministerium gab es „keine unüberwindliche Situation“. Man hatte sich darauf eingestellt, mit der „Zensurstelle“ (gemeint ist jene Hauptverwaltung) zu leben. Was Dr. Bräuer im nachhinein (nach dem Studium umfänglicher Akten z. B. in der Gauck-Behörde) mehr als betrüblich stimmt, ist die Tatsache, daß nicht die Zensurstelle Publikationen verhindert hat (sie qualifizierte er als „Helferin“), sondern die vielen Versuche von Theologen der Humboldt-Universität, durch entsprechende Gutachten das Erscheinen von theologischen Veröffentlichungen unmöglich zu machen. Wenn diese Gutachten konsequent berücksichtigt worden wären, dann wären sehr viel weniger Bücher in der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen.

Kritisch bleibt hier anzumerken, daß die Direktoren der zentralen Luther-Gedenkstätten der Ex-DDR (Wittenberg, Eisenach und Eisleben) in dieser Gesprächsrunde nicht vertreten waren. Auch fehlten Vertreter des abgewickelten Union Verlages - einst im Besitz der Ost-CDU -, in dem beispielsweise als Beiträge zum Luther-Jubiläum 1983 der DDR die Luther-Biographie von Gerd Wendelborn herausgegeben worden ist. Auch fehlte leider der Verfasser der in der Evangelischen Verlagsanstalt erschienenen Publikation Luther und Luthertum in Osteuropa, Prof. Dr. Dr. Günter Wirth.

Die vierte Gesprächsrunde, von Dr. Joachim Heise, stellvertretender Leiter und Geschäftsführer des einladenden Instituts, moderiert, galt dem fünfteiligen Fernsehfilm „Martin Luther“ und dem Dokumentarfilm „Bürger Luther“.

Zu Beginn der Tagung und gewissermaßen zur Einstimmung auf das Tagungsthema sahen die Teilnehmer den genannten Dokumentarfilm von Lew Hohmann, der bei diesem Film die Regie innehatte. Der vierten Gesprächsrunde gehörte neben Lew Hohmann noch Dr. Wolfgang Schnedelbach, ehemaliger Mitarbeiter in der Abteilung Propaganda des Zentralkomitees der SED, er war hier für die Geschichtspropaganda verantwortlich; Erich Selbmann, ehemaliger Leiter des Bereiches Dramatische Kunst des DDR-Fernsehens; Prof.Kurt Veth, Regisseur des Luther-Films, und Prof. Dr. em. Herbert Trebs, theologischer Fachberater des Luther-Films an.

Prof. Kurt Veth berichtete über das Werden des genannten Filmes, über seine Zusammenarbeit mit dem leider verstorbenen Hauptdarsteller des Films, Ulrich Thein.

Seitens des Zentralkomitees der SED gab es u. a. die Vorgabe an den Fernsehfilm, auf das „stimmige Verhältnis“ zwischen Martin Luther und Thomas Müntzer zu achten. Der Luther-Film des DDR-Fernsehens wurde ein großer Erfolg, den nicht nur die Macher des Films, sondern auch die DDR-Führung für sich ‚verbuchten‘.

Anläßlich der Tagung wurde eine kleine Ausstellung mit sehr eindrucksvollen Grafiken von Beatrixe Trebs, die während der Dreharbeiten des fünfteiligen Fernsehfilms entstanden, und einige Fotos von Luther-Gedenkstätten (z. B. Lutherhalle Wittenberg), die anläßlich des 83er Luther-Jubiläums neu gestaltet worden sind, gezeigt, was zur Ergänzung und Vertiefung des Anliegens der Tagung durchaus beitrug.

Ungewöhnlich - weil eben (noch) nicht üblich - waren der „Geist“ und das Klima dieser Tagung. Es fanden keine gegenseitigen Schuldzuweisungen statt, etwa zwischen ehemaligen Staatsfunktionären und Vertretern der Evangelischen Kirche, sondern alle Gesprächsteilnehmer waren auf Sachlichkeit und Fairneß miteinander bedacht. Auch von daher hatte diese Tagung einen paradigmatischen Charakter: Man war einmal (1983) aufgrund der Luther-Ehrung in einem intensiven Gespräch, und nicht nur die Tagung, sondern auch die mit dieser verbundene Premiere des Buches Luther und die DDR (edition ost) von Horst Dähn und Joachim Heise sind ein beredtes Zeugnis dafür, daß auch in der Aufarbeitung von Geschichte die lutherische Sentenz gilt: „Laßt die Geister und nicht die Schwerter aufeinanderprallen.“

Die Luther-Ehrung 1983 der DDR hatte ein Modell zwischen Staat und Kirche geschaffen, das leider nicht genutzt worden ist. Die Luther-Ehrung hatte im Umgang zwischen Kirche und Staat Normen gesetzt, die eigentlich nicht mehr unterboten werden sollten; aber mit dem 83er Jahr hatte es sich für die DDR-Führung „ausgeluthert“, und man ging wieder zur Tagesordnung über, d. h. es gewannen wieder jene in Partei und Regierung die Oberhand, die von Anfang an der Luther-Ehrung mehr als kritisch gegenüberstanden. Die genannte Publikation von Alexander Abusch aus dem Jahre 1946 hatte immer noch für viele Partei- und Staatsfunktionäre der DDR große Aktualität. Man wollte u. a. mit Thomas Müntzer revolutionär sein und bleiben; Luther war für sie ein Vertreter der Konterrevolution, eben ein „Bauernschlächter und Fürstenknecht“.

In einer gleich nach der Tagung erschienenen Pressemitteilung schreibt Dr. Joachim Heise u. a.:
„Die Zeit war 1983 reif für Veränderungen. Manches, was 1983 im Umgang zwischen Staat und Kirche möglich war, erwies sich als Episode in der DDR-Geschichte. Für den Staat, aber ebenso für die evangelischen Kirchen, entstanden in dieser Zeit Konfliktfelder und begannen sich Konfliktpotentiale zu entwickeln, die mit den alten Herrschafts- und Machtmechanismen nicht mehr zu lösen waren und auch von den Kirchen ein Umdenken für ihren Umgang mit dem Staat erforderten.

Das Institut wird auch künftig zu derartigen Werkstattgesprächen einladen und sich als Platz eines sachlichen, kritischen Gesprächs zwischen Menschen unterschiedlicher historischer Erfahrungshorizonte anbieten. Die Orte dafür sind in Deutschland rar geworden.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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