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Die Politik von heute
ist die Geschichte von morgen

Im Gespräch mit Egon Bahr

Herr Bahr, mit der von Ihnen, dem Architekten, und Willy Brandt, dem Bauherrn, initiierten Politik der Entspannung, die immer auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit im Blickfeld hatte, haben Sie, hat schließlich die Sozialdemokratie nachhaltig Geschichte gemacht. Und doch endet Ihr Buch „Zu meiner Zeit“, das vor kurzem bei Blessing erschienen ist, nicht mit einem euphorischen Schlußakkord, sondern mit einem, wenn auch verhaltenen Zweifel über die Perspektiven des nun politisch geeinten Deutschland, wenn Sie sich von ebendiesem Land wünschen, daß es ein Land sei, aus dem niemand mehr auswandern muß. Wieso?

Ich wußte und ich weiß, daß Deutschland vereint, als vereintes Deutschland klein wie nie, keine Gefahr mehr ist für seine Nachbarn im geschichtlichen Sinn. Wir sind keine militärische Bedrohung. Wir haben keine territorialen Ansprüche. Es gibt bei uns nicht wie in Weimar eine Schicht der Wirtschaftsbosse, die gegen die Republik und die Demokratie sind, denn die Wirtschaft ist heute auch integriert und sucht ihren Verdienst dort, wo sie am meisten verdienen kann. Und das ist zum Teil außerhalb der deutschen Grenzen. Das Militär ist richtig eingebunden. Es gibt nicht den Staat im Staate oder Militärs, die anfangen, selbständig Außenpolitik zu machen, die Vergangenheit wird sich nicht wiederholen. Das schützt uns aber nicht vor einer, sagen wir mal, schleichenden Erosion der Demokratie, die dann zum Beispiel zu Fremdenfeindlichkeit führt. Wobei Fremde alle sind, die nicht deutsch Geborene sind. Ich wollte eigentlich mit diesen Worten nur sagen: Ich hoffe und wünsche, daß wir ein demokratisches, auch nach innen friedliches Land werden. 1992 habe ich in Dresden eine Rede gehalten. Bertelsmann hatte ein paar Leute gebeten, über das eigene Land nachzudenken und seinen Zustand. Ich muß gestehen, heute bin ich erschrocken, wenn ich diese Rede wieder lese, weil ich feststellen muß, daß die Gefahren, die ich damals versucht habe zu beschreiben, alle eingetreten sind. Zum Beispiel: Wir haben nicht verstanden und haben nicht die Kraft besessen, die eigenen Fehler zu korrigieren, also Fehler in der Entwicklung, die sich nicht auf die Hinterlassenschaft Honeckers zurückführen lassen, wie die Entscheidung Rückgabe vor Entschädigung. Wir haben vor allen Dingen nicht verstanden, die mentalen Unterschiede abzubauen, wirklich Versöhnung zu machen. Hier sind wir am kläglichsten gescheitert. Wir haben bis heute nicht verstanden - das ist nun sieben Jahre her seit dem Fall der Mauer oder sechs Jahre nach dem Vollzug der völkerrechtlichen Einheit -, auch nur anzufangen, ein deutsches Geschichtsbuch der deutschen Nachkriegsgeschichte zu entwickeln, in dem sich beide Teile wiedererkennen können, das auch in Ost- wie in Westdeutschland in den Schulen gelehrt werden kann. Wenn wir nicht lernen, Geschichte, so wie sie uns passiert ist in der Teilung, gemeinsam zu sehen, wie wollen wir dann erwarten, daß die junge Generation gewissermaßen selbstverständlich hineinwächst. Natürlich habe ich, was ich jetzt zum Schluß gesagt habe, damals am 3. Oktober 1990 nicht gesehen, aber in der Rückschau sind das Unbehagen oder der Zweifel oder die verhaltene Freude auf die eigenen Zweifel zurückzuführen.

Hat dies auch mit Ihren schmerzvollen Erfahrungen zu tun, daß Sie seit dem Passierscheinabkommen bis zum heutigen Tag ein Desinteresse vieler Westdeutscher an der deutschen Einheit feststellen müssen? Worin sehen Sie die Ursache - wenn dem so ist - und wie ist dem politisch zu begegnen? Und ist es nicht merkwürdig, daß die Sozialdemokratie ihren Teil zu diesem Desinteresse beiträgt?

Also, das erste zu erklären, bräuchte man eigentlich ein ganzes Buch. Ich könnte sagen, der 17. Juni 1953 war ein typisches Zeichen dafür, daß die westdeutsche Bevölkerung eigentlich nach dem Westen geguckt hat. Und als der Aufstand niedergeschlagen wurde, war man ganz zufrieden. Man brauchte sich nicht zu kümmern und hatte sogar eine gute Ausrede: Man kann sich ja gar nicht kümmern. Der Westen hat nichts getan, alle haben ihren Status quo abgesteckt. Alle Kanzler, von Kiesinger bis Kohl, haben erklärt: Niemand weiß, wann die Einheit kommt. Mit anderen Worten hieß das für die Bevölkerung der DDR: Richtet euch ein, und zwar auf eine unbestimmte Zeit. Ihr müßt euer Leben leben, ihr müßt eure Karrieren planen, ihr müßt die Laufbahn eurer Kinder bedenken. Hinterher machte sich gewissermaßen eine Psychologie des Vorwurfs breit, als ob es schlimm gewesen wäre, daß nicht alle Helden gegen das Regime gewesen sind. Das ist ein ganzes Stück Heuchelei. Der andere Punkt daran ist: Wenn ein Kanzler kommt und sagt, es gibt die Wiedervereinigung, und sie wird nichts kosten, dann sagen die Westdeutschen, das ist alles in Ordnung, was meckern die dann noch, nicht? Sie sind ja wieder da, wo sie sein wollten. Der Westen hat eigentlich immer nach Westen gedacht, und die ostdeutsche Bevölkerung hat auch nach Westen gedacht, aber da beide nach Westen gedacht haben, sind sie sich nicht begegnet. Das ist das eine. Das andere ist, mit Ihrer zweiten Frage haben Sie natürlich völlig recht. Das ist sehr zu meinem tiefsten Bedauern. Ich selbst bin daran nicht unschuldig. Ich habe an der Präsidiumssitzung teilgenommen und auch zugestimmt, als Hans-Jochen Vogel gesagt hat - 1990 mit dem Blick auf die Wahlen im März -, wir werden alles das machen, was die Freunde in der DDR sagen. Wir werden alles unterlassen, was ihnen nicht gefällt. Das war edel und dumm. Kohl und sein Generalsekretär Rühe haben das anders gemacht, sie haben gesagt: Wie man Wahlen gewinnt, wissen wir, also bestimmen wir. Außerdem haben sie sich sofort aller Organisationen der Blockparteien, die sie kriegen konnten, bemächtigt oder sie benutzt. Das hat eine Fortsetzung auch in folgendem gehabt: In der SPD - wie auch in der Bürgerrechtsbewegung - haben sich wirklich unbelastete Menschen engagiert - die sich als Opfer des Regimes fühlten und die nun nicht auf Versöhnung eingestellt waren, sondern auf Abrechnung. Dies ist verständlich, psychologisch erklärbar, aber hat zu dem geführt, was Sie heute beschreiben. Das ist eine Haltung, die, wenn sie in früheren Jahren Tradition der SPD gewesen wäre, bedeutet hätte, daß man Ernst Reuter und Herbert Wehner verweigert hätte, Sozialdemokrat zu werden. Nun kann es ja einige geben, die sagen, das wäre ja prima gewesen. Ich finde, es wäre schade gewesen, und ich stelle fest, daß die ostdeutsche oder Teile der ostdeutschen Partei die Tradition der SPD verbogen haben. Die Tradition der SPD von Schumacher bis Brandt hieß: Mir ist egal, ob jemand vom Marxismus, von der Bergpredigt oder von humanistischer Ethik herkommt. Sofern er das Programm der SPD bejaht - und ansonsten keine Kapitalverbrechen begangen hat - ist er uns willkommen. Und selbst die Aufforderung Brandts auf dem Parteitag in Berlin und dann nach der Vereinigung von SPD und SDP, alle können aufrechten Hauptes zu uns kommen, auch die Kinder derjenigen, welche 1946 in die SED gegangen sind, diese Aufforderung ist nicht befolgt worden. Ich halte das für einen Kapitalfehler, für einen Fehler, der unbedingt korrigiert werden muß. Ich bin der Auffassung, daß die versäumten Jahre schon nicht wieder gut zu machen sind und heute ganz andere Voraussetzungen da sind, aber die öffentliche Erklärung der Partei, daß sie sich in der Fortsetzung der Schumacherschen und Brandtschen Tradition befindet, die fehlt mir mindestens. Und dann sehen wir weiter.

Herr Bahr, ohne Frage hat die Sozialdemokratie mit der Realisierung ihrer Konzeption vom „Wandel durch Annäherung“ eine Entwicklung auf den Weg gebracht, an deren Ende die Sowjetunion und ihr Imperium sich auflösten, die deutsche Einheit möglich wurde. Verwunderlich ist, daß Teile der Sozialdemokratie sich heute im Rechtfertigungszwang fühlen, wenn es um die offiziösen Ostkontakte geht. Dies bedeutet doch im Nachhinein, die Ostpolitik der SPD mindestens teilweise in Frage zu stellen.

Ich habe keinen Millimeter zurückzunehmen oder zu korrigieren oder nachträglich zu entschuldigen. Nichts. Ich habe manches falsch eingeschätzt, auch in Ordnung. Aber ich fand die Konzeption richtig und finde sie auch heute noch richtig. Im übrigen spielen Sie auf eine Neigung meiner Partei an, wenn der Wind vom politischen Gegner ein bißchen schärfer wird, vorsichtig zu sein und gleich in die Knie zu gehen. Das finde ich schrecklich. Aber, ich hoffe, das ändert sich auch noch.

Herr Bahr, es sind Frauen und Männer, die Geschichte machen. Können Sie sich vorstellen, daß ohne Willy Brandt die Entspannungspolitik möglich gewesen wäre?

Nein. Die Antwort heißt einfach: Nein. Der Instinkt dieses Mannes und der Mut dieses Mannes zur richtigen Zeit am richtigen Ort, ohne das wäre das nicht passiert. Eindeutig.

Mit Ihrem Erinnerungsbuch „Zu meiner Zeit“ haben Sie zu vielen Aspekten der deutschen Nachkriegsgeschichte Diskussionen entfacht. Einen Aspekt möchte ich herausgreifen, Ihre Beurteilung von Herbert Wehner. Noch nie habe ich in der deutschen Sozialdemokratie solch harte Töne ihm gegenüber vernommen, immerhin aus berufenem Munde. Die Aufgeregtheit darüber ist groß. Hat das vielleicht damit zu tun, daß Sie Ihr Werk durch seine Wirkung bedroht sahen, durch einen Mann, der schon bei der Vorstellung Ihres Konzeptes „Wandel durch Annäherung“ dieses als eine Narretei betrachtete?

Nein. Sondern es hat allein damit zu tun, daß, als ich das schrieb, wir eine Diskussion hatten, die dem Wehner unterstellte, er hätte für die andere Seite gearbeitet. Er hat mit der anderen Seite gearbeitet. Das ist mein Ergebnis. Gleichzeitig gab es eine Diskussion, er hätte von der Existenz des Spions Guillaume gewußt, als er sich zum erstenmal nach dem Krieg mit Honecker traf. Dann wäre er ein Schwein gewesen. Mein Ergebnis: Nein, er wußte es nicht. Das heißt, aus dieser Diskussion heraus kam ich überhaupt auf die Idee, den Versuch zu machen, ein Psychogramm dieses wirklich sehr komplizierten, komplexen, bedeutenden Mannes zu schreiben - an dem sich auch andere bisher die Zähne ausgebissen haben, wenn sie versuchten, den Mann zu fassen -, und zwar anhand meiner persönlichen Erlebnisse mit ihm. Ich wollte ein ehrliches Buch schreiben, und das ist das Ergebnis. Ich schreibe ja auf der andern Seite auch, wie ich mich über sein Lob gefreut habe oder über Erklärungen von ihm, die ich mir lieber vom Kanzler Willy Brandt in dessen Schwächeperiode gewünscht hätte. Ich glaube, daß es ein - in meinen Augen jedenfalls - gerechtes Bild ist, und daß sich einige aufgeregt haben darüber, weil sie vielleicht ihr Bild von Wehner korrigieren müssen. Damit muß ich leben. Ich habe umgekehrt zum Beispiel von einem der sozusagen Uralt-Männer der Partei, Fritz Heine, ein paar handgeschriebene Zeilen bekommen: „Lieber Egon, das mußte gesagt werden. Das ist richtig.“ Das habe ich bisher nicht publiziert. Ich habe von anderen Briefe bekommen - fast erleichtert: „Wir könnten noch ganz andere Sachen dazu beitragen.“ Ich habe aus meinen persönlichen Erlebnissen geschrieben. Daß einer im „Spiegel“, ohne die Lebenden zu fragen, die ihm ganz etwas anderes gesagt hätten, nur aufgrund eines Stückchen Papiers zu einem Urteil gekommen ist, das werde ich vielleicht korrigieren, wenn ich die Zeit habe, mir dieses Papier anzusehen. Ich habe mit allen Lebenden, die da erwähnt sind, gesprochen. Die sagen alle - genauso wie ich: Wir haben diese große, lange Aufzeichnung, wo der Wehner von seinem Testament spricht, nicht gesehen, und Brandt hat nicht mit uns darüber gesprochen. Vielleicht gelten die Zeugnisse von vier lebenden Zeitzeugen auch noch etwas oder mehr als das Stückchen Papier, zumal der Willy Brandt natürlich viel Papierchen beschrieben hat.

Herr Bahr, Sie stellen in Ihrem Buch unter anderem fest, „Geschichte setzt sich auch aus persönlichen Schicksalen und verlorenen Gelegenheiten zusammen“. Welches sind die verlorenen Gelegenheiten, denen Sie nachtrauern?

O Gott, da gibt es sehr viele natürlich. Also erstens weiß ich nicht immer, ob es verlorene Gelegenheiten sind. Ich bin bis heute der Auffassung, daß es ein Versäumnis gewesen ist, das Angebot Stalins vom März 1952 nicht zu sondieren. Ich bin der Auffassung, daß man den Prozeß der deutschen Einheit im Zusammenwirken der demokratischen Parteien hätte machen müssen. Ich rede jetzt nicht von großer Koalition. Das kommt ja selten vor in der Geschichte eines Volkes, daß es geteilt ist über lange Jahrzehnte und wieder zusammenkommt. Wenn nicht bei dieser Gelegenheit, wann denn dann. Wenn man die Parteien hätte zusammenwirken lassen - der Kohl hat damals einen „Runden Tisch“ abgelehnt, er hat gesagt: Das ist ein typisches Mittel der zusammenbrechenden sozialistischen Länder. Dann machen wir einen „viereckigen Tisch“, aber um den Tisch hätte man sich setzen müssen. Viele Fehler, glaube ich, wären dann zu vermeiden gewesen. Dann hätte man auch nicht diesen fatalen Eindruck erweckt, daß die deutsche Einheit aus der Westentasche zu bezahlen ist, sondern dann hätte man gesagt: Jetzt krempeln wir die Ärmel auf, und das kostet eine ganze Weile eine ganze Menge, und jeder muß dazu beitragen - übrigens nach seinem wirtschaftlichen Können, die Großen mehr, die Kleinen weniger. Ich könnte sagen, es ist eine verlorene Gelegenheit gewesen, als man die NATO ausgedehnt hat bis zur Oder und Neiße, nicht zu unterschreiben, daß sie nicht weiter ausgedehnt wird. Ich weiß von Genscher, daß alle das mit Begeisterung sofort unterschrieben hätten: Washington, Paris, London - Bonn auch - Moskau sowieso. Aber gut, man konnte sich im Jahre 1990 gar nicht vorstellen, daß es ein Jahr später die Sowjetunion nicht mehr geben würde.

Es gab also auch nicht die Idee der Unterschrift?

Nein, es wurde überhaupt nicht thematisiert. Im Prinzip hat der Westen gesagt: Wir rücken euch nicht auf den Pelz. Ihr könnt sicher sein. Niemand hat gedacht, daß Polen mal in Frage käme, NATO-Mitglied zu werden. Das war so selbstverständlich, daß der Gorbatschow nicht darauf bestanden hat, diese Erklärung schriftlich zu bekommen. Das ist eine verlorene Gelegenheit gewesen, die dazu gezwungen hätte, das europäische Haus jedenfalls auf dem Gebiet der Sicherheit europäisch zu bauen und nicht mit diesem Quatsch der punktuellen NATO-Ausweitung, ohne zu wissen, in welcher Form wird Rußland an der europäischen Sicherheit beteiligt. Das ist die Hauptfrage. Die muß erst entschieden werden. Dann kommt alles andere.

Wenn „die Last die Lust tötet, wird es Zeit, die Macht abzugeben“. Das ist sicher eine richtige Einsicht, doch nur wenige halten sich daran. Hatten Sie keine Lust mehr?

Doch, ich hatte Lust. Aber es ist ganz selbstverständlich, daß ich zusammen mit Brandt zurücktrat. Dazu war ich ihm zu nahe. Das Angebot Schmidts, gleich weiter zu machen, habe ich nicht akzeptiert. Erst sechs Wochen später, nachdem ich die Freiheit des Bundestagsabgeordneten genossen hatte, habe ich dann, weil sowohl Brandt wie Schmidt mich gedrängt haben, mich bereit erklärt, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, also die Entwicklungshilfe, zu übernehmen. Die von Ihnen zitierte Stelle aus meinem Buch bezieht sich auf die Zeit, als ich das Gefühl hatte, Schmidt geht durch eine Periode durch, in der die Last die Lust an der Macht bei weitem und zunehmend überwog. Letztlich habe ich mich dann eben nicht gewundert, daß er nicht mehr wollte, aber den Rücktritt fabelhaft inszeniert hat mit - weiß Gott - der Hilfe von Herrn Genscher und Herrn Lambsdorf. Ich erinnere mich daran, weil ich heute eine Entwicklung sehe, die mich manchmal an die Schlußzeiten von Schmidt denken läßt. Schmidt hat zweimal mit seinem Rücktritt gedroht. Das dritte Mal ging es schon nicht mehr. Der Kohl hat jetzt einmal intern und einmal öffentlich hörbar mit seinem Rücktritt gedroht. Das sind Zeichen von Schwäche oder Überlastung oder Überdruß oder beginnender Dünnhäutigkeit. Ich sage ausdrücklich: Man kann sich davon erholen. Aber jedenfalls ist es schon mal interessant, so etwas festzustellen. Und schließlich: Kanzler zu sein erfordert ungeheure Kraft. Erstens physische. Ein Schwächling kann die physischen Strapazen nicht durchstehen. Dann natürlich mental. Dauernd in höchster Spannung, im Streß und dabei reaktionsfähig zu sein. Das nützt sich auf die Dauer ab. Bisher haben wir immer gesehen, daß die Kanzler, wenn sie das zehnte Jahr hinter sich haben, anfangen abzubauen. Kohl ist ein „Bulle“, außerdem im Prinzip so gebaut, daß es ihm Spaß macht, Kanzler zu sein. Aber auch er muß den Gesetzen der Biologie Tribut zollen.

Wir lernen ja offensichtlich aus der Geschichte nichts, und trotzdem betreiben wir sie. Teilen Sie meine widersprüchliche Auffassung, daß man, vielleicht, weil man sie betreibt, immer noch der Illusion unterliegt, man könne doch was daraus lernen?

Also jedenfalls bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, als weiter zu leben, Politik zu machen, und die Politik von heute ist die Geschichte von morgen. Das geht nicht anders. Die Frage des Lernens aus der Politik ist im Grunde auf den Übergang der Generationen beschränkt. Ich glaube nicht, daß die nächste Generation dieselben Fehler macht wie die letzte. Sie macht dafür neue. Dann kann die Großväter-Generation sagen: Aber habt Ihr denn vergessen, ... und und ... Da ist meine Antwort: Die Erfahrung ist nicht übertragbar, sondern jede Generation muß neu lernen in einer veränderten Welt. Und die Welt verändert sich heute viel schneller als früher oder zu meiner Zeit. Da waren auch schon enorme Veränderungen. Aber, wenn ich mir anschaue, wie die Sache mit den Chips, der Mikroelektronik, den kommunikativen Vernetzungen usw. in dieser Welt läuft, dann ist das atemberaubend, und wir haben alle noch keine richtige Antwort auf die mit dieser Entwicklung verbundenen Fragen. Die Antworten, die wir gestern gegeben haben, reichen dafür nicht aus. Wir sind am Vorabend oder am Beginn eines wirklich neuen Zeitalters, und dafür müssen die Regeln erst noch gefunden werden. Das ist übrigens der eigentliche Grund meines Erachtens für die Orientierungslosigkeit, die heute von Washington bis Tokio reicht und Deutschland einschließt mit Regierung und Opposition. Bei der Regierung fällt es nur nicht so auf, weil die regiert. Bei der Opposition fällt es sehr auf, weil man von der etwas erwartet, und das müßte sie auch leisten. Zumindest deutlich machen, daß sie sich darum müht.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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