Eine Annotation von Ingrid Wagner
Sallenave, Daniéle:
Indien oder Die Verwüstung der Welt
Carl Hanser, München 1996, 136 S.

Der Roman der Französin Daniéle Sallenave ist ein Werk, das Nachdenklichkeit und Bedenklichkeit erzeugt. Sie schildert Indien, das sie auf einer Kultur- und Bildungsreise durchquerte, in einer Weise, die das kulturelle Erbe und die große Vergangenheit dieses Landes bewundert und zugleich nicht den Blick vor den unermeßlichen Problemen des Landes verschließt. Nur zu oft sehen Touristen das oberflächliche Schöne, das, was sie sehen wollen, und verschließen die Augen vor Elend, Schmutz und trister Ausweglosigkeit, die sie besonders in armen Ländern des Südens umgeben. Daniéle Sallenave sagt am Ende ihres Werkes über sich selbst:

„Ich war immer diejenige gewesen, die sich von der ‚Exotik‘ am wenigsten hat anziehen lassen: Von der Seite her habe ich also nicht den Zugang zu Indien gefunden, sondern über den Weg einer existenziellen Erschütterung.“

Mit wacher Anteilnahme sieht sie Indien, empfindet das Land mit seinen Problemen als existenziell gefährdet.

„Das ganze Provisorische des Lebens entfaltet sich. Noch in den größten Marktflecken scheint kein Haus fertig zu sein oder ist schon zerstört. Der Tod ist überall; die Eingeweide eines Hundes klaffen bloßgelegt in der Sonne.“ Ähnliche Schilderungen findet der Leser immer wieder in dem Buch.

Der Kontrast zwischen Schönheit der Natur, den historischen Kulturbauten einerseits und der sozialen Wirklichkeit der Menschen andererseits erschüttert die Autorin. Wie sie schreibt:
„Auf eine Weise, daß die Schönheit einem keine Freude machen kann, sondern ganz im Gegenteil die Arbeiten und die Tage düster färbt; ein Anhängsel der Not, die jeglichen Wunsch erstickt, Hilfe zu leisten, eine Hilfe, die niemandem nützt.“

Niedergeschlagenheit wird geschildert und deutlich - nicht nur auf die gesellschaftlichen Zustände im armen Indien bezogen:

„Ist Indien nicht die perfekte Vorwegnahme dessen, was bald das einheitliche Angesicht der Erde sein wird? Denn bald werden wir zwei extremen Ursachen für Unruhe, Gewalt, Verwüstung unterliegen: den anarchischen Auswirkungen der Industrialisierung und der hereinbrechenden Welle der Armut. Dann wird unsere Welt sich einen, und dies wird ihr einigendes Prinzip sein: Gewalt, Verschmutzung und Armut. Da liegt unsere Zukunft ...“

Wer also eine Art Reiseführer oder schillernden Reisebericht erwartet, wird enttäuscht sein. Aber, ob der zum Mitdenken bereite Leser die pessimistischen Einschätzungen von Daniéle Sallenave teilt oder nicht, es lohnt sich auf alle Fälle, das 1996 bei Carl Hanser erschienene Büchlein zu lesen und sich mit seinem Angebot von Gedanken und Schlußfolgerungen auseinanderzusetzen.

Lohnend ist die Lektüre nicht nur wegen der Fülle von Reiseeindrücken und philosophischen Überlegungen, sondern auch wegen des packenden Stils, den die Übersetzerin Isabell Lorenz gekonnt ins Deutsche übertragen hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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