Eine Annotation von Hans-Rainer John
Kerr, Philip:
Game over
Thriller. Deutsch von Peter Weber-Schäfer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, 496 S.

In Los Angeles steht ein neuerrichtetes supermodernes Hochhaus vor der Übergabe an die chinesische Yu Corporation. Ray Richardson, einer der weltbesten Architekten, Schöpfer dieses High-Tech-Gebäudes, spielt am Vorabend noch einmal die 40 Millionen Dollar teure Computersteuerung durch. Damit beginnt ein Alptraum für alle Beteiligten. Die intelligente, sich selbst maximierende automatische Steuerung aller Prozesse verselbständigt sich und kehrt sich gegen ihre Schöpfer. Ein grauenvolles Szenario läuft an. Ein entsetzliches Ereignis folgt dem anderen, eines übertrifft das andere. Die Menschen scheinen der Technik hilflos ausgeliefert, nur wenige entkommen um Haaresbreite ...

Philip Kerr (40), in Edinburgh geboren und in London lebend (sein Roman Das Wittgensteinprogramm wurde 1994 mit dem Deutschen Krimi-Preis für den besten ausländischen Kriminalroman ausgezeichnet), will mit dieser modernen Geschichte vom Golem, der seinen Schöpfer vernichtet, den Blick öffnen für die Abgründe der neuen Technologie. „Nimm dich in acht. Game Over. Neues Spiel?“ heißt es am Ende, nachdem viele Leute eines entsetzlichen Todes gestorben sind und das Haus zusammengestürzt ist. Kerr hat für sein Menetekel eine schlüssige Fabel gefunden und realisierte sie, was die Technik betrifft, phantasievoll und intelligent. In der Anhäufung von Hilflosigkeit erzeugendem Grauen scheint er Stephen King zu folgen. Aber King pflegt seine Schauerstories ausführlich zu grundieren. Er verwendet viel Zeit und Raum darauf, zunächst das Umfeld mit großer sozialer Genauigkeit und liebevoller Detailiertheit zu umreißen, die handelnden Personen tiefgehend, interessant und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu charakterisieren, also unser aufrichtiges Interesse an sie zu binden, ehe er sie den schicksalhaften Ereignisschlägen aussetzt. Das freilich hat Kerr weitgehend versäumt.

Seine Figuren bleiben blaß, uninteressant, schematisch, austauschbar, nur ganz wenige prägen sich überhaupt ein, aber auch sie mehr als soziale Typen, denn als Menschen aus Fleisch und Blut. So steht die sich verselbständigende Technik mit ihren ideenreichen Tricks und Winkelzügen im Mittelpunkt, aber die sich häufenden Katastrophen stumpfen ab, beginnen allmählich zu langweilen. Schließlich muß man sich zwingen, das Buch bis zur letzten Seite zu lesen. Kein Kompliment für einen Thriller, von dem der Verlag hofft, daß er die Leser nicht nur in seinen Bann zieht, sondern sie sogar als Geiseln nimmt. „Der geistreichste Schocker des Jahres“ urteilte der Londoner „Independent“ - ich bin mir da nicht ganz so sicher.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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