Eine Annotation von Hans-Rainer John
Devi, Phoolan:
Ich war die Königin der Banditen
Die Autobiographie.
Gustav Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach
1996, 520 Seiten

Hier ist nicht über Literatur zu rechten - die Autorin dieses Buches ist Analphabetin. Im Alter von 32 Jahren hat sie ihr bisheriges bewegtes Leben auf Tonband rekapituliert. Die 2 000 Seiten Typoskript, die danach entstanden sind, wurden von zwei Journalisten bearbeitet und auf ein Viertel zusammengestrichen. Herausgekommen ist ein Buch, das gut lesbar ist, aber nicht wegen seines Stils Aufmerksamkeit erregen will. Dafür ist es eines der aufregendsten und erschütterndsten Dokumente, das augenblicklich auf dem Buchmarkt gehandelt wird.

Phoolan Devi lebt in Uttar Pradesh. Wir haben zwar schon immer gewußt, daß die Trennung der Inder in Kasten verheerende Folgen hat für die Unteren, die Armen und Besitzlosen, vor allem aber für deren Frauen und Töchter. Aber es ist etwas anderes, ob uns das Ethnologen oder Reiseschriftsteller erzählen oder ob ein Betroffener sein eigenes Leben schildert - objektiv, selbstverständlich, tendenzlos, also ohne Wut, Aggressivität und Anklage. Für die Rechtlosigkeit der Mallahs beispielsweise gibt es wohl im ganzen Mittelalter nichts Vergleichbares, und ihre Frauen gar sind pures Freiwild der Thakurs. Jeder Pradham (Dorfältester) oder Sarpanch (Bürgermeister) hält die gegebene Ordnung aufrecht, und alle Sipahis (Polizisten) gehen ihnen zur Hand. Jeder Zusammenschluß der Benachteiligten wird grausam unterbunden, Solidarität ist unüblich und Aufbegehren zwecklos.

So erlebt Phoolan Devi ihre Kindheit am untersten Rand der Gesellschaft als Arbeit, Demütigung und Entwürdigung. Mit elf Jahren wird sie an einen brutalen Mann verschachert, der 24 Jahre älter ist, sie vergewaltigt und dann verstößt. Als „Schandfleck“ kehrt sie zu ihrer Familie zurück und wird natürlich bald Gegenstand von Verleumdungen. Im Beisein ihres machtlosen Vaters wird sie ins Gefängnis geworfen - Vergewaltigungsopfer der hemmungslosen Polizisten. Solch Leben kann man nur mit Freitod beenden oder als revoltierender Bandit.

Für eine bewußte Wahl ist Phoolan Devi mit 17 Jahren noch zu jung. Aber eine Räuberbande entführt sie im Auftrag des Pradham aus ihrem Dorf in die wilden Schluchten des Chambal-Tals. Wieder muß sie um ihr Leben bangen. Aber die Kastenteilung bestimmt auch das Leben der Bande: Die (guten) Mallahs trennen sich von den (bösen) Thakurs, und Vickram, der Mallah-Führer, eine Art Robin Hood, wird zum ersten Manne, der Phoolan Devi als Mensch achtet, sie zur Bundesgenossin erhebt. Sie wird zu seiner Geliebten und gewinnt Einfluß auf die Bande.

Vickram und Phoolan berauben nun die Reichen und geben den Armen, sie nehmen fürchterliche Rache für Ungesetzlichkeiten, Unterdrückung und Mißbrauch der Frauen. Sie werden der Fluch der Oberen und die Hoffnung der Unteren - bis eine rivalisierende Bande aus einer höheren Kaste über sie herfällt. Vickram wird erschossen und Phoolan geknebelt und nackt von Dorf zu Dorf gekarrt, wo jeder, der will, sich an ihr vergreifen kann. Eines Tages gelingt ihr die Flucht. Sie bildet eine neue Bande, nimmt Rache als „Königin der Banditen“, wird zum Mythos und bringt Aufregung ins Land. Der Ministerpräsident schickt einen Unterhändler. Als die Kapitulation ausgehandelt wird, ist Phoolan 21 Jahre alt.

Sie geht ohne Prozeß für elf Jahre ins Gefängnis. Nach ihrer Freilassung 1994 begann die Arbeit an diesem Buch. Es ist Aufschrei und Anklage zugunsten aller unterdrückten Frauen und Mädchen, um ihnen ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Phoolan stellt sich als Opfer und Täter dar, als Heldin und Schurkin zugleich, und der Leser wird es unbegreiflich finden, wie man solches Leben überstehen kann. Ein unvergleichliches Dokument!

Zu danken ist Marie-Thérèse Cuny und Paul Rambali, die die Tonbandabschrift bearbeitet und gekürzt und damit eine Veröffentlichung ermöglicht haben, und dem Lübbe Verlag, der den Band vorzüglich ausgestattet hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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