Eine Annotation von Bernd Meyer
Pschyrembel:
Wörterbuch Naturheilkunde und
alternative Heilverfahren

Walter de Gruyter, Berlin 1996, 324 S.

Nun ist es endlich da, das Wörterbuch der Naturheilkunde aus dem traditionellen Medizin- und Wissenschaftsverlag de Gruyter. Unter Verwendung des eingeführten und für Solidität bürgenden Namens „Pschyrembel“ (Generationen von Medizin- und Zahnmedizinstudenten und in Weiterbildung befindliche Ärzte und Zahnärzte im deutschsprachigen Raum haben nach den didaktisch vorzüglich aufgemachten Lehrtraktaten von Willibald Pschyrembel gelernt. Das Klinische Wörterbuch, der legendäre „Pschyrembel“, hat weit über 100 Auflagen erreicht) werden Naturheilkunde und alternative Heilverfahren lexikalisch abgehandelt. Die Erweiterung des Verlagsangebots in Sphären außerhalb der Schulmedizin hat Gründe, denn naturheilkundliche Verfahren einschließlich der Homöopathie finden Interesse und Anwendung bei immer neuen Bevölkerungsgruppen. In einem technisch-chemischen Zeitlauf, gekennzeichnet durch Apparatemedizin und synthetische Arzneimittel zuhauf, besinnen sich eben viele Menschen wieder mehr auf das Natürliche, die Natur und wollen sie (bzw. das, was heute noch von ihr übrig geblieben und erreichbar ist) für ihre Gesundheit nutzen. Das vorliegende Wörterbuch bietet 3 000 Begriffe unter Einbeziehung der Ernährungsmedizin, der Phytotherapie (Behandlung durch Pflanzen, Pflanzenteile und deren Zubereitungen, S. 225) und Psychotherapie. Der Bogen spannt sich bis zur anthroposophischen Medizin auf der Grundlage des Initiators der Waldorfschulen Rudolf Steiner (1871-1925), der „das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall“ führen will (S. 13), und zu ethnomedizinischen Systemen wie den traditionellen chinesischen, indischen und tibetischen Heillehre.

Der Verlag beabsichtigt mit dem neuen Wörterbuch, die klinische Medizin wirkungsvoll zu ergänzen. Dieses Vorhaben verdient generell Anerkennung und Förderung, damit sich das überliefert Bewährte und neu Erkannte auf solider Grundlage ohne Mystifizierung durchsetzen kann. Die Wörterbuch-Redaktion unter Leitung von Helmut Hildebrandt besitzt dafür nach jahrzehntelangen Erfahrungen allerbeste Voraussetzungen. Die Anbindung des naturheilkundlichen Wissens an die Schulmedizin schafft die wirkungsvollste Gewähr, um Mißbrauch vorzubeugen und irgendwelchen Scharlatanen den Weg zu verlegen. Das Wörterbuch wird dazu beitragen, der Naturheilkunde an der Seite der Medizin den verdienten Platz einzuräumen. Dies kann und muß selbstverständlich für den Interessenten nicht bedeuten, jedem naturheilkundlichen Zweig und seinen Empfehlungen die gleiche Sympathie entgegenzubringen. Dabei hilft die Besinnung darauf, daß die Medizin lange Jahrhunderte auf naturheilkundlichen Beobachtungen und Anwendungen basierte und daß berühmte Ärzte wie etwa Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) und August Bier (1861-1949) eine abgewogene Verwertung und Hinwendung propagierten.

Ein Wörterbuch will und kann kein Ratgeber sein, doch seine Begriffsbestimmungen werden - neben einem umfangreichen Informationsangebot - dazu beitragen, unbegründete oder überhebliche Vorurteile gegenüber naturheilkundlichen Verfahren abzubauen. Das wäre bereits sehr viel. Versachlichung der Debatte ist angesagt. Es regt zweifellos auch dazu an, die wissenschaftlichen Begründungen einzelner diagnostischer und therapeutischer Empfehlungen auszubauen. Auf jeden Fall liegen den Begriffserläuterungen handfeste praktische Erfahrungen zugrunde. Andererseits gibt es ernstzunehmende esoterische Verzahnungen in die Naturheilkunde hinein, die ihr wiederum nur schaden können. Wenn der Verlag nachfolgend Lehrbücher zur Akupunktur und zur Naturheilkunde vorlegte, so befördert er erneut den Trend der Anlehnung von Homöopathie und anderen Verfahren an die Schulmedizin. Schließlich bahnt das Wörterbuch eine hoch zu bewertende Kommunikation zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde zum Nutzen der gesunden und kranken Menschen an. Um den Menschen sollte es also vordringlich gehen, gerade heute, trotz Konkurrenz zwischen Ärzten und Naturheilkundlern und totaler Kommerzialisierung von Gesundheit und Krankheit. Und es bleibt wohl dabei: Naturheilkunde wird der Schulmedizin nicht den Rang ablaufen, sie nicht ersetzen, aber das mit ihren Methoden Legitime beitragen. Der „gänzlich neue und andere“ Pschyrembel wird das Seine leisten, ganz gewiß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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