Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Auf der Suche nach der verschütteten Kindheit

Hanna Krall: Existenzbeweise
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Verlag neue Kritik, Frankfurt/M. 1996, zweite und verbesserte
Auflage, 201 S.

Hanna Krall greift in ihren Büchern vorzugsweise Themen aus der Zeit der Judenverfolgung und des Holocaust auf. In ihrem neuen Buch Existenzbeweise erzählt sie zehn Geschichten, eindringliche Schilderungen von verwirrenden Lebensschicksalen polnischer Juden. In mühevoller Kleinarbeit von Erinnerung und Recherche versucht sie, die Identität einstiger Kinder, die dem Holocaust entkamen, wiederherzustellen. Die Kinder von damals suchen nach den Spuren ihrer Eltern, Mütter wollen nach Jahrzehnten der Ungewißheit, der Trauer, ihre Kinder wieder umarmen.

Von der Unbegreiflichkeit und dem Wunder des Überlebens mitten im Tod wird hier erzählt. Ein Vater, der das Konzentrationslager überlebt hatte, sucht per Annonce seine Tochter. Er bekommt Hunderte von Briefen, fährt nach Polen, besucht Klöster, geht in unzählige Wohnungen. Dann trifft er auf eine Frau, die mit einem adoptierten Kind lebt. Doch plötzlich kommt alles ganz anders: „Es war nicht sein Kind, aber die Augen der Frau erinnerten ihn an die von Helena. Sie heirateten. Er hörte auf, Anzeigen in die Zeitung zu setzen.“ Mancher Versuch, die Wurzeln der Existenz zu finden, führt in die Irre. Oft treten ganz andere als die gesuchten Personen dazwischen, die jedoch alle teilhaben und teilnehmen an den tragisch-verschlungenen Lebensläufen. Als Spurenleserin mischt die Erzählerin Hanna Krall literarische und authentische Situationen. Es gibt bei ihr den gekonnten Übergang von der Reportage zur Erzählung. Denn sie weiß: „Die Menschen, die erfahren hatten, daß sie Juden sind, wollten andere treffen, die dasselbe erfahren hatten. Einmal im Monat, am Sonntagvormittag, saßen sie an den Tischchen in dem engen Buffet des Jüdischen Theaters. Fein angezogen, verschwitzt von ihren Gefühlen und der Stickigkeit, erzählten sie einander endlos, ohne etwas zu wissen, ohne sich an etwas zu erinnern.“ Doch dann taucht plötzlich ein Mann auf, der die Geschichte seines verlorenen Sohnes erzählt. Den er einst im Lemberger Ghetto zwei Tage nach der Geburt in Zeitungen gewickelt und in einem Brotbeutel einer polnischen Arbeiterin übergab. Nach dem Krieg sucht der dem Gastod entkommene Vater die Leute auf, die längst zu den Eltern seines Sohnes geworden sind. Doch sie geben „ihr“ Kind nicht wieder heraus. Diese Geschichte bekommt später eine überraschende Wendung: Der Sohn selbst ist es, der sich aufmachte, den Vater zu suchen.

Es ähneln die hier erzählten Schicksale insofern einander, als sie alle ein Grunderlebnis verbindet: Dem fast sicheren Tod entronnen, konnten sie gerettet werden. Doch oft stellte sich heraus, daß es ja nicht nur eine polnische Mutter, von der sie aufgezogen worden waren, sondern auch noch eine jüdische Mutter, die sie geboren hatte, gab. Man will alles wissen, auch um den Preis, daß das gelüftete Geheimnis die psychische Existenz nachträglich an den Rand des Abgrunds zu führen vermag. Wirklichkeiten, in denen die Wirrnis poetischen Zauber bekommen kann. Manchmal bringt schon eine bemerkenswerte Kleinigkeit Klärung in die verzwickten Verhältnisse. An der Art, wie der Vater einen Hahn einst schlachtete, wird ersichtlich, daß die Erzählerin dieser Geschichte eine Jüdin sein muß. Oder ein fünfunddreißigjähriger katholischer Pfarrer findet seine Mutter im Krakauer Archiv beim Kramen in Ausweisanträgen wieder. Es ist „nur“ ihr Photo, doch zum ersten Mal sieht er ihr Gesicht. Die Archivarin, unmittelbare Zeugin dieser Entdeckung, erklärt den Dabeistehenden (und dem betroffenen Leser) die Seltsamkeit dieser Szene: „Er weint, aber innerlich.“

In der Erzählung „Die Kiefer“ wird ein Brief mit dem Datum vom 1. März 1954 mitgeteilt. Es ist die späte Offenbarung einer real-irrealen Mutter-Tochter-Beziehung: „Liebe Tochter, ich schreibe Dir diesen Brief zu Deinem angeblichen Geburtstag, und ich gestehe Dir, daß ich nicht mal weiß, wann Du wirklich Geburtstag hast, mein liebes Kind, wein nicht, wenn Du das hier liest. Ich will Dir das vor meinem Tod schreiben, daß Du nicht mein eigenes Kind bist, ich weiß nur, daß Du von einer jüdischen Familie bist und daß Du Jüdin bist.“

Schwer sind die Empfindungen dieser Tochter zu beschreiben, die nach diesem Brief unter schauerlichen Träumen leidet. Aber nun weiß sie: „Meine Worte sind nur an alltägliche Dinge gewöhnt, aber mir sind große Dinge zugestoßen.“ Eine Szene, die der Bibel entstammen könnte. Die Tochter erlebt eine Vision: Beide Mütter kommen zu ihr. Und sie löst das Problem mit geradezu einfachsten Gedanken. Sie setzt einen Gedenkstein und schreibt darauf: „Hier liegen meine beiden Mütter.“

In die Tragik der Geschichten mischt sich auch manchmal Komik. So bekommt ein jüdisches Kind von den polnischen Eltern den seltsamen Namen Ninel, Lenin rückwärts gelesen. Mit fünfzig Jahren fährt das „Kind“ nach Israel, und es erfährt dort, daß nin-el eine Verbindung der hebräischen Worte für Urenkel und Gott ist.

Andere Schicksale werden in den Nachkriegsjahren nicht nur aufgeklärt, sondern sie erhalten noch einen Schuß Wermut dazu. Als eine junge Frau beabsichtigt, in Israel eigene und Familiengeschichte zu erforschen, wird ihr heftig davon abgeraten, denn sie wolle doch die wunderbare Möglichkeit, in der Volksrepublik Medizin studieren zu dürfen, nicht durch derlei Exkursionen aufs Spiel setzen.

Hanna Krall resümiert ihre Erfahrungen einmal so: „Meine Arbeit als Reporterin hat mich gelehrt, daß logische Geschichten, die keine Lücken und Ungereimtheiten haben, in denen alles verständlich ist, unecht sind. Dinge, die man sich nicht richtig erklären kann, die ereignen sich wirklich.“

So erlebt ein Amerikaner, der erst nach dem Krieg geboren wurde, in sich das Schreien seines jüdischen Halbbruders, der mit sechs Jahren in den Gaskammern den Tod fand. Der Psychotherapeut „entbindet“ ihn von der Last seines Bruders.

Die Suche nach der eigenen Identität verläuft nicht selten wie eine Krankheit. Schläge ins Herz, tiefe Wunden in den Grund der Seele. Die einen leiden an einer unüberwindbaren Spaltung ihres Ichs, während andere, von robusterer Konstitution, versuchen, sich eine jüdische Herkunft zu konstruieren. Und andere wiederum sind außerstande, das, was ihnen gewiß ist, ihr Jüdischsein, authentisch zu belegen.

Hanna Kralls Existenzbeweise sind ein erschütterndes, ein sehr empfindsam und zugleich leidenschaftlich geschriebenes Buch, das mit Güte und Verständnis neue lebensgeschichtliche Einblicke in eines der schlimmsten Kapitel neuerer Geschichte bringt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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