Eine Rezension von Knut Siehler

Die Macht der Hinterbänkler

Wolfgang Herles: Eine blendende Gesellschaft
Karl Blessing Verlag, München 1996, 288 S.

So ein Hinterbänkler des Deutschen Bundestages hat es, soll man Wolfgang Herles und seinem Romandebüt Eine blendende Gesellschaft glauben, faustdick hinter den Ohren. Anton Sommer ist so einer. Ihm schaut Herles über die Schulter, folgt ihm auf manchen Wegen, die nur selten geradeaus führen und zumeist durch dunkle Nebenstraßen. Es geht um Tod (oder gar Mord?) und Liebe, um Konspiration und Korruption, um politische Verschwörungen und mysteriöse Terroranschläge. Und natürlich spielt die Stasi eine Rolle; das Mielke'sche Gruselkabinett eignet sich offensichtlich für alles.

Bei Nachforschungen über den plötzlichen Tod eines Kollegen stößt MdB Anton Sommer auf viele Ungereimtheiten, lernt liebeswillige Frauen und spendierfreudige Herren kennen, wird Mitglied in einem Golfklub, in dem das Golfspiel die größte Nebensache der Welt ist, und erhält eine Privataudienz beim Schokoladeneis schleckenden Kanzler, seinem Parteifreund. Das Gefühl, auf einmal wichtig zu sein, läßt Sommer jegliche Bodenhaftung verlieren, und so spürt er erst spät, fast zu spät, daß er nicht gebraucht, sondern mißbraucht worden ist. „Inzwischen war ihm klar geworden“, heißt es an einer Stelle, „daß allenfalls andere ihn dazu brauchten, Dinge zu verhindern, die dringend nötig gewesen wären.“ Ein Spielball in den Händen der Mächtigen war er, mehr nicht. Doch dann hat das Schicksal Mitleid mit dem armen Bundestagsabgeordneten und gönnt ihm den letzten Triumph.

Dies also im Sauseschritt etwas zum Inhalt des Werkes von Wolfgang Herles. Der Fernsehjournalist hat für seinen literarischen Erst-Ausflug einen Flickenteppich aus Dichtung und Wahrheit mit leichter Hand zusammengefügt, und daher kommt eine kurzweilige Lektüre, die der Verlag als „bissigen Thriller“ annonciert. Herles geht nicht in die Tiefe, lotet das Psychogramm seines Helden aus der sechsten Reihe im Bundestag nicht aus. Nur andeutungsweise beantwortet er Fragen wie: Sind die Hinterbänkler wirklich nur Ja-Sager, eingepreßt ins Fraktionskorsett? Wie werden sie mit unpopulären Entscheidungen, die sie durch ihr Handzeichen getroffen haben, fertig? Kommen sie mit ihrer Doppelrolle zurecht - auf der einen Seite, in ihrem Wahlkreis etwa, umworben, bekannt, berühmt zu sein, im Bundestag aber unbeachtet zu bleiben, kein Ziel für Kameraobjektive? Was hat die Macht so Verführerisches an sich, daß sie Werte wie Toleranz, Mitgefühl, Mitleid vergessen macht? Und warum läßt sich der eine verführen und der andere nicht? „Du mußt unterscheiden zwischen Kriechen und Sichbeherrschen“, steht zu lesen. Katzbuckelei als Lebensphilosophie.

Eine blendende Gesellschaft liest sich schnell herunter. Herles formuliert spritzig und schlägt mitunter bei seinen (an die Wirklichkeit angelehnten) Charakterisierungen auch schrille Töne an. Über die Familienministerin heißt es zum Beispiel: „Das frühvergreiste Kind hatte der Kanzler vermutlich per Rasterfahndung gefunden. “ Ironische Töne auch bei seinem Ausflug in die Fernsehwelt mit der Invasion von Talk-Shows; gewiß ein Stück Selbstdarstellung, denn der Autor war einst Gastgeber der ZDF-Sendung „Live“ aus der Alten Oper in Frankfurt am Main. Neues über den Bundestag über die Abgeordneten erfährt dagegen der Leser bei Herles nicht. Höchstens, daß sein Romanheld, ein oberschwäbisches Urgestein, von der deutschen Einheit nicht allzuviel hält. Doch auch das nur als Nebengedanke, ohne jeglichen Versuch der Nachvollziehbarkeit. Ein Thriller eben - und manchmal vielleicht auch bissig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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