Eine Rezension von Hans Rainer

Ein Wochenende in einer so schwierigen Welt

Richard Ford: Unabhängigkeitstag
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Fredeke Arnim.
Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1995, 592 S.

Zwei Novellen, ein Band mit Short Stories und vier Romane sind bisher von dem in New Orleans lebenden Richard Ford (52) in deutscher Sprache erschienen. 1989 ließ der Sportreporter, ein Roman über Frank Bascombe, wohnhaft in Haddam, New Jersey, aufhorchen. Sechs Jahre später legt der Autor nun die Fortsetzung vor: Unabhängigkeitstag.

Es gibt Bücher, die auf 300 Seiten das Schicksal einer vielköpfigen Familie durch zwei Jahrzehnte hindurch verfolgen, ohne daß man das Gefühl von Sprüngen oder Auslassungen hat. Ford schildert auf fast 600 Seiten ein einziges Wochenende eben dieses Frank Bascombe: minutiös also, ausführlich, genau, atmosphärisch dicht, beinahe in Zeitlupe. Das Urteil, das die „Frankfurter Rundschau“ einst über Fords Roman Eifersüchtig abgab - „Kein Wort ist zuviel, keine Episode zu ausufernd“-, vermag man angesichts dessen nicht zu wiederholen, und atemberaubend spannend sind die Ereignisse auch nicht. Dafür wird die Psychologie des Helden und seiner Partner wirklich tief ausgelotet und das tatsächliche Leben im heutigen Amerika weiträumig erfaßt. Es kommt vor, daß man beim Lesen stöhnt, wenn Ford niemals vergißt zu notieren, wenn Bascmobe pinkelt, tankt, einen Kaffee trinkt, von der Straße abbiegt, wenn der Autor bei Telefongesprächen (und es gibt viele) nicht nur jeden gesprochenen Satz wiedergibt, sondern auch die gedachten Sätze als Kontext hinzufügt und außerdem noch die gleichzeitigen Umweltbeobachtungen aus der Telefonzelle. Oder wenn er endlose Autofahrten und Spaziergänge schildert oder die Gedankenlandschaften in Bascombes schlaflosen Nächten. Aber wenn man auf der letzten Seite angekommen ist, ertappt man sich doch bei dem Wunsche, der Roman möchte weitergehen, weil man so tief in das Leben von Haddam und in das Wesen von Bascombe eingedrungen ist, daß man sich wohl fühlt und nur ungern Abschied nimmt. Man legt das Buch im Gefühl aus der Hand, daß die Lektüre lohnend war und angenehm: gute Literatur, berstend vor Realität, auf Wahrheit bedacht ganz und gar.

Die Handlung setzt fünf Jahre nach Ende des Sportreporters ein, die achtziger Jahre nähern sich also dem Ende. Am Wochenende vor dem Unabhängigkeitstag, dem größten amerikanischen Feiertag, will er einiges in Ordnung bringen, sowohl in seinem Job als Immobilienmakler als auch im Privaten. Er trennt sich von seiner Freundin Sally, weil ihm bewußt wird, daß er seine einstige Frau Ann, mit der er zwei Kinder hat, immer noch liebt. Ein Ausflug, den er mit seinem Sohn Paul macht, endet mit einem Unfall, bei dem Paul schwer verletzt wird.

Nicht nur Bascombe tritt uns unsicher, suchend, ein wenig verzweifelt an der so schwierigen Welt entgegen, auch all die vielen anderen Menschen, denen er begegnet (und Ford entwickelt jeweils bestechende und stimmige Psychogramme), scheinen ohne ausgeprägten Willen, aber voller Sehnsucht nach festen Grundsätzen und entschiedenen Handlungen. Den selbstbewußten, entschlußfreudigen, tatkräftigen, zukunftsbewußten Amerikaner finden wir in diesem Buche nicht. Das Leben ist anstrengend, unsicher und gefährlich. „Ich glaube, man muß ein Bulle sein, wenn man heutzutage 'n kleines Geschäft führen will“, meint Karl Bemish. Bascombe wird auf der Fahrt nach Connecticut Zeuge, wie Jugendliche in einem Motel einen Mord verüben, und das Schicksal von Claire, seiner jungen Kollegin und Geliebten, die vergewaltigt und grausam niedergemetzelt wurde, als sie eine Hausbesichtigung vorbereitete, verfolgt ihn ständig wie ein Alptraum.

Auch die Begeisterung für den Nationalfeiertag ist matt. Bascombe schaut sich unter den Leuten auf der Straße um: „Ihre Gesichter schienen zu sagen, daß dies eigentlich ein normaler Montag sein sollte und daß man eigentlich andere Dinge zu tun hätte.“ Der Festumzug scheint ihm ziel- und lustlos: „In meinen Augen fehlt nur noch eine Truppe Haremswächter auf Harleys“, denkt er ironisch. Ein Hauch Melancholie liegt über dieser Welt. „Wir möchten gern, daß die Gemeinde, die uns umgibt, etwas Festes, Kontinuierliches ist, wie ein Felsen, der uns Halt gibt. Aber wir wissen, daß sie das nicht ist. Sie ist alles andere als ein Felsen, sie ist eine Woge. Schon die Anstrengung, die Dinge so zu halten, wie sie sind, kann einen in die Tiefe ziehen.“

Bascombe, ein sympathischer Held in seinem Versuch, sich als anständiger Mensch zu bewähren, scheint von etwas Tiefem und Kompliziertem im Kern getroffen, wobei die Verletzung seines Sohnes, an der er sich die Schuld gibt, nur die Spitze des Eisberges ist. Der Ausklang ist dennoch versöhnlich. Allmählich scheint er aus seiner „Existenzperiode“ herauszuwachsen, seine instinktiv-abwehrende Selbstisolierung aufzugeben. Er steht an einem Wendepunkt. Er spürt die Möglichkeit besserer Tage an der Seite von Sally. Er hofft auf ein Zusammenraufen mit Paul, den er liebt und im Grunde versteht. Es ist ein vorsichtiger Optimismus, mit dem uns Ford entläßt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite