Eine Rezension von Hans-Rainer John

Über Lebenswerte und Narreteien

John Erpenbeck: Aufschwung
Roman.
Eulenspiegel Verlag, Berlin 1996, 224 S.

Günter Rexrodt und Elmar Pieroth werden sich über dieses Buch freuen, sofern sie davon Kenntnis erhalten. Diese Herren setzen seit je auf den Abbau der Arbeitslosigkeit vor allem durch ideenreiche Existenzgründer („100 000 Existenzgründer schaffen binnen kurzem Arbeitsplätze für 500 000 Arbeitslose“), und just da erstellt Erpenbeck sozusagen die Dokumentation über das Wirken eines solchen Musterknaben, der sich nicht nur selbst am Schopfe aus dem Sumpfe zieht, sondern binnen acht Monaten auch noch einer Seilschaft von mehr als 30 Leuten Lohn und Brot verschafft. Lukrativen Lohn sogar und Sekt und Kaviar dazu. Am Ende wird er zum Bundespräsidenten bestellt und für seine fabelhaften Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. „Die sozialistische Planwirtschaft, ihr gesellschaftlicher Kollektivismus und ihre gemeinschaftliche Verantwortlichkeit haben unternehmerische Phantasie verkümmern, unternehmerische Energie versiegen lassen“, führt der oberste BRD-Repräsentant dabei aus. „Um so beglückender ist es zu sehen, wie neue, phantasiereiche, kraftvolle Unternehmerpersönlichkeiten hervortreten und das ihre zum ostdeutschen Aufschwung, zur deutschen Aufwärtsentwicklung beitragen. Männer - und Frauen - wie diese braucht das Land!“

Das Buch erscheint im Eulenspiegel Verlag, aber leider ist nur die Pointe ironisch, sonst handelt der Autor sein kapitalistisches Märchen ziemlich ernsthaft, ohne Humor und Satire, ab. Mit unglaublicher Genauigkeit wird dargestellt, wie der abgwickelte, ins Abseits gestellte, sich mit Altersübergangsgeld nur schlecht über Wasser haltende Spitzenphilosoph der DDR Prof. Dr. Dr. Edgar Rothenburg, ehemals Akademie der Wissenschaften, Nationalpreisträger und international geachtete Kapazität, sich der „Moorhexe“ erinnert, die ihn in Kindheitstagen in die Kunst der Weissagung aus der Hand einführte. Vitalisiert durch eine ehemalige Studentin, die - jung und schön - seine geistige und körperliche Potenz wieder erwachen läßt, gibt er sein einsam-vergrämtes Rentner-Dasein auf. Er streift den Zigeuner-Schnick-Schnack vom Schicksal-aus-der-Hand-Lesen ab und umgibt die Chiromantie mit wissenschaftlichem Brimborium. (Erpenbeck flicht in den Romantext tatsächlich eine Übersicht über 43 Quellenwerke, die zwischen 1448 und 1989 entstanden sind, ein und rückt - auf andersfarbigem Papier - ein von Rothenburg verfaßtes „Brevier der Chiromantie“ im Umfang von 32 Druckseiten ein.)

Der weitere Fortgang? Nun, Rothenburg hat eine grandiose Marktlücke entdeckt, bei der es kaum Konkurrenz gibt. Die gegenwärtige Lebensunsicherheit bewirkt gesteigerte Nachfrage nach Zukunftsprognosen und Lebensberatung - bei den Erniedrigten und Beleidigten wie bei den Herrschenden und Prosperierenden, bei Gewinnern wie Verlierern der Einheit -, und so blüht die neue Dienstleistung schnell und profitabel auf.

Die rasch gegründete Tes Chiros GmbH erfährt explosionsartiges Wachstum, hochtechnisierte Filialen entstehen in Ost und West, ein Ausbildungsinstitut und eine Detektei werden angeschlossen, Wahrsageautomaten entwickelt und in Spielhöllen und Wartesälen aufgestellt usw. Kein Problem, dabei eine arbeitslose Graphikerin, einen ehemaligen Stasi-Offizier oder einen früheren Post-Vizeminister zu integrieren. Der erdrückende Wirtschaftserfolg bringt auch die Pogromhetze und Hexenjagd der Boulevardblätter bald zum Schweigen. Das letzte Wort spricht der Bundespräsident: Der Aufschwung Ost, in der Industrie weitgehend ausgeblieben, hier wird er geortet!

Welche Hilfe der zum Unternehmer Mutierte von Staats wegen erwarten kann, welche Schritte er im einzelnen zu gehen hat, welche Probleme zu bewältigen sind - das liest sich wie ein Lehrbuch, eine Anleitung zum Handeln fast, zumal der Autor der Chiromantie verfallen scheint; nirgends stellt er die okkulte Kunst oder ihren Mißbrauch in Frage, niemals stellt er Fehlprognosen und deren katastrophale Folgen dar. (Handlinienlesen als Weltbeglückung, das alle menschheitlichen Probleme löst? Philosophen aller Länder - laßt alle graue Theorie fahren dahin, denn grün ist des Lebens goldener Baum!) Die präzis dargestellte und wirklich interessante Geschichte der Tes Chiros GmbH wird natürlich in eine Romanhandlung eingebaut, in der Rothenburg das (moralische) Opfer des eigenen (materiellen) Erfolgs wird: Wer mit dem Teufel Suppe löffelt, muß über einen langen Löffel verfügen. Freilich ist diese Romanhandlung klischeehaft und ohne Tiefe.

„Du wirst bald sterben“, lautet der erste Satz des Buchs: Rothenburg liest das gedankenlos der 23 Jahre jüngeren Gerda Kienbaum aus der Hand. Da seine eigene erfolgsgewohnte Gattin den verarmten Frührentner zugunsten eines jüngeren und reichen Immobilienhändlers aus Zehlendorf verlassen hat, liegt es nahe, daß er sich mit Gerda liiert, die natürlich sexy und zugleich mütterlich, gescheit und tüchtig, erfahren und gewandt ist und zum eigentlichen Spiritus rector der neuen Firma wird. Der Zehlendorfer Immobilienhai macht sich jedoch bald aus dem Staub, die ehemalige Professorengattin sinkt von Stufe zu Stufe, verarmt, verfällt dem Alkohol, wird rasend eifersüchtig auf Gerda und fährt diese schließlich mit einem Porsche (!) tot. Rothenburg vermarktet am Ende im Interview mit der „Bild-Zeitung“ die tragische Story erfolgsträchtig und medienwirksam: Handlinienleser sagt eigener Frau den Tod voraus. Der letzte Satz des Buches lautet: „Er erkannte sich selbst nicht wieder.“

John Erpenbeck (54) ist der Sohn der Schriftstellerin Hedda Zinner (Dramen, Hörspiele, Romane, Gedichte) und des neben Herbert Ihering wohl wichtigsten DDR-Theaterkritikers und späteren Krimi-Autors Fritz Erpenbeck. Er selbst wählte die Naturwissenschaften als Betätigungsfeld, wurde Biophysiker, war jedoch immer auch schriftstellerisch tätig (1984 sowohl Professur als auch Heinrich-Heine-Preis). In diesem jüngsten Buch verarbeitet er Erinnerungen aus der Jugend im Einfamilienhaus in Niederschönhausen und im Sommerhaus am Scharmützelsee und Erlebnisse der Wendezeit. Das gibt dem Buch Atmosphäre und Authentizität. Die beispiellose Vernichtung ostdeutscher wissenschaftlicher Existenzen, ungeachtet ihrer internationalen Reputation („rigoroser als 1933 oder 1945“), und die Perspektivlosigkeit angesichts des Zusammenbruchs der sozialistischen Welt wird exakt dargestellt, bewegend, aber ohne nostalgische Züge. Die Frage, was für Leute das Land heute braucht und was für ein Aufschwung sich da vollzieht, erfährt durch die ernsthafte Geschichte eine ironische Antwort, die nun nicht ganz im Sinne von Rexrodt/Pieroth ausfällt. „Eine Geschichte, wie sie komischer das Leben nicht schreiben kann?“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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