Eine Rezension von Burga Kalinowski

Geböllt und geborchert - und dann zu sich gefunden

Karl Corino/Elisabeth Albertsen (Hrsg.):
„Nach zwanzig Seiten waren alle Helden tot.“
Erste Schreibversuche deutscher Schriftsteller.
Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf 1995, 383 S.

Wiedergefundenes, Altes, schon Vergessenes. Die Dinge von früher mit der leichten Staubschicht bringen uns zumeist zum Lächeln, wehmütig, nachsichtig, überrascht. Man trifft auf sich selbst, und weiß auf einmal ganz genau, warum den schwarzen Wolken nachgesehen wurde, und daß sich Birkenblätter in Herbst zu goldenen Segeln wandeln. Und daß man nach Indien wollte, unbedingt. Ach ja.

Elisabeth Albertsen und Karl Corino machten sich das Vergnügen und baten deutsche Schriftsteller um ihre ersten Schreibversuche. Von 60 Zeitgenossen kramte gut die Hälfte nach den Anfängen - auf Dachböden in verlegten Mappen in Koffern und Truhen, an die seit ewigen Zeiten keiner mehr gerührt hatte. Wer Lust hatte von den Autoren, konnte die Frühwerke kommentieren, einordnen, sich an Umstände erinnern und Befindlichkeiten erklären. Entstanden ist ein Buch, das nicht nur den berühmten Lesespaß (ein furchtbares Wort) bringt - durch die sehr persönlichen Sichten fliegt dem Leser eine Ahnung an von der Leichtigkeit des Schreibens, von der Schwierigkeit des Schreibens. Schreiben als Selbst-Verständnis und Ich-Erforschung, in Lebens-Erwartung und zur Welt-Entdeckung. Oder alles neu erfinden. Schreiben als Muß.

Das alles kommt Gottseidank nicht germanistisch - gravitätisch dahergestelzt. Mit den Informationen aus tatsächlich erster Hand zum inneren und äußeren Kontext der Arbeiten weiß man nun mehr über Günter Grass, Sarah Kirsch, Ernst Jandl, Adolf Muschg, Reiner Kunze, Friederike Mayröcker, Friedrich Christian Delius, Gabriele Wohmann, Erich Loest, Fritz Rudolf Fries, Uwe Kolbe, Peter Härtling, Günter Kunert, Kerstin Hensel, Hans Christoph Buch, Martin Walser, Heinz Czechowski, Hans Joachim Schädlich.

Im Anfang liegt meistens schon die Richtung - und so werden in den literarischen Debüts, trotz Vorbild-Folien („In unseren Texten hat es nur so geböllt, gewalsert, geborchert, gebennt, geeicht und gegrasst! stellt Peter Roos fest), schon die Umrisse sichtbar, die Töne hörbar, die das spätere Werk bestimmen.

Wie kommt eine(r) zum Schreiben, wie war das eigentlich? Diese Fragen beantworten fast alle Autoren mit ziemlicher Lust und großer Offenheit - verblüffend und einleuchtend einfach. Kurz und bündig formuliert wie z. B. bei Kerstin Hensel: „Am Anfang war die Langeweile. Mitte der 70er Jahre saß ich im Russischunterricht und schrieb Verslein über den Frühling und den Frieden. Ich schickte sie (...) an die Zeitung ‚Junge Welt‘. Dort gab es eine Wochenkolumne unter dem Titel ‚Poetensprechstunde‘, wo junge Lyrik vorgestellt und besprochen wurde. Der Chef der Kolumne nahm sich meiner Verse und meiner Person an und empfahl mir eine Vorstellung im Karl-Marx-Städter Zirkel Schreibender Arbeiter. Damit war ich registriert und von da an nicht mehr aus den Augen gelassen.“ Die Erinnerungen von Hans Christoph Buch werden zum Ausflug zu den großen Namen. „Im Herbst 1963 lud mich Hans Werner Richter zur Tagung der Gruppe 47 nach Saulgau ein. Meine Lesung in Saulgau - ein slapstickhafter Bericht über eine archäologische Ausgrabung, die buchstäblich im Sande verläuft - wurde von den Kritikern der Gruppe 47 gegensätzlich beurteilt: Marcel Reich-Ranicki legte seine schon damals kahle Stirn in bedenkliche Falten, Walter Jens schüttelte den Kopf, und Ernst Bloch, der kurz zuvor von Leipzig nach Tübingen übergesiedelt war, nannte mich einen Vertreter der spätbürgerlichen Dekadenz, die mit eisernem Besen ausgekehrt werden müsse, während Hans Mayer, Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass meinen Text wohlwollend-freundlich beurteilten.“ Die Feuertaufe war glimpflich überstanden.

Für den Anfang nicht ganz so erfolgreich geriet der Erstling von Fritz Rudolf Fries. Sein nie gedruckter Roman wurde von der Wirklichkeit inspiriert, die Offerte an einen Kölner Verlag keiner Antwort gewürdigt. Der nächste Versuch fand bei Rudolf Marx, dem Verleger der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig statt. Der erzählte dem jungen Romancier einige Anekdoten über seinen Freund Gottfried Benn und bot Fries das Nachwort zu einer Cervantes-Ausgabe an. Nur in der Erinnerung existiert der erste Roman von Günter Grass. Die Kaschuben - ein Epos sollte es sein, bestimmte der 13jährige Schreiber. Grass beschreibt die Lehren, die ihm dieser erste Versuch brachte: „Gleich zu Beginn der Niederschrift unterlief mir ein folgenschwerer Fehler. (...) Blut floß im Übermaß. Mit anderen Worten: Nach 20 Seiten Sütterlin-Prosa im Kontobuch meiner Mutter waren alle Helden tot, die Geschichte aus.“ Seitdem gehe er fürsorglicher mit seinen Figuren um. Gestorben werde allenfalls gegen Schluß.

Das erste Gedicht von Friedrich Christian Delius entstand aus einem Gefühlsstau heraus. Delius (heute) über Delius (16 Jahre): „Er war hingerissen, daß Eichendorff etwas von seinen Gefühlen formuliert hatte, er beneidete den Dichter um die Fähigkeit, mit wenigen Worten seinen Seelenzustand zu erfassen. Und doch wuchs ein winziges Unbehagen (...) etwas fehlte, für das er selbst noch viel weniger Worte hatte als Eichendorff.

Kurze Zeit darauf, Ende 1959, schrieb ich mein erstes Gedicht.“ Dieses Gedicht ist längst vergessen, ebenso fast alle anderen ersten Versuche. Zudem hat er sie 1965 in einem Berliner Kachelofen erbarmungslos verbrannt. Geblieben ist „etwas zu formulieren, was andere nicht vorformuliert hatten, oder was ich bei anderen nicht entdeckt hatte.“ Diese Entdeckung „verschaffte ein unbekanntes Glücksgefühl. Auch wenn ich gewiß nichts literarisch Neues erfand, ich fand doch etwas Neues von mir, und vielleicht erfand ich sogar mich selbst im Schreiben“.

So war das also: die großen Erwartungen und die vorsichtigen Einsichten. Der 14jährige Kurt Bartsch rechnete fest mit dem Nobelpreis für einen Vierzeiler, Heinz Czechowski vergaß dagegen ganz schnell den „lyrischen Schrott“ bis auf eine, für ihn noch heute gültige Zeile - „Sanft wie Tiere gehen die Berge neben dem Fluß“ drückt seine Sehnsucht nach Dresden aus. Und einmal beim Erinnern kommt auch er ins Nachdenken über sein Woher und Wohin und betrachtet unter dem Aspekt der „Welthaltigkeit“ die paradoxe Situation von DDR-Autoren: „Heute begreife ich diesen Begriff auch als einen des Anspruchs, eines Anspruchs, den einzulösen uns freilich vorenthalten wurde. Er entsprang vermutlich einem Aktivismus des Aufbruchs (...).“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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