Eine Rezension von Erich Buchholzer

Eine Rechnung ohne die Lobby

Norman van Scherpenberg: Wie Deutschland die Zukunft gewann
Eine finanzpolitische Vision.
Ullstein Verlag, Berlin 1996, 384 S.

Aus zwei Gründen ist dieses Buch sehr bemerkenswert. Erstens zeigt es beispielhaft, wie über Finanzpolitik im allgemeinen und Steuerrecht im besonderen auch für interessierte Laien exakt, verständlich, sogar unterhaltsam geschrieben werden kann. Sachbücher dieser Machart sind keine Raritäten, aber insgesamt nicht eben üppig im Angebot. Die „Vision“ van Scherpenbergs bezieht ihre Qualität wohl besonders daraus, daß der Autor kein angelesenes, sondern erlerntes und beherrschtes Wissen vermarktet. Der promovierte Volkswirt hat viele Jahre im Finanzressort eines Konzerns und als Staatssekretär im niedersächsischen Finanzministerium gearbeitet.

Zweitens läßt der Band erkennen, wohin eine „große Finanzreform“ in der Bundesrepublik gehen könnte, nach Ansicht des Autors gehen sollte. Das ist selbstverständlich cum granu salis zu verstehen, denn es handelt sich um eine in das Jahr 2015 verlegte Handlung, es darf also alles ganz anders kommen. Derzeit wird ja im Grunde nur von einer Reform der Lohn- und Einkommensteuer geredet, die für 1998/99 angedacht ist, aber noch keineswegs konkret - die Katze steckt noch im Sack, und ihre Krallen sieht man nicht. Entgegen den Intentionen des Autors, der für weitreichende Veränderungen plädiert, von der Aufkommensstruktur der Steuern bis hin zu Krankenversicherung und Kommunalfinanzen, ist die gegenwärtige Bonner Administration offenbar weder bereit, den finanzpolitischen und steuerrechtlichen Dschungel zu lichten noch eine große Reform auf den Weg zu bringen. Die Besitzstände sind festgezurrt, die Strukturen verkrustet. Letztlich dürfte, nachdem die Berge gekreißt haben, eine fette Maus geboren werden, sprich Senkung der Höchststeuersätze unter die magische Grenze von 40 Prozent, keine Reform, sondern Bonus für eine Minderheit.

Scherpenberg legt seine durchaus konkreten Vorstellungen in einem fingierten Reisebericht dar. Der US-Finanzwissenschaftler Dr. Sato besucht im Auftrag einer großen Stiftung seines Landes verschiedene Städte und Institutionen in Deutschland. Er soll feststellen, mit welchen Maßnahmen und Ergebnissen hier Ende der 90er Jahre die öffentlichen Finanzen in Ordnung gebracht worden sind. Dies wird von Etappe zu Etappe der Reise nachvollzogen. Der Denkansatz des Autors ist ebenso logisch wie bestechend: Einzelne, voneinander isoliert durchgeführte und begrenzte Veränderungen - etwa lediglich im Bereich der direkten und indirekten Steuern - bringen nur unvollkommene, per saldo überhaupt keine Resultate. Durch die „große Reform“aber wird, wie der Autor seinen Dr. Sato - nach entsprechender Belehrung durch zahlreiche deutsche Gesprächspartner - erkennen läßt, schließlich „mit den Finanzen sehr viel mehr in Ordnung gekommen sein als lediglich die öffentlichen Kassen“. Überall, in den verschiedensten Bereichen bis hin zu den Hochschulen, wurden die inneren Strukturen gewandelt, und zwar durch „eine Finanzierung, die die richtigen Anreize zur Leistung schafft“. Effizienz als Ziel, Geld als Mittel zum Zweck, die inzwischen zum Euro gewandelte Mark hat's wieder einmal möglich gemacht.

Ein finanzpolitisch erzeugtes zweites Wirtschaftswunder.

Man kann beispielsweise darüber streiten, ob die Utopie, spezialisierte zentrale Finanzämter zu schaffen (eines für Arbeitnehmerbesteuerung, Kindergeld und Rentenversicherungsbeiträge, ein zweites für neu einzuführende Umweltsteuern, ein drittes für Unternehmensbesteuerung), allein schon wegen der Abkehr vom Territorialprinzip nicht mehr als eine Seifenblase sein kann. Aber eine Utopie darf eben gedacht werden, sie kann Absage an ein immobil gewordenes Staatsgebilde sein. Und wenn derzeit nun „schon“ zaghaft über die Unsinnigkeit der Mini-Länder und Stadtstaaten als Ausgeburten des Föderalprinzips diskutiert wird, genauer: kurzzeitig diskutiert worden ist, sollte es auch möglich sein, in der Finanzverwaltung wenigstens gedanklich ein paar heilige Kühe zu schlachten. So weit, so gut.

Um aber zum Kern der Zukunftsgedanken des Dr. van Scherpenberg vorzustoßen, empfiehlt sich die Frage nach ihrem Anliegen. Es ist durchaus von hier und heute. Wo auch immer man bei der Lektüre dieses Buches verharrt, ist der Wunsch des Autors nach optimalen, bisher noch nicht erreichten Verwertungsbedingungen des Kapitals stets Vater seiner Gedanken. Kaum verwunderlich, hat van Scherpenberg doch 17 Jahre in verantwortlichen Positionen der BASF gearbeitet und zwischenzeitlich als Bundesgeschäftsführer des auf Publizität wenig bedachten Wirtschaftsrates der CDU. Das spricht neben Sachkunde auch für den richtigen festen Standpunkt. 1990 schließlich wurde er Direktor der Berliner Treuhandanstalt, dann Generalbevollmächtigter von deren Präsidentin, und Frau Breuel nahm ihn dann als ihren Stellvertreter ins Generalkommissariat der EXPO 2000 mit, eine mehr kontemplative Phase vielleicht, gut für ein originelles Buch.

Hier und heute: Die „Vision“ liegt durchaus im Trend. Änderungen in der Krankenversicherung beispielsweise, die bereits ins Gespräch gebracht worden sind, werden für die Zeit bis 2015 prognostiziert.

Insbesondere, so liest man, wird es für alle Versicherten „vernünftige Tarife mit Selbstgehalt und Schadensfreiheitsrabatt“ geben. Kein Mißverständnis möglich: Die Krankenversicherung wird hier sogar terminologisch der Autoversicherung gleichgestellt. Man ist zu einem bestimmten Prozentsatz am „Schadensfall“ - etwa den Kosten einer Behandlung bei Grippe oder Sklerose oder Krebs - beteiligt, und die Versicherung holt sich, so ist zu lesen, den vereinbarten „Selbstbehalt“ vom Patienten flugs zurück (am besten wohl, man erteilt ihr Abbuchungsvollmacht), oder man verkneift sich den Arztbesuch und rückt so eine Schadensfreiheitsklasse höher.

Auch diese Folge der großen Finanzreform à la Scherpenberg kommt uns schon bekannt vor: Die staatlichen Ausgaben, „vor allem in den Bereichen Bildungswesen, Wohnungsbauförderung und Sozialbudget“, sind „stärker zurückgegangen als die Einnahmen“ des Fiskus. Aus diesem Überschuß finanziert der Staat eine Tilgung seiner Schulden und wird so als Anleihegeber in aller Welt immer begehrter. Dies wiederum verbessert den Kurs der Eurowährung (die, wie wir mutmaßen dürfen, deutsch dominiert ist) und verschlechtert die Position der Gewerkschaften. Da werden, läßt van Scherpenberg verkünden, „nur Lohnabschlüsse helfen, die noch moderater sind als bisher“.

Die Bandbreite der Zukunftsideen reicht bis zu einem scheinbar skurrilen Exkurs in die Beschäftigungspolitik für Landstreicher. Da wird unterhaltsam geschildert, wie ein Tippelbruder von Oktober bis April als Faktotum in einem Bezirks-Arbeitsamt angestellt ist. In der kalten Jahreszeit werkelt er dort für einen niedrigen Helferlohn und erscheint damit in der Beschäftigten-Statistik. Im Sommer geht er auf Walz, beansprucht keine Unterstützung und taucht nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Ein nettes kleines Beispiel schonender Eliminierung sozialen Außenseitertums. Die Utopie des phantasiereichen Autors verzichtet allerdings auf realistische Ausgangspunkte wie etwa die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft mit ihren erschreckenden sozialen Folgen.

Irrtum Nr. 1 des Autors also: Mit einer wie breit auch immer angelegten finanzpolitischen Reform kann man keine gesellschaftlichen Gebrechen heilen, die sozialökonomisch verwurzelt sind.

Seine Utopie nähert sich, ohne daß dies wohl beabsichtigt ist, der Bonner untauglichen „Strategie“, an Steuerschrauben zu fummeln, um die Staatsfinanzen zu sanieren. Irrtum Nr. 2: Scherpenberg macht seine Rechnung ohne die Lobby. Er glaubt, auf die Darstellung des Kampfes verzichten zu können, den es kosten würde, eine grundlegende Veränderung des Status quo im Steuerrecht anzugehen, und hofft vielleicht, der Leser werde diesen Mangel nicht bemerken. Auch eine Utopie sollte nicht von der Mutmaßung ausgehen, zementierte Verhältnisse ließen sich wie von Zauberhand ändern, geschweige denn umkrempeln. Wohlweislich fragt Dr. Sato nicht danach, auf welche Weise denn zugleich mit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin dieser Filz beseitigt worden ist: „Tausende von Interessenvertretern“ haben „längst ein feingesponnenes Einflußgeflecht über das Bonner Regierungsviertel gezogen. Bei jedem Streichungsvorschlag (Partikularinteressen, sprich Steuerprivilegien und andere Finanzvorteile wie Subventionen betreffend - Erich Buchholzer) werden diese Lobbyisten Statistiken zur Hand haben, nach denen der jeweils sie betreffende Plan besonders viel Arbeitsplätze gefährde, damit die Steuereinnahmen mindere und darum abzulehnen sei“ („Berliner Zeitung“, 6. 8. 1996).

Zum Schluß läßt der Autor seinen fingierten Dr. Sato fragen, was nun „die Masse der Bürger“ von der großen Finanzreform hält. Das Meinungsbild sei „merkwürdig diffus“, erfährt er von deutscher Seite, es reiche von Zustimmung bis Gleichgültigkeit. Interessanter sei die Antwort auf die Frage nach der Zufriedenheit mit den „allgemeinen Verhältnissen“ im Lande. Vor zwanzig Jahren „hatten wir da einen Tiefstand, der teilweise, besonders in den damals neuen Bundesländern, nur zwanzig Prozent positive Antworten erreichte; aber auch im Westen war das nicht viel besser. Heute (also im Jahr 2015 - Erich Buchholzer) liegen die positiven Antworten bei neunzig Prozent, im Osten eher noch etwas höher als im Westen. Fast das ganze Volk ist der Meinung, daß man mit den Verhältnissen im eigenen Land zufrieden sein kann.“

Wir heißen euch hoffen: In zwanzig Jahren ist alles vorbei. Alles wird gut. Die große Finanzreform wird es richten. Viel, viel besser, als Marktwirtschaft und Treuhand den Heimgang der neuen Bundesländer in die alte Bundesrepublik gerichtet haben. Diesmal wird es wirklich blühende Landschaften geben. Vertrauen wir auf Norman van Scherpenberg, der sie sieht und beschreibt. Und wenn - wider Erwarten - seine Vision der künftigen Wirklichkeit nicht standhält, können wir sagen: Der Mann hat das Beste gewollt. Vielleicht saß ihm nur der Schalk ein wenig im Nacken.

Ein Jules Verne der Finanzpolitik ist van Scherpenberg also kaum. Immerhin leistet er einen Beitrag zum Thema Reformen, die es in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, und macht ebenso ungewollt darauf aufmerksam, welche Chancen nach 1990 verspielt worden sind, indem die Kohl-Administration am überholten Überkommenen festhielt. Wahrlich, man hätte der DDR etwas besseres überstülpen sollen als Tausende alte Hüte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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