Eine Rezension von Manfred Lemaire

Mit Varianten zu einem Ziel

Adrian Ottnad/Stefanie Wahl/Reinhard Grünewald:
Risse im Fundament
Die deutsche Wirtschaft bis 2005.
Springer-Verlag, Berlin 1995, 220 S.

Drei Autoren, dem CDU-nahen Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn e. V. verpflichtet, untersuchen in Varianten die mögliche wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands bis zum Jahr 2005. Dabei geben sie einer ihrer Ansicht nach wahrscheinlichen mittelprächtigen Entwicklung ausführlich den Vorzug. Zwei Alternativen, eine ungünstigere und eine günstigere, werden kurz behandelt. Der Ausarbeitung liegen als jüngste Wirtschaftsdaten die einschlägigen Angaben für 1994 zugrunde, ein Teil der Daten und die Mehrzahl der Quellen sind älteren Datums. Das Risiko, dem eine solche Vorschau unterliegt, wird vollends deutlich, wenn man sie nach Jahr und Tag in Augenschein nimmt. Ein Teil der Ansätze und Prämissen ist bereits als verfehlt erkennbar. Auch „der gegenwärtige Befund“, nämlich „alles in allem zufriedenstellend“, den Adrian Ottnad als Hauptautor attestiert, erweist sich ex nunc als geschönt.

Zum Beispiel: Laut Ottnad „geht der Aufbau Ost zügig voran“. Im Oktober 1996 aber teilte der Bonner Wirtschaftsminister offiziell mit: Die „Sonderkonjunktur Ost ist vorbei“. Im I. Quartal 1996 sei die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Ländern rückläufig gewesen und im II. Quartal nur ein Wachstum von 2,6 Prozent erreicht worden. Diese angebliche Sonderkonjunktur allerdings, so muß angemerkt werden, bestand darin, daß während relativ kurzer Zeit ein Zuwachs um sieben Prozent erreicht wurde, was dem äußerst niedrigen Ausgangsniveau nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft im Gefolge der Währungsunion geschuldet war.

Da in Ostdeutschland eine nennenswerte Industrie fehlt und der Konsum zu mehr als 90 Prozent mit Waren bestritten wird, die in Westdeutschland hergestellt werden, ist diese Voraussage verblüffend: In den zehn Jahren von 1994 bis 2005 werde Ostdeutschland einen Zuwachs des Bruttoinlandprodukts (BIP) erreichen, der „etwa doppelt so hoch“ ausfällt wie in Westdeutschland. Und noch eine erstaunliche Rechnung wird aufgemacht. In den zehn Jahren von 1990 bis 2000 werde die relative Wachstumsrate des BIP für Ostdeutschland fünfmal so hoch sein wie in Japan. Da wird man an jenen verbürgten Ausspruch des DDR-Wirtschaftslenkers Günter Mittag erinnert, der seinem Generalsekretär Honecker einst sagte: „Erich, ich mache dir aus der DDR ein zweites Japan!“ Unter neuem Vorzeichen soll dies offenbar noch übertroffen werden.

Andererseits ist in dem Buch Bedauern darüber erkennbar, daß die deutsche Wirtschaftsentwicklung durch mangelhafte Leistung Ostdeutschlands verschlechtert wird: „Legt man die Annahme zugrunde, daß das Wirtschaftswachstum in Westdeutschland ohne Wiedervereinigung weiter dem alten Trend gefolgt wäre, dann hätte dort das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bereits im Jahr 1999 dieselbe Größenordnung erreicht, die nun für Gesamtdeutschland erst 2005 erwartet werden kann.“

Wo die Autoren sich weniger gewagt mit der Vergangenheit beschäftigen und in die Zukunft begeben, sondern bei gesicherten Tatsachen und langfristig wirkenden Faktoren bleiben, sind ihre Feststellungen akzeptabel, weil seriös. Dies gilt beispielsweise für die von Stefanie Wahl untersuchte internationale Wettbewerbsfähigkeit des Humankapitals (womit die arbeitende Bevölkerung gemeint ist). Sie sei abnehmend. Hingewiesen wird speziell auf strukturelle Mängel in der Qualifikation sowie eine Unterbewertung der betrieblichen und eine Überbewertung der akademischen Ausbildung, wobei viele Studenten für ihr Studium ungeeignet seien und die Zahl der Studienabbrüche ständig zunehme.

Herbe Kritik gibt es an der „Vernachlässigung von Eliten“, der Leute mit überdurchschnittlichem Maß an Phantasie, Kreativität und Können. Gründe hierfür seien die unzureichende Ausbildung besonders begabter junger Menschen sowie mangelhaftes Auswahlverfahren für Spitzenpositionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Beklagt werden als Folgen dieses Versagens ein abnehmender Vorsprung im internationalen Wettbewerb, „die zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Verkrustung sowie die wachsende Orientierungslosigkeit der Bevölkerung“. Leider wird in diesem Zusammenhang die Möglichkeit nicht genutzt, deutlicher zu werden, tiefer zu loten, wie dies US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler tun, die dem eigenen System einen Spiegel vorhalten.

Hier sei nur verwiesen auf die schöngerechnete Arbeitsmarktprognose der deutschen Autoren und die Offenheit, mit der ein Lester Thurow in seinem Buch Die Zukunft des Kapitalismus (1996 bei Metropolitan Verlag, Original im selben Jahr bei Morrow, New York) das Problem behandelt. Die zweckoptimistische Prognose der drei Verfasser: Es „ergibt sich für 2005 eine gesamtdeutsche Arbeitslosenquote von etwa 7,5 v. H.“, das sind „knapp 2 Prozentpunkte weniger als 1994“. Thurow dagegen: „Vor zwei Jahrzehnten war die Arbeitslosenquote in Europa noch halb so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Heute ist sie mehr als doppelt so hoch. Wenn keine Veränderungen eintreten, wird diese Kluft in den nächsten zwanzig Jahren weiter wachsen. Seit 25 Jahren hat es in Europa insgesamt keinen Beschäftigungszuwachs gegeben. Wenn das auch in den nächsten 25 Jahren so bleibt, wird das System auseinanderbrechen.“

Die Vorschau auf das Jahr 2005 mündet allerdings in eine Forderung, deren Offenheit bemerkenswert ist: „grundlegende Verhaltensänderungen“ der deutschen Bevölkerung, damit die Risse im Fundament der deutschen Wirtschaft nicht zunehmen. „Gesellschaftliches Leitbild ist dabei das selbständige, eigenverantwortliche Handeln.“ Genauer: „Der einzelne bedarf aufgrund seines gestiegenen Bildungs-, Informations-, Einkommens- und Vermögensniveaus abnehmend staatlicher Leistungen.“ Noch genauer: „Vordringlich ist ein neues Sozialstaatsverständnis.“ Ganz genau: „Zum Beispiel können viele die ersten drei Monate der Arbeitslosigkeit oder die ersten Tage krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit aus eigener Kraft überbrücken.“ Und: „Die gesetzliche Alterssicherung kann auf eine Grundsicherung begrenzt, für darüber hinausgehende Ansprüche privat vorgesorgt werden.“

In diesen und weiteren Forderungen auf gleicher Linie ist das eigentliche Anliegen des Buches zu erkennen. Es enthält übrigens kein Wort zur fortschreitenden sozialen Polarisierung der deutschen Bevölkerung, dafür aber die Wertung, daß „von Ostdeutschlands Bevölkerung bisher wenig dynamische und innovative Impulse für die deutsche Wirtschaft ausgingen“, und die Kunde, für die Ostdeutschen sei ein „beispielloser Wohlstandszuwachs“ erfolgt. Realitätsnähe kann man dies kaum nennen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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