Eine Rezension von Bernd Heimberger

An alle, alle, alle!

Olav Münzberg, Bernd Erich Wöhrle (Hrsg.):
Literatur vor Ort. Neue Gesellschaft für Literatur
Argon Verlag, Berlin 1995, 319 S.

Arn Aske u. a. (Hrsg.): Die Wüsten Leben
Neue Gesellschaft für Literatur, Berlin 1996, 185 S.

„Königliche Hoheit gegen schwarze Spitzenunterwäsche war ein unfairer Kampf“, heißt es in einem Text, den die NGL verbreitet. Womit zunächst einmal klar ist, daß NGL keine Abkürzung für ein Unternehmen der Nahrungs- und Genußmittelbranche ist oder der sie vertretenden Gewerkschaft. Womit des weiteren klar ist, daß der Text nicht in irgendeiner penetranten Propagandabroschüre zu finden ist. NGL steht für Neue Gesellschaft für Literatur. Also doch für einen Lebensmittel-Verein? Warum nicht! Sofern man sich zur Literatur als geistigem Lebensmittel bekennt. Das vorausgesetzt, gibt's keinen Grund, die NGL geringschätzig als eine Hausfrauenvereinigung abzutun, die in der Küche ihr literarisches Süppchen kocht. Wer ein bißchen was vom Leben der Literaten weiß, weiß einiges von der Bedeutung der Küche für die Literatur, siehe Günter Grass oder auch Hera Lind zum Beispiel. Ob Ingeborg Drewitz, die soziale Seele nicht nur der Berliner Literaten, den Gedanken zur Gründung der NGL in der Küche ausbrütete, ist nicht überliefert. Das wäre, wenn, Stoff für die Legende! Die Wahrheit und Wirklichkeit ist, daß viele willige, engagierte, freudige Helfer das Gründungsprotokoll der am 27. April 1973 in Berlin-West etablierten Neuen Gesellschaft für Literatur unterschrieben. Ein Name fehlte. Der von Ingeborg Drewitz. Am Gründungstag war sie andernorts verpflichtet. Den Initiativen, der Verläßlichkeit der Schriftstellerin ist es zu verdanken, daß der Verein nicht sofort wieder in der Versenkung verschwand. Bitteren Wechselfällen zum Trotz wuchs und wuchs die NGL. Auch deshalb, weil sie sich nicht als ein Zirkel selbstbeschäftigter, selbstgefälliger Schreiber verstand. Neben den Autoren war Platz für die Leser, für die Verleger, Buchhändler und Bibliothekare, für die zuhörenden, neugierigen, suchenden Literaturfreunde. Die Gesellschaft in der Gesellschaft war und ist für die Gesellschaft da. So solide die demokratische Struktur, den Stand der NGL in der Öffentlichkeit hat sie nicht begünstigt.

Obwohl mit nahezu 700 Mitgliedern die stärkste Literaturgemeinschaft der Hauptstadt, obwohl in elf Arbeitsgruppen aktiv, obwohl ständig am gesamten Programm der Lesungen in der Stadt beteiligt, obwohl maßgeblich verantwortlich für die jährlichen Veranstaltungen „Biennale kleinerer Sprachen“, „Berliner Hörspieltage“, „Berliner Märchentage“, muß sich die neue Gesellschaft für Literatur immer neu erklären, vorstellen, bekanntmachen. Gescheiterweise geschieht das nun auch mit einem Buch. Bedauerlicherweise haben weder der Titel „Literatur vor Ort“ noch die Aufmachung etwas, was die Leser locken könnte.

Niemand sollte sich schrecken lassen! Es kommt nicht auf Aufmachung und Ausführung an. Der Inhalt hält mehr, als das Äußere verspricht. Der „Historische Teil“ des Buches, herausgegeben von Olav Münzberg und Bernd Erich Wöhrle, hat es in sich. Spannungen, Schwierigkeiten, Schädigungen nicht samt und sonders unter den Teppich kehrend, werden in einer Serie von Beiträgen Vermögen und Unvermögen, Mißerfolge und Erfolge der Gesellschaft in den Jahren und Jahrzehnten geschildert, referiert, dargelegt, bilanziert. Ein wenig Selbstbeweihräucherung gehört dazu und ist erträglich, solange sich nicht der schlechte Geruch der Vereinsmeierei verbreitet. Auch Außenstehende werden nicht ins Gähnen geraten, wenn sie in der Chronik der Neuen Gesellschaft für Literatur blättern. Müde hingegen machen eher einige Texte, die in die umfangreiche „Literarische Anthologie“ aufgenommen wurden, die das schöne Entree des Bandes „Literatur vor Ort“ sein soll. Viele Namen tauchen auf, die schon lange bekannt sind. Und alles Mitglieder der NGL! Die ist wahrlich keine Verwaltungsgemeinschaft für Literaten und Freunde der Literatur. Nichts kann die NGL besser popularisieren als ihre Publikationen. Die jüngste Produktion heißt „Die Wüsten Leben“, aus der auch der eingangs zitierte Satz stammt. Unveröffentlichte, unverhüllte „Erotische Geschichten“ werden dem Leser ungeniert vor Augen geführt. Wen die Geschichten langweilen, der ist ein Langweiler. Wen die Geschichten ermüden, der ist selbst ein Müder. Munter ist nicht nur das Reden über Erotik in der neuen Gesellschaft für Literatur.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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