Eine Rezension von Ursula Reinhold

... im Ergebnis - Selbstzerstörung

Till Meyer: Staatsfeind
Erinnerungen.
Spiegel-Buchverlag, Hoffmann und Campe, Hamburg 1996, 473 S.

Das Buch vermittelt aufschlußreiche Einblicke in die innere Zeitgeschichte der Bundesrepublik, ihrer demokratischen Oppositionsbewegung seit den 60er Jahren und vor allem ihrer Fundamentalopposition in den 70er Jahren, einschließlich des Reagierens der Staatsmacht auf sie. Till Meyer war Mitbegründer der Bewegung 2. Juni, die im Februar 1975 die Entführung von Peter Lorenz, dem damaligen Vorsitzenden der Westberliner CDU organisiert und durchgeführt hatte. Er war dreizehn Jahre lang z. T. unter Sonderbedingungen inhaftiert, dennoch gelang ihm ein spektakulärer Ausbruch aus dem Hochsicherheitstrakt in Moabit. Nach seiner Haftverbüßung 1986 war er bis 1992 als Redakteur bei der „taz“ tätig, wo er vor allem wichtige Recherchen über die Tendenz des Sicherheitsapparates geliefert hat, außerhalb öffentlicher Kontrolle zu geraten. Er arbeitete seit 1986 bis zum Ende der DDR mit dem MfS zusammen, verstand seine Arbeit als Beitrag zur Neutralisierung der noch immer tätigen Terroristen. 1992 bekannte er sich zu dieser Zusammenarbeit öffentlich. Meyers Erinnerungen berühren verschiedene Ebenen öffentlichen und privaten Lebens und ermöglichen durch ihre Struktur Einblicke in die sozial-psychologische Bedingtheit von Oppositionshaltungen und deren öffentliche Wirkung. Der Bericht wechselt die zeitlichen Ebenen, beginnt 1975 mit der Lorenz-Entführung bis zur Inhaftierung Meyers, um dann seine Sozialisierung im Westberlin der 50er Jahre zu schildern. Als jüngstes von sechs Kindern einer Kriegerwitwe hat er Entbehrung und soziale Degradation erlebt, kam aber auch schnell hinter die Vorzüge des Wechselkurses, der es ihm ermöglichte, die wenigen Westmärker im Osten zu vervielfachen und in Bockwürsten anzulegen. Ohne Beruf und Bildung blieb nur schwerste Knochenarbeit. Die Perspektivlosigkeit der eigenen Situation erzwang Aufbegehren und ruhelose Suche. Ein Schauspieler-Onkel, der nach Ostberlin übergesiedelt war, hatte zuvor schon durch Bücher und Überzeugung gesellschaftliche Lösungsvorschläge für nicht nur die eigene Misere in Sicht gebracht. Es war dem politisierenden Aufbruch jener Jahre geschuldet, daß er in die Diskussionen und Aktionen der APO geriet, am Ostermarsch, an den Aktionen gegen Notstandsgesetze und den Vietnam-Krieg teilnahm und sich dabei nachhaltig politisierte.

Neben der RAF war die Bewegung des 2. Juni Teil der in den siebziger Jahren wirkenden terroristischen Fundamentalopposition, die mit spektakulären Gewaltaktionen die Staatsmacht jener Jahre herausforderte. Es war kein Zufall, daß die Gruppe sich nach dem Tag benannte, an dem ein Westberliner Polizist den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, dem Beginn staatlichen Gewalteinsatzes gegen die Opposition. Mit Bezug auf diesen Tag wollte man die eigenen Aktionen als Form der Notwehr apostrophieren. Meyers Bericht schildert den Weg der außerparlamentarischen Opposition in den 60er Jahren, in der eine breite gesellschaftliche Basis die autoritären Strukturen der damaligen Bundesrepublik in Frage stellte und durch soziale, politische und geistige Herausforderungen einen Demokratisierungsschub einleitete, der politisch im Wechsel von der CDU zur SPD/FDP-Koalition und in einer neuen Ostpolitik seinen Ausdruck fand. Meyer schildert aus der Sicht des Beteiligten die Aufspaltung dieser Oppositionsbewegung, die Strategiediskussionen in den extremen linken Gruppen, die Ausgliederung ihres militanten Flügels, deren Angehörige schließlich zu terroristischen Aktionen kamen. Die Folge der Illusionen über die Möglichkeiten mililtärischen Kampfes in der hochorganisierten Gesellschaft war Blindheit für das politisch Machbare, eine völlige gesellschaftliche Isolation und Zerspaltung der linken Bewegung. Im Ergebnis stand die Selbstzerstörung und die Legitimation, die man dem staatlichen Sicherheitsapparat zu seiner Perfektionierung verschafft hatte. Till Meyer berichtet aus der Perspektive desjenigen, der das Illusionäre von Konzepten der Stadtguerillas geteilt, durchlebt und schließlich deren Sinnlosigkeit begriffen hat. Dabei wird die Eigenlogik solcher Ausgliederung plastisch, die ungeachtet ihrer politischen Motivation ins kriminelle Abseits führt. Er rekonstruiert die damalige Motiv-, Gedanken- und Gefühlswelt möglichst authentisch, berichtet über sie mit kritisch distanziertem Abstand, ohne allerdings die aus dem Leiden an Ungerechtigkeit, Unrecht und Gewalt geborenen Antriebe des Handelns preiszugeben. Meyers Erinnerungen verbinden Einblicke in die sozial-psychologische Bedingtheit individuellen Handelns, mit den aus ihnen geborenen zeitbedingten Formen politischen Handelns und ihren brisanten öffentlichen Folgen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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