Eine Rezension von Liddi Jeschke

Ein Buch zur Förderung der Kräfte des menschlichen
Herzens oder: Wie lernen wir das emotionale Alphabet?

Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese.
Carl Hanser, München 1996, 424 S.

Ein Jahrhundert, ein Jahrtausend gar, geht zu Ende ... Zeit und Gelegenheit, Bilanzen vorzulegen, Erfahrungen kritisch zu bedenken und - wenn nötig und möglich - Vorschläge und Konzepte anzubieten für Zukunftsaufgaben. Daniel Goleman läßt keinen Zweifel zu, daß es „nötig“ ist, Vorschläge zur Meisterung unserer Zukunft zu entwickeln. Inwieweit sein Konzept eine „mögliche“ Lösung für die immer drängender und also dringender werdenden Probleme bietet, darf der Leser selbstverständlich „beurteilen“: entschieden - so fürchte ich - wird diese Frage gewiß erst im nächsten Jahrhundert. Übrigens: Nicht auszudenken, wenn die Frage negativ entschieden würde, wenn Golemans Konzept keine Beachtung fände - unser aller Zukunft würde sich noch mehr verdunkeln.

Der Autor schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe: „Das Buch Emotionale Intelligenz verdankt sein Entstehen meiner unmittelbaren Erfahrung einer Krise in der amerikanischen Zivilisation, mit erschreckender Zunahme der Gewaltverbrechen, der Selbstmorde, des Drogenmißbrauch und anderer Indikatoren für emotionales Elend, besonders unter der amerikanischen Jugend.“ Goleman bleibt nicht bei dieser bedrückenden, ja erschreckenden Diagnose stehen: „Zur Behandlung dieser gesellschaftlichen Krankheit scheint es mir unerläßlich, der emotionalen und sozialen Kompetenz unserer Kinder und unserer selbst größere Aufmerksamkeit zuzuwenden und die Kräfte und Fähigkeiten des menschlichen Herzens energischer zu fördern.“ Damit sind das wesentlichste Motiv und die wichtigste Intention des Werkes angesprochen: Wie der Autor selbst, sollte niemand die Augen verschließen vor den Gebrechen der menschlichen Gesellschaft, die sich in wachsenden Verbrechen ja nur ihren charakteristischen Ausdruck und ihr soziales Ventil suchen; ebenso sollte jeder mittun bei der Überwindung von seelischen Nöten und emotionaler Verelendung.

Daß uns die vom Autor diagnostizierten krassen Krisenphänomene aus den Vereinigten Staaten in Deutschland noch in deutlich abgeschwächter Form begegnen, ist allerdings ein schwacher Trost. Die Botschaft des Buches Emotionale Intelligenz haben wir nicht minder nötig. Im Gegenteil. Weil „Vorbeugen“ besser ist als „Heilen“, haben wir dieses Werk sogar noch nötiger als die Amerikaner. Was der Autor „Krise der Zivilisation“ nennt, ist auch uns ja längst geläufig in der Erfahrung von den Grenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, um nicht schon von dessen Sackgasse zu reden. Und weil wir wissen, daß die menschliche Intelligenz einen entscheidenden Anteil hatte und hat an den wissenschaftlichen und technischen Wunderwerken unserer Gattung, wissen wir zugleich auch um die Grenzen unseres Verstandes, unserer Rationalität, wenn es um Glück, Harmonie, Mitgefühl und Solidarität - mit einem Wort: um Menschlichkeit in der Gesellschaft geht.

Der soziale Fortschritt fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in immer häufigeren und kräftigeren Individualisierungsschüben der modernen Gesellschaft. Sie haben zweifellos beigetragen zur weitgehenden Erosion der antagonistischen Klassen aus dem 19. Jahrhundert. Heute erscheint auch die Individualisierung zunehmend als ein hoher Preis für den Fortschritt, wenn sie mehr und mehr als Abwendung vom anderen oder als Verhärtung gegenüber dem nächsten gelebt und erfahren wird.

Schlaglichtartig verdeutlicht der Autor dies mittels eines Schlüssel-Begriffs der Psychologie: „Dieses Unvermögen, Gefühle anderer wahrzunehmen, ist ein großer Mangel an emotionaler Intelligenz und ein tragisches Defizit an Menschlicheit. Denn der psychische Kontakt, der jeder mitmenschlichen Regung zugrunde liegt, beruht auf Empathie, der Fähigkeit, sich emotional auf andere einzustellen.“

Goleman sieht im alten Gegenüber von Herz und Verstand eines der zentralen Probleme, weil sich dieses Gegenüber in der gegenwärtigen Gesellschaft besorgniserregend verschärft. Deshalb entwickelt er ein umfassendes und komplexes Programm zur Überwindung der Dichotomie von Emotionalität und Rationalität. Seine Perspektive zur Aufhebung des Gegenüber von Herz und Verstand stützt sich auf die modernen Neurowissenschaften, auf Kognitionswissenschaften, mit denen Neuland in der Hirnforschung betreten wurde. Populär gesprochen: Das Buch mobilisiert alles Wissen und alle Erfahrung, um uns „das emotionale Alphabet“ zu lehren. Bemerkenswert: Der Autor unterstreicht den besonderen Nutzen des Buches für die Leser in Deutschland mit dem Hinweis auf eine „beginnende soziale Malaise“, auf den „Verfall der sozialen Integration“. Goleman wörtlich: „Diese schleichende Desintegration der Gemeinschaft und die Verstärkung eines rücksichtslosen Durchsetzungsstrebens geschehen dabei ausgerechnet zu einer Zeit, in der der ökonomische und soziale Druck, der aus der West-Ost-Einigung entstanden ist, mehr und keinesfalls weniger Kooperation und Fürsorglichkeit verlangt.“

Die Stärke des Buches liegt nicht zuletzt in dieser Einheit von schonungslos offenem, illusionslosem Blick auf Gegenwärtiges und der Eröffnung einer hoffnungsvollen Perspektive für die Zukunft. Bleibt zu hoffen, daß am Ende einer illusionslosen Diagnose nicht doch nur eine illusionäre Therapie folgt. Vergessen wir nicht: Nachdem gerade eine Utopie zur Rettung der Menschheit so kläglich scheiterte, sieht sich jede neue Utopie einer ganz besonderen Skepsis gegenüber. Trotz fleißiger Einbeziehung von Ergebnissen neuester Forschung und Wissenschaft ist das Buch frisch und verständlich geschrieben. Sympathisch diese Methode: Schwierige Sachverhalte werden häufig in ganz lebendige Szenen, Geschichten oder Anektoden „aufgelöst“ und dadurch eindringlich vermittelt.

Übrigen: Das Cover der deutschen Ausgabe wirbt mit dem Kürzel „EQ“. Damit sollten keine falschen Erwartungen verknüpft werden. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe stellt dazu das nötige klar: Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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