Eine Rezension von Christian Böttger

Feindbild Biologie?

Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Wider die Mißtrauensgesellschaft
Streitschrift für eine bessere Zukunft.
R. Piper, München 1995 (durchgesehene und ergänzte Neuausgabe)
Tb., 255 S.

Eine weltweite Zunahme von Gewalt und Kriminalität, von Fremdenhaß und Bevölkerungsexplosion, von wachsender Umweltzerstörung und kriegerischen Konflikten bietet genug Anlaß zum Pessimismus. Kann es deshalb für die Menschheit überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft geben? Dieser Frage geht der namhafte österreichische Biologe und Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt nach und versucht ihre Beantwortung vornehmlich auf der Grundlage seines naturwissenschaftlichen Wissensgebietes.

Ganz zentral berührt wird in diesem Büchlein also das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Sozialwissenschaft, d. h. die Frage, welche Rolle die Naturwissenschaft, insbesondere die Verhaltensforschung, überhaupt bei der Erforschung der menschlichen Gesellschaft spielen kann. Biologen, so Eibl-Eibesfeldt, teilen mit Geologen und Astronomen das Denken in weiten Zeiträumen. Sie denken auch in anderen Zeitspannen voraus, was sie von anderen Menschen - auch wenn sie in Schlüsselpositionen zukunftsorientiert planen - unterscheidet. Außerdem hat die Biologie als Naturwissenschaft dank ihrer theorethischen und methodischen Ansätze prüfbare Ergebnisse vorzuweisen. Was stört also so manchen Politologen daran, wenn sich Vertreter einer Naturwissenschaft der Erforschung der menschlichen Gesellschaft zuwenden und sich in den Diskurs einmischen? Da wäre zunächst einmal die Meinung, ein biologisches Menschenbild würde der Sonderstellung des Menschen nicht gerecht werden, denn der Mensch sei doch nicht nur Spielball seiner ihm angeborenen Programme. Als weiterer Grund für die Ablehnung ethologischer und soziobiologischer Befunde wird die Angst angegeben, daß die Akzeptanz des Angeborenen einem erzieherischen und sozialpolitischen Fatalismus Vorschub leisten könnte. Schließlich wird die Wiederkehr eines extremen Sozialdarwinismus befürchtet.

Aber rechtfertigt das die Ausblendung der Wahrheit oder sollten wir uns nicht besser mit ihr auseinandersetzen? Letzteres ist das Grundanliegen dieses engagierten Wissenschaftlers, dem es eigentlich - und das spürt der Leser recht deutlich - in diesem Buch um nichts anderes geht als mitzuhelfen, die Gesellschaft vor folgenschweren Irrtümern zu bewahren und das Leben in der modernen Großgesellschaft humaner zu gestalten. Dieses Buch ist deshalb auch eines seiner eher als politisch zu bezeichnenden Publikationen. Der diesen Überlegungen zugrunde liegende Ansatz wird an einer Stelle so formuliert: „Die Belastungen der Neuzeit stellen uns vor eine Probe, die wir nur bestehen werden, wenn wir die verborgenen Stolperstricke ebenso wie die Chancen unserer genetischen Programmierungen erkennen.“ (S. 59) Aber welche genetische Programmierungen existieren überhaupt, und wie können sie heute die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen?

In der dazu von Irenäus Eibl-Eibesfeldt entwickelten Grundthese, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht, geht der Autor davon aus, daß jene stammesgeschichtlichen Anpassungen, die unser Verhalten und insbesondere unsere Emotionalität mitbestimmen, sich in jener langen Zeit entwickelten, in der unsere Ahnen als altsteinzeitliche Jäger und Sammler lebten. In diesem Zeitraum, der etwa 98 % unserer menschlichen Geschichte ausmachte, waren unsere Vorfahren in Kleinverbänden organisiert, deren Mitglieder einander persönlich kannten. Mit der anonymen Großgesellschaft und der modernen Großstadt, so meint der Autor, hätten wir uns eine Umwelt geschaffen, für die wir eigentlich nicht ausgestattet sind. Und genau hier sieht der Autor die Ursache für den gegenwärtigen Gesellschaftszustand, den er als „Mißtrauensgesellschaft“ bezeichnet. Er konstatiert eine Ellenbogenmentalität, mit der Personen und Interessengruppen ungehemmt Eigenvorteile verfolgen, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen. Das ständige Auf-der-Hut-Sein vor dem anderen und andererseits die Bereitschaft, dessen Schwächen schonungslos auszubeuten, haben ihre Ursachen im angeborenen repressiven Dominanzstreben, das besonders in Großgesellschaften zur Gefahr wird, weil hier Aufstiegsmöglichkeiten und Machtmittel ungenügend begrenzt sind, d. h. die soziale Kontrolle durch die Angehörigen der Kleingruppe fehlt. Das die Rangordnung der Kleingruppe kennzeichnende Dominanzstreben auf der Grundlage fürsorglicher, prosozialer Eigenschaften tritt in der anonymen Großgesellschaft dagegen zurück.

Seine Lösungsansätze für die Korrektur dieser Fehlentwicklungen beziehen sich sowohl auf städtebauliche Maßnahmen, die darauf abzielen sollen, kleine, individualisierte Gemeinschaften zu fördern, als auch auf erzieherische Bemühungen, um eine anonyme Großgesellschaft in eine prosoziale Solidargemeinschaft zu verwandeln. Da sich Immigranten heute als eigene Solidargemeinschaften abgrenzen, steht der Autor mit Recht einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft skeptisch gegenüber und befürwortet die völlige Assimilation der bereits eingewanderten und lange hier ansässigen Immigranten.

Ob sich die mit unserer Großgesellschaft herausgebildete Ellenbogen- und Mißtrauensgesellschaft tatsächlich primär auf unser steinzeitliches Erbe zurückführen läßt, muß allerdings bezweifelt werden. Sicherlich können solche frühen genetischen Programmierungen eine wesentlich größere Rolle spielen, als wir das noch vor einigen Jahren angenommen haben. Tatsächlich müssen wir feststellen, daß besonders bei Jugendlichen eine auffällige Neigung besteht, sich in überschaubaren Kleingruppen, in Cliquen, zusammenzuschließen. Hooligans, Rocker, Skinheads usw. bilden irrationale Subkulturen als ideelle Basis und Legitimation solcher Kleingruppenbildungen. Sprayer hinterlassen mit ihren Tags sichtbare Zeichen, womit sie ihr Gebiet abstecken. Sie scheinen die vom Autor konstatierte angeborene Territorialität des Menschen zu bestätigen.

Erwachsene suchen ebenso Überschaubarkeit und Geborgenheit in der Kleingruppe. Das Vereinswesen in der Bundesrepublik Deutschland kann als Beleg dafür gelten. Doch ist das noch kein Beweis dafür, warum ausschließlich unser steinzeitliches Erbe für die Ellenbogenmentalität der Großgesellschaft verantwortlich sein muß.

Auch in Großgesellschaften ist die Ellenbogenmentalität durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Die gesellschaftlichen Faktoren, die zu den beschriebenen Entwicklungen führen, die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums beispielsweise, werden vom Autor fast völlig ausgeblendet. Mißtrauen wächst auch da, wo mangels eines gerechten Verteilungsschlüssels die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und zahlreicher werden. Wo es keine soziale Gerechtigkeit gibt, können sich prosoziale Verhaltensweisen als gesamtgesellschaftliche Erscheinung nicht ausbilden.

Dennoch ist Eibl-Eibesfeldt als Humanethologe kein plumper Biologist oder gar Sozialdarwinist. Den routinierten Kritikern biologischer Überlegungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Phänomenen kann der Rezensent bestätigen, daß der Autor an keiner Stelle des Buches, wie in seinen anderen Publikationen auch, einen Zweifel über sein humanistisches Grundanliegen aufkommen läßt. Leider spielt bei der Ablehnung und Kritik, die an dem namhaften Verhaltensforscher geübt wird, nicht selten nur der Machtanspruch etablierter meinungsbildender Ideologen die ausschlaggebende Rolle, so daß eine sachliche Auseinandersetzung gar nicht mehr stattfindet. Spätestens mit der Wende im Herbst 1989 ist uns bewußt geworden, daß viele Fragen, die das menschliche Verhalten betreffen, als noch weitgehend ungeklärt gelten können. Das menschliche Wesen scheint eben doch mehr zu sein, als nur das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, wie Marx das in seinen „Thesen über Feuerbach“einmal formulierte und was oft vereinfachend fehlinterpretiert wurde.

Erwähnenswert ist noch zum Schluß die sprachliche Lebendigkeit, mit der Eibl-Eibesfeldt seine Argumente vorträgt. Sie macht das Lesen zu einem wirklichen Vergnügen. Auch ein Nichtwissenschaftler kann durchaus seinen präzise formulierten und gut nachvollziehbaren Gedankengängen folgen, verzichtet der Autor doch auf jenen sprachlichen Stil, der sonst bei wissenschaftlichen Publikationen geeignet ist, nur eine kleine Gruppe von Interessenten anzusprechen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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