Eine Rezension von Hans-Rainer John

Afghanistan war die Wende

Wladimir Bukowski: Abrechnung mit Moskau
Das sowjetische Unrechtsregime und die Schuld des Westens.
Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1996, 656 S.

Der amerikanische Autor Daniel Goldhagen erntete kürzlich einen Aufschrei, weil er in seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker - wie viele meinen - unzulässig verallgemeinert. Er behauptet nämlich, der Völkermord an den Juden sei ein „nationales Projekt“ des deutschen Volkes gewesen, das schon vor der Nazi-Zeit von einem auf Judenvernichtung zielenden Antisemitismus durchdrungen gewesen sei. Die Täter des Holocaust seien dem Judenmord mit Eifer und fanatischer Leidenschaft nachgegangen - die Grausamkeit sei eine Folge ihrer Weltsicht und nicht von Zwang und Befehlen gewesen.

An solche These von der Kollektivschuld eines Volkes wird man erinnert, wenn man das Buch Abrechnung mit Moskau zur Hand nimmt. Sein Autor Wladimir Bukowski (54) war nach Sacharow und Solschenizyn wohl der drittwichtigste Dissident der Sowjetunion. Biophysik und Kybernetik studierend, wurde er neunzehnjährig zum Systemkritiker. Er wurde relegiert, durch Gefängnisse, psychiatrische Kliniken und Arbeitslager geschleift und 1976 - da war er 34 Jahre alt - durch Vermittlung von Amnesty International gegen Luis Corvalan „freigetauscht“. Nun nimmt er Gelegenheit zu einer gnadenlosen Entlarvung aller Unrechtstaten, die der Sowjetstaat verübte, zumal er bei seinem Aufenthalt im Westen (er lebt heute in Cambridge) zuvor von vielerlei Kräften, die auf Verständigung mit der Sowjetunion setzten, gebremst oder in Zweifel gezogen worden war.

Freilich ist er darin viel unsystematischer und lückenhafter, was die Darstellung der Fakten angeht, als Michael S. Voslensky in seinem Buch Das Geheime wird offenbar. Moskauer Archive erzählen 1917-1991 (Langen Müller 1995), aber wie Goldhagen konstatiert er eine Kollektivschuld des Volkes, vor der nichts und niemand besteht außer einer Reihe von Dissidenten, aber auch beileibe nicht alle, sondern nur die konsequentesten. „Außer uns, jener Handvoll ‚Abtrünniger‘, war das ganze Land verdorben.“ (S. 84) Das Land war Bukowski ein Reich des Bösen schlechthin, voller Ungeheuer, Mörder und ihrer Marionetten, „feige und tückisch, wie Sklaven eben sind“ (S. 95), und alle ideellen Motive waren nur vorgetäuscht, denn: „Der Sowjetmensch hat nun einmal kein Gewissen. In seinem Gehirn ist kein Fäserchen übriggeblieben, das irgendwelche Spuren moralischer Normen hätte bewahren können.“ (S. 96) Bei diesem generalisierenden Urteil bleibt er auch, nachdem er 1991 Moskau wiederbegegnet, um beim Prozeß gegen die KPdSU vor dem Verfassungsgericht auszusagen: „Eine Ohrfeige kann man sowieso nur dem geben, der sich das Ehrgefühl bewahrt hat, und davon gab es hier niemanden.“ (S. 104)

Für Lew Kopelew (10 Jahre Gulag, Parteiausschluß, Berufsverbot, Ausbürgerung, seit 1981 in der BRD) war Gorbatschow, Perestroika und Glasnost „ein Wunder“ („Berliner Zeitung“ vom 20./21. 7. 96). Bukowski dagegen betrauert wütend die „armselige Vorstellungskraft der Welt“, die von Gorbatschow beeindruckt war („unbegründet, absurd, irrational“), denn er sieht in Gorbatschow nur einen Mann mit normaler Parteikarriere, beteiligt an allen Verbrechen seit 1978, der mit raffinierter Taktik, quasi-demokratischen Attributen und subtilerer Manipulation den sozialistischen Totalitarismus hätte behaupten wollen (Gorbatschows Glasnost = Mao Zedongs Kulturrevolution). Er sei Drahtzieher der fiktiven Volksrevolutionen in Osteuropa gewesen, um eine neue Generation von Manipulatoren an die Macht zu bringen. In der DDR habe er die Absetzung Honeckers gefordert, die Verschwörer zum Handeln gedrängt, die ersten Demos mit Liberalisierungsforderungen organisiert. Alles sei nach seinem Plan verlaufen, bis zum Sommer 1990 habe niemand in Moskau mit einem Zusammenbruch der DDR gerechnet. Das nun freilich ist Spekulation, durch keine Dokumente gedeckt und hierzulande so auch kaum glaubwürdig.

Immerhin kann man andererseits auch Bukowskis Wut und Zorn verstehen, wenn man erfährt, daß P. Saprunenko, der den Befehl zum Massenmord in Katyn unterschrieb, D. Kopeljanski, der Raoul Wallenberg „verhörte“, und P. Susoplatow, der den Mord an Trotzki organisierte, heute noch unbehelligt in Moskau leben, von keinem persönlichen Vorwurf betroffen.

Der Untertitel des Buches apostrophiert auch die Schuld des Westens, und demgemäß rechnet Bukowski mit allen ab, die mit der UdSSR kooperierten: „Der Sündenfall begann mit der Bereitschaft, mit dem Bösen friedlich zu koexistieren.“ (S. 69) Das beginnt mit Jalta, Potsdam, Nürnberg und einbegreift Roosevelt, Churchill und Truman, Carter und Vance, Bush und Baker, Nixon und Kissinger, Olof Palme und Giscard d'Estaing, ferner Arvid Hammer, Maxwell und Cyrus Eton, den Filmregisseur Coppola, die BBC und die Agentur Reuter. „Die schlimmsten wollten die sowjetische Schlange durch Güte erdrücken, nachdem sie sich mit Seele und Körper hingegeben hatten.“(S. 136) Hauptangriffspunkt aber ist die europäische Sozialdemokratie mit Kalevi Sorsa und Willy Brandt an der Spitze, die sich zu Moskaus Einflußagenten in der NATO gemacht hätten. Sie hätten kapitulantenhaft Wandel durch Annäherung gepredigt, wo die Losung Zuspitzung statt Entspannung hätte heißen müssen.

Das nun freilich ist spekulativ und eine Streitfrage bis heute: Wie verhalten wir uns zu „Unrechtsstaaten“ wie Iran, China oder Türkei? Mischen wir uns in den Tschetschenienkrieg ein oder nicht? Auch heute appeliert Aung San Kyi, die birmanische Oppositionsführerin, Trägerin des Friedensnobelpreises, vergeblich an die Weltöffentlichkeit, in ihrer Heimat einen politischen Wandel zu erzwingen; die ASEAN-Staaten lehnen Sanktionen ab und verteidigen Kontakte mit der Militärregierung in Rangun unter der Flagge der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Als „eine Mahnung an allzuleicht verführbare Demokraten“ bezeichnet der herausgebende Verlag das Buch. Ist aber Politik wirklich so einfach? Kann man so leicht dem „Sündenfall“ entgehen? Offenbar spielt die Dialektik eine größere Rolle, sonst hätte die BRD auch nicht 1973 die Souveränität der DDR anerkannt, dann hätte sich Schmidt nicht nach Hubertusstock begeben, Strauß hätte keinen Milliardenkredit vermittelt und Kohl hätte Honecker nicht zum Staatsbesuch nach Bonn eingeladen.

Letzter Anlaß zu dem Buch waren offenbar rund 200 geheime Dokumente aus ZK-Archiven, die Bukowski beim Prozeß gegen die KPdSU in die Hände bekam und kopierte. Neu (im Verhältnis zu bisher Veröffentlichtem) und spannend sind nur die Protokolle des Politbüros der KPdSU über die Entscheidungen zur Afghanistan-Frage und zur Situation in Polen (Solidarnosc und das Kriegsrecht). Die allerdings haben es in sich. Es scheint, als wäre der Einmarsch in Afghanistan ein Schlüsselereignis von historischer Tragweite gewesen, das die Wende herbeiführte. Alles Spätere wirkt vom heutigen Gesichtspunkt aus wie Folgeerscheinungen.

Es ist nicht das erste Buch, das Bukowski vorlegt. Auch dieses ist streitbar, höchst engagiert und sehr persönlich geschrieben. Es ist keine trockene Dokumentensammlung, sondern ein leidenschaftlicher Essay. Der Leser wird zu Auseinandersetzung und Widerspruch herausgefordert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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