Eine Rezension von Manfred Knoll

Opportunist in zwei Stunden . . .

Thomas Reglin: Kleines Lexikon der erwünschten Kritik
Eulenspiegel Verlag, Berlin 1995, 128 Seiten

Sie sind mit den Jahren, in gut einem viertel Jahrhundert, zu einer recht beachtlichen Bibliothek angewachsen: diese stets gefragten und auch äußerlich ansehnlichen Oktavbändchen aus dem Eulenspiegel Verlag mit Sprichwörtern und Sprüchen, Aphorismen und Sentenzen, Epigrammen und Limericks. (Wer erinnert sich nicht an Stenglisch for you?) Diese Büchlein vom Prototyp „Kurz und scherzhaft“ verführten sogar manch anderen, durchaus „artfremden“ Verlag zu ähnlichen publikumswirksamen und umsatzträchtigen Lesebonbons ganz außerhalb seines editorischen Profils.

Nun also mal ein „Lexikon“ in dieser Reihe, die gar keine Reihe sein will, mit ihrem einheitlichen Buchformat, aber doch so wirkt. Nach Lesen des Titels Lexikon der erwünschten Kritik hat man - an manch Vorgängerbändchen „geschult“ - den Autor erwartungsvoll im Verdacht, daß er sich die heute eher noch zu- als abnehmenden Dünnbrettbohrer und Durchschummler, Leisetreter und Watteschmeißer, die Radfahrer und Trittbrettfahrer, Speichellecker und Arschkriecher satirisch vor- und ihr Denken und Handeln in ironischer Umkehrung aufs Korn nimmt. Formale Anregung war ihm, nach dem Motto seiner Sammlung zu schließen, Gustave Flauberts Wörterbuch der Allgemeinplätze.

Versucht man das „Lexikon“ wie ein solches zu benutzen - Stichwort suchen, Erläuterung lesen, Aha-Effekt auskosten -, dann stellt man fest, daß die Ironie meistens sehr versteckt bleibt und Satire noch seltener auszumachen ist. Dann erweist sich der Text als ausgemacht ledern. Beispiele verdeutlichen das vielleicht am besten: „ABC-Waffen. Keine humanen Waffen.“ - „Alkohol. s. Drogen. (Aber: Ein Gläschen in Ehren ...)“ - „Drogen. Brauchen wir nicht, um zufrieden zu sein.“ - Amigos. s. Old Schwurhand.“- „Old Schwurhand. s. Onkel Aloys.“ - „Onkel Aloys. s. Starfighter.“ - „Starfighter. s. Amigos.“ - „Diätenerhöhung. Macht uns die Lohnsenkung sauer.“ - „Menschenwürde. Wird oft mißachtet. Dabei kostet ein bißchen Respekt doch nicht viel.“ - „Tankerkatastrophen. s. Justizirrtümer.“ - „Justizirrtümer. Haben oft schreckliche, nicht wiedergutzumachende Folgen. Sollten deshalb unterbleiben.“

Keine Regel ohne Ausnahme: Bei einzelnen Stichwörtern bricht denn doch unmittelbar Satire durch, z. B.: „Planwirtschaft. Führt unweigerlich ins Chaos (während Planlosigkeit immer Ordnung und Effizienz zur Folge hat).“ „Plattenbauweise. Kommunistischer Architekturterror. Ungleich schlimmer als Westbeton.“

Ein wenig anders sieht die Sache aus, wenn man hintereinanderweg liest (was etwas mühsam ist). Dann findet man Stichwortanhäufungen, deren Erläuterungen miteinander korrespondieren und satirischen Effekt erzeugen. Beispiel: „Handelshemmnisse, amerikanische. Behindern unsre Exporte (Nicht in Amerika verwenden).“ - „Handelshemmnisse, japanische. Behindern unsre Exporte. (Nicht in Japan verwenden).“ - „Handelshemmnisse, unsere. Ausländische Wahnidee. Hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt.“ Oder: „Militarismus. Häßlicher Auswuchs der Verteidigungsbereitschaft. (Nicht auf Bundeswehr und befreundete Truppen, dafür aber auf s. Militärparaden, russische, anwendbar.“ - „Militärparaden, russische. Zeugen von s. Nationalismus. s. Außenpolitik.“ - „Nationalismus. Übertriebene Heimatliebe. Großes Problem, vor allem im Ausland.“ - „Außenpolitik. Russen sollten sie meiden.“

Was dies alles nun mit „erwünschter Kritik“ zu tun hat, bleibt leider im Nebel. (Zumal ja Kritik nie erwünscht ist; wer von sich anderes behauptet, heuchelt; sie wird allenfalls zähneknirschend hingenommen, nämlich wenn sie aber auch gar nicht zu widerlegen und ihr ein Ruch des „Hilfreichen“ nicht abzusprechen ist.) Nein, der Buchtitel - mit derselben Grundhaltung gewählt, die im ganzen Buch vorherrscht - müßte zutreffender lauten „Kleiner Leitfaden: Opportunist in zwei Stunden“. Denn das ist eigentlich die satirische Zielrichtung. Folgerichtig bekommt der (dazu) geneigte Zeitgenosse im Vorwort entsprechend rosa-wattig eingeschmeichelt: „Allzu groß ist das Risiko, als nörglerischer Miesmacher und unverbesserlicher Querulant ausgegrenzt zu werden. Hinter die Kulissen schauen, ohne unhöflich zu werden; entlarven ohne zu verletzen; anprangern ohne sich unbeliebt zu machen: diese Schlagwörter umreißen die Zielvorgabe recht genau.“ Auf dem Rücktitel sind Autor und Verlag einmal unvorsichtig offen: Es ist ein Wegweiser zur Sprache des modernen Lebens ... (man kennt halt seine Politiker und eine bestimmte Tagespresse mit ihren sprachlichen Schleiertänzen) und „Alle Menschen werden Schwätzer - bleiben Sie nicht zurück!“

Wie gut auch alles gedacht gewesen sein mag - zum vergnüglich-entlarvenden Leseerlebnis werden die 128 Seiten nicht, was sehr schade ist. Das Thema hätte es mehr als verdient. Komisch? Zumeist Fehlanzeige! Esprit? Sofern vorhanden, dann gut versteckt. Wie gesagt: ledern.

Komik kommt gelegentlich aber doch vor, unfreiwillige sprachliche: „Individualverkehr. Besonders umweltschädliche Form des Egoismusses.“ Ein sprachlicher Lapsus?

Kinderfeindlichkeit. Besonders selbstzerstörerische Form des Materialismusses.“ Wohl doch kein Lapsus. „Konsumismus. Würdeloseste Form des Materialismusses.“Ganz bestimmt kein Lapsus, zumal es weitere Beispiele gibt (sowie genügend andere, die widerlegen, daß es satirische Absicht war). Oder: „Kinderstars. Dürfen nie wirklich kindisch sein ...“ Der Mann meint sicherlich kindlich. Aber wäre es nicht kindisch, auf sowas einen Verlagslektor aufmerksam zumachen?

Diese Besprechung gehört gewiß ins Schubfach „unerwünschte Kritik“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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