Eine Rezension von Jörg C. Röbel

Ähnliches mit Ähnlichem heilen

Christopher Hammond: Praktische Homöopathie.
Das neue Handbuch.
Mosaik Verlag, München 1996, 256 S.

Die Betonung liegt bei diesem neuen Handbuch wohltuend eindeutig auf dem Praktischen. Dementsprechend wirbt der ebenso geschmackvoll wie optisch eindringlich gestaltete Buchumschlag zusätzlich mit dem kinderleicht einzulösenden Versprechen: „Das richtige Mittel schnell und sicher finden - Mit 100 Seiten Symptome-Wegweiser“ . Weil ich gerade beim attraktiven mehrfarbigen Hochglanzcover bin, noch dies. Um die Aufmerksamkeit potentieller Interessenten und Käufer zu erreichen, bedarf es wahrlich nicht einer sich mit Reizen und Über-Reizen ständig steigernden und sich immer aggressiver gebärdenden Aufdringlichkeit. Die „Buchmacher“ des Mosaik Verlages jedenfalls haben die „sanfte Kraft“ der Farben und optischen Reize wiederentdeckt - und damit nicht weniger wirkungsvoll, aber doch völlig angemessen, zum „sanften Heilverfahren“ eingeladen.

Das Werk erschien 1995 unter dem Originaltitel The Complete Family Guide to Homeopathy zuerst in Großbritannien. Was allerdings an diesem „neuen Handbuch“ wirklich „neu“ ist, kann und will ich hier weder im Detail überprüfen noch in aller Ausführlichkeit entwickeln. Interessanterweise kommt es darauf auch gar nicht an. Denn die Homöopathie setzt vor allem auf Altbewährtes: Ihre Geschichte ist eine Geschichte von „natürlichen Kontinuitäten“, wo „Neuerungen“ eher die Ausnahme oder gar den Störfall darstellen. Ihr Fundament und Wirkungsfeld ist der Mensch mit seinen „anthropologischen Konstanten“ . Dazu gehört ganz wesentlich sein lebensnotwendiger Zusammenhang mit der „ewigen Natur“, der sich nicht ungestraft auflösen läßt. Dieses Festhalten an „biologischen Stabilitäten“ war und ist zugleich das, was der Homöopathie immer wieder „neue“ Chancen gegenüber der Schulmedizin bot und bietet. Die Zeiten, in denen die Schwächen, Versäumnisse und vor allem die eklatanten Einseitigkeiten der Schulmedizin besonders hervortreten, sind immer auch neue Hochzeiten der Naturheilverfahren. Gerade jetzt durchleben wir wieder eine Phase, in der die Kommerzialisierung der allopathischen Medizin - wie die Schulmedizin auch genannt wird - immer bedrohlichere Formen annimmt. Die teuren und aufwendigen medizinischen Geräte schreien förmlich nach ihrer Amortisation und drängen immer mehr in den Mittelpunkt der Medizin - wo doch eigentlich der Mensch stehen sollte. Ein ebenso schrecklicher wie „ehrlicher“ Name steht für diese Entwicklung: Apparatemedizin. Mehr noch: Die Vergötzung der Apparate blieb nicht ohne Folgen auf das Menschenbild, auf das Bild vom Patienten. So wurde der Patient immer interessanter als „Objekt der Begierde“ von geschäftigen Diagnostikern. Eine weitere Folge: Krankheit wird reduziert auf Symptome. Und die gilt es zu bekämpfen mit allen möglichen Gegenmitteln: von den Antibiotika bis zu den Antidepressiva. Absolut vorherrschend ist hier also eine Strategie der „Anti“ -Mittel. Im völligen Gegensatz dazu war der Begründer der Homöopathie, der Deutsche Samuel Hahnemann, überzeugt, daß die Symptome und Zeichen einer Krankheit in Wirklichkeit als Versuche des Körpers zu werten sind, sich selbst zu heilen. Also müßte man dann auch mit einer Substanz, die fähig ist, ein der Krankheit ähnliches Symptom-„Bild“ hervorzurufen, den Abwehrmechanismus wirksam stärken können. Dementsprechend ist die Homöopathie ein vollständiges Medizinsystem, das sich durch Stärkung der Selbstheilungskräfte der Förderung der Gesundheit schlechthin verschrieben hat. So unterscheidet sich auch ihr Behandlungsansatz völlig von dem der konventionellen Medizin. Für den „biologischen Mediziner“ oder den Anwender von „Naturheilverfahren“ ist der Patient kein passives Objekt mit lokal begrenzten Schädigungen oder Störungen, sondern der ganzheitlich zu betrachtende Mensch, ohne dessen aktive Mitwirkung gar nichts geht.

Der Ratgeber Praktische Homöopathie wendet sich vornehmlich an den Anfänger, um ihm bei der Behandlung von akuten Erkrankungen zu helfen. Darüber hinaus enthält das Handbuch Informationen für denjenigen, der bereits über homöopathisches Vorwissen verfügt. Diese Informationen kommen - mit wachsender Erfahrung - selbstverständlich auch dem „Anfänger“ zugute. Das Handbuch setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Der erste Teil behandelt die „Theorie und Philosophie der Homöopathie“ . Er würdigt das Schaffen des Vaters des Naturheilverfahrens, S. Hahnemann, und führt bereits in die praktische Therapie ein: in ihre Grundprinzipien, den möglichen Wirkmechanismus, die Arzneimittelherstellung sowie die Technik des Potenzierens. Der zweite Teil umfaßt die „Materia Medica“ und liefert einen Überblick über die wichtigsten Arzneimittel. Der Leser erfährt, woraus die einzelnen Mittel gewonnen werden, wie sie auf eine gesunde Person wirken, welche körperlichen und psychischen Symptome sie hervorrufen und zu welchem Persönlichkeitsbild sie gehören. Die hier vorgestellten Arzneimittel stellen allerdings nur einen Ausschnitt aus der gesamten Palette der Homöopathika dar. Der dritte Teil, die „Praktische Homöopathie“, ist der homöopathischen Anamnese gewidmet. Hier finden wir praktische Antworten auf die Fragen: Wie beobachte ich Symptome? Wie fertige ich die Notizen an? Wie werte ich die erhaltenen Informationen aus, um das richtige Mittel auswählen zu können?

Vier Fallstudien dienen der Veranschaulichung. Der Teil liefert außerdem eine umfangreiche Liste mit Homöopathika für den häuslichen Gebrauch. Dabei erfährt der Benutzer, wie die Mittel zu verabreichen sind, mit welchen Behandlungsergebnissen und Reaktionen zu rechnen und wie weiter vorzugehen ist. Der vierte Teil stellt „Die Arzneimittelbilder“ vor. Die tabellarische Anordnung ermöglicht die direkte Zuordnung von Symptomen und Arzneimittel. Die Tabellen sind nach verschiedenen Beschwerdebildern geordnet, die sich auf unterschiedliche Körperregionen beziehen. Zugleich werden Hinweise gegeben, wann ärztliche Hilfe vonnöten ist. Dieser Teil befaßt sich auch mit den Konstitutionskrankheiten, also den Störungen, die der Behandlung durch einen ausgebildeten Homöopathen bedürfen. Schließlich wird die „Erste-Hilfe-Behandlung“ bei kleinen Unfällen mit den entsprechenden Notfallmitteln präzise erläutert. Der abschließende fünfte Teil bietet ein Glossar und Register an. Hier werden alle für die Homöopathie wichtigen Begriffe erklärt.

Die ganzheitliche Behandlungsweise kann immer weniger als bloße Modeerscheinung abgetan werden. Unser modernes Leben braucht sie nötiger denn je. Immer mehr „moderne“ Krankheiten sind unserer „modernen“ Lebensweise geschuldet. Der entscheidende Grund liegt in der vom Menschen selbst betriebenen Zerstörung seiner natürlichen Lebensgrundlagen. Je mehr wir unsere Umwelt belasten und schädigen, desto mehr belasten und schädigen wir uns selbst. Das lebensnotwendige Gleichgewicht des Menschen mit der Natur ist zunehmend gefährdet. Der Verlust dieser natürlichen Balance manifestiert sich als eine charakteristische Störung: als die Unfähigkeit von Körper und Seele, mit den äußeren Einflüssen „auf natürliche Art“ fertig zu werden. Deshalb setzt die Homöopathie bei der Konditionierung der natürlichen Selbstheilungskräfte des Menschen an. Allein deren zentrale Bedeutung wieder ins medizinische Blickfeld gerückt zu haben, scheint mir - in heutiger Zeit - bereits hinreichend für Nutz und Frommen der Homöopathie. Das vorliegende Handbuch verdient eine weitere Würdigung. Es ist frei von missionarischem Eifer. Die Homöopathie wird weder in fanatischer Borniertheit als das „Allein-selig-Machende“ angeboten, noch als „einzige Alternative“ zur konventionellen Medizin vorgestellt. Ebenso sympathisch wie bescheiden wird das „Naturheilverfahren“ hier als Komplementärmedizin aufgefaßt: als Ergänzung - nicht als Ersatz. Das Buch ist frei von leichtfertiger Verführung. So findet der Leser noch vor dem Vorwort das „berühmte Kleingedruckte“: „Die Informationen in diesem Buch sollen und können ärztlichen Rat nicht ersetzen. Wer an einer behandlungsbedürftigen Krankheit leidet, sollte einen Arzt aufsuchen.“ Schließlich: Mein kritischer Verweis auf problematische Seiten der „Apparatemedizin“ richtet sich selbstverständlich nicht gegen die segensreichen und im Kampf gegen die Krankheiten unentbehrlichen Fortschritte in der medizinischen Diagnostik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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