Wiedergelesen von Jürgen Harder

Stefan Heym: Im Kopf - sauber. Schriften zum Tage.

Paul List Verlag, Leipzig 1954, 437 S.

Die Beispiele sind Legion: Immer wieder hat es Schriftsteller zeitweilig fortgerissen von ihren Schreibtischen - hin zu den Leuten, die das Volk ausmachen. Es trieb sie, ihr Schreibtalent in den Dienst der „Forderungen des Tages“ zu stellen. Gewöhnlich geschieht dies in ungewöhnlichen Zeiten. So riß es auch Stefan Heym nach dem 16. und 17. Juni 1953 für längere Zeit fort: „Ich habe mich in das Gewühl des täglichen Kampfes begeben; wenn mir dabei die Krawatte verrutscht ist - nun gut, ich bitte um Entschuldigung.“ Was der Autor hier einleitend zu seinen Schriften zum Tage anmerkt, sollte der Leser fairer Weise immer mit in Rechnung stellen. Dies gilt freilich ganz besonders für den „Wiederleser“ von heute. Wir haben also „Abstriche“ zu machen, sagt uns des Autors Entschuldigung. Zugleich dürfen wir besonders gespannt sein. Denn das Gewühl des täglichen Kampfes garantiert uns publizistische Zeitdokumente, deren authentischer Wert nicht zuletzt darin besteht, daß sie weitgehend frei sind von „literarischer Bereinigung“ .

Der Sammelband faßt diese publizistischen Arbeiten zum Tage in sechs thematischen Schwerpunkten zusammen. Den Auftakt bilden, unter dem Titel „So liegen die Dinge“ , die Aufsätze Heyms, die er unmittelbar nach dem 17. Juni schrieb. Sie waren damals in der „Berliner Zeitung“ und im „Vorwärts“ erschienen. Daran schließen sich weitere Beiträge aus der „Berliner Zeitung“ an, die der Autor für die Kolumne „Offen gesagt“ verfaßt hatte. „Im Schatten der Freiheitsstatue“, so ist der kürzeste Abschnitt überschrieben, der zwei Reden Heyms versammelt, die er Ethel und Julius Rosenberg bzw. Eugene Dennis und Genossen in den Vereinigten Staaten gewidmet hatte. Es folgen schließlich die Komplexe „Kritik und Reportagen“, „Forschungsreise ins Herz der deutschen Arbeiterklasse“ und „Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ .

Hinter der „Forschungsreise ...“ verbirgt sich der Aufenthalt einer sowjetischen Arbeiter-Delegation in der DDR. Diese 47 Arbeiter aus verschiedenen Industriezweigen und -regionen der UdSSR wollten sich selbst ein Bild von dem machen, was eigentlich am 17. Juni 1953 in ihrem Bruderland geschehen war. Sie besuchten zahlreiche Betriebe in der DDR und sprachen mit vielen deutschen Arbeitern. Die Geschichte dieses höchst aufschlußreichen Besuches hatte Stefan Heym aufgeschrieben und als Broschüre des FDGB veröffentlichen lassen.

Nichts läßt so eindeutig an Amerika denken wie der Titel „Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Dies um so mehr, wenn der Autor Stefan Heym heißt. Bekanntlich war er - nach seiner Emigration 1933 in die Tschechoslowakei - bereits zwei Jahre später nach Amerika übergesiedelt und USA-Bürger geworden. Nicht minder bekannt: Heym trat in die US-Army ein und war in ihren Reihen am Sieg über Hitler-Deutschland beteiligt. Dennoch: Mit seiner „Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ war nicht Amerika, sondern die Sowjetunion gemeint. Die Erklärung lag in folgendem: Aus tiefer Enttäuschung über Amerikas Rolle im Koreakrieg hatte Heym mit seiner Wahlheimat gebrochen, gab aus Protest seine amerikanischen Kriegsauszeichnungen zurück und siedelte 1952 in die DDR über. Die amerikanischen Begründungen und Rechtfertigungen für den Kalten Krieg und das intelligenzfeindliche Wüten des McCharthyismus taten ein Übriges. Für Heym waren das damalige Klima der Denunziation und die Jagd auf fortschrittliche Künstler und Schriftsteller eines so großen demokratischen Landes wie den USA unwürdig. Aber wie das bei einem politisch motivierten „Seitenwechsel“ oft so geht: Enttäuschte Hoffnungen flüchten in neue Hoffnungen. Oder: Desillusionierungen schützen nicht in jedem Fall vor neuen Illusionen. Die neue Hoffnung hieß: Demokratie und Sozialismus - mit einer Betonung des Wörtchens „und“. Die Illusion hieß: Stalin und sein Vermächtnis. Der „große Führer“ war ja schließlich auch ein großer Verführer. Und als „weiser“ Mann hatte er durchaus weise Sprüche zu bieten. Zum Beispiel: „Entweder wir, die ganze Partei, erlauben den parteilosen Bauern und Arbeitern, uns zu kritisieren, oder sie werden uns durch Aufstände kritisieren.“ Selbst wenn man die arrogante und gönnerhafte Herablassung entschieden zurückweist, die in dem Wort „erlauben“ steckt, ist dieser Stalinsche Gedanke - der nie zu einem stalinistischen werden durfte! - überaus bemerkenswert. Und Heym nahm solche Weisheit, in welcher u. a. die Erfahrung mit den Aufständischen von Kronstadt steckte, zur Richtschnur für seine kritischen Beiträge über den Aufstand der Arbeiter und Bauern in der DDR. Heym ging scharf mit dem „Hausgemachten“ des 17. Juni ins Gericht und attackierte ebenso das „Schüren des Brandes“ von außen. Im vorigen Heft des „Berliner LeseZeichens“ reflektierte Jan Knopf diese Problematik am Beispiel von Brechts „Buckower Elegien“ und stellte bemerkenswerterweise als Hauptursache des Aufstandes in der DDR den „unerledigten Faschismus“ in Ost- wie Westdeutschland heraus. Auch in Heyms Texten finden sich interessante Bestätigungen hierfür.

Seine Ideale hatten sich für Heym noch nicht als „ärgerliche“ Illusionen entpuppt. Charakteristisch ist daher die kleine Geschichte, die der gesamten Textsammlung ihren programmatischen Titel schenkte: „In der Nähe des Arnswalder Platzes ging ein Sowjetsoldat die Straße entlang. Es war nach einem Regen und seine Stiefel waren lehmbeschmiert. Hinter ihm ging eine Frau. Sie war relativ gut gekleidet, ihr Haar hatte jene Strohfarbe, die sich ergibt, wenn die Wasserstoffsuperoxydmischung zu stark gewesen ist. Ihre Augen waren verkniffen, ihr Mund verbissen. Mit diesem verbissenen Mund sagte sie, ziemlich laut: ‚Diese Russen - nicht mal die Stiefel können sie sauberhalten!‘ Der Sowjetsoldat drehte sich um und erwiderte in gebrochenem Deutsch: ‚Stiefel schmutzig - aber hier -‘ und er deutete mit dem Finger auf seinen Kopf - ‚hier im Kopf - sauber!‘“

Angesichts des reichlichen Schmutzes von braunem Ungeist in noch vielen deutschen Köpfen damals hatte die Forderung nach „Sauberkeit im Kopf“ durchaus ihren historischen und politischen Sinn. Doch welche ideale Einfachheit „unterstellt“ die Metapher dieser Anekdote. Gerade weil man das ehrbare Anliegen teilen möchte, muß man sich kritisch eingestehen: Ach, wenn's doch bloß so einfach wäre ... Eingeschlossen die Befürchtung, daß am Ende ein sauberer Kopf nur noch ein leerer Kopf ist. Es ist heute leicht, Stefan Heym Illusionen vorzuhalten. Um so notwendiger ist der Hinweis, daß Heyms Illusionen vor allem ihr Gutes hatten. Denn ohne sie wäre die Kühnheit nicht vorstellbar, mit der er die damaligen Zustände in seiner neuen Wahlheimat kritisierte. Im Lichte der Erfahrung des Scheiterns der DDR gewinnen - beispielsweise - seine damaligen Beiträge zum Pressewesen und zum literarischen Leben in der DDR geradezu paradigmatische Bedeutung. Heym rückte hier eines der entscheidenden Probleme jeder modernen Gesellschaft ins Zentrum: die Herstellung von Öffentlichkeit im Sozialismus. Nichts ist wohl dümmer und folgenschwerer in der DDR vernachlässigt worden als diese Frage! Wer die vom Leser überprüfbaren sogenannten kleinen Wahrheiten entstellt, verliert das Allerwichtigste: das Vertrauen des Lesers. Wer schönfärbt, dem glaubt man auch die „große Wahrheit“ nicht: „Nur ein Journalist, der selber und selbständig denkt, wird das Denken seiner Leser beeinflussen können.“ Und die unsäglichen Bevormundungen im literarischen Leben geißelte Heym so: „Aber die Entscheidung darüber, was gut und nützlich und notwendig ist, kann nicht einigen ewig nach oben Schielenden überlassen bleiben, auch wenn diese verantwortungsscheuen Seelen sich als Kritiker maskieren. Und hören wir doch endlich auf das, was das Volk will.“ Nicht auszudenken, was nach dem 17. Juni aus der DDR geworden wäre, wenn Heyms Kritik und Vorschläge das Ohr der Mächtigen gefunden hätten.

Von besonderem literaturgeschichtlichen Interesse ist sicherlich, Heyms Schriften zum Tage Im Kopf - sauber als Ausgangspunkte und Vorstufen seines Romans über den 17. Juni Der Tag X sowie der späteren, überarbeiteten Fassung Fünf Tage im Juni zu betrachten. Obwohl der Roman, der 1974 in der BRD erschien, einige Legenden des Westens über den 17. Juni zerstörte, wurde seine Veröffentlichung in der DDR bis ins Jahr 1989 unterdrückt. Also: Als der erste deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat das letzte Stadium seiner Agonie erlebte, durfte der Roman, dessen Autor sich durchaus von den Interessen der Arbeiter und Bauern leiten ließ, in der Deutschen Demokratischen Republik erscheinen.

Apropos: „Der Spiegel“ erinnerte bereits im Wahljahr 1994 in der Nr. 13 an Heyms Textsammlung „Im Kopf - sauber“ . Der Grund: Der bekannte Schriftsteller kandidierte - auf der Liste der PDS - für den Bundestag. Das berühmte Magazin konnte allerdings nur „Heyms Elogen auf Stalin und die Sowjets“ wiederentdecken. Angesichts des hohen Anteils, den - neben besagten Elogen - die beherzte, ja kühn zu nennende Kritik an politischen Verhältnissen in der DDR, an Methoden und Strukturen, in diesen Texten beansprucht, scheint mir die erlesene Einäugigkeit des Blattes aus Hamburg wenig schmeichelhaft - für seinen publizistischen Anspruch im allgemeinen, für analytische Recherchekunst und intellektuelle Redlichkeit im besonderen. Der Aufnahme dieses „Spiegel“ -Beitrages in die Bibliographie „Wende-Literatur“ (Peter Lang / Europäischer Verlag der Wissenschaften) tat dies keinen Abbruch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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