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Verliebt ins Detail

Eine Gespräch mit Volker Kluge

Nach rund drei Jahrzehnten Tagesjournalismus haben Sie nun Ihr einstiges Hobby, das Herausgeben von Lexika aus dem olympischen Themenkreis, zum Hauptberuf gemacht. Was trieb und treibt Sie in dieses für den Laien trocken anmutende Gebiet aus Zahlen und Daten?

Mein wichtigster Antrieb? Wahrscheinlich die Neugierde. Das Hinterfragen von scheinbar feststehenden Tatsachen. Und eine wohl angeborene Detailverliebtheit und -besessenheit.

War diese Neugierde schon immer vorhanden? Und wieso der Sport?

Das begann bei mir schon relativ früh, so mit zehn, zwölf Jahren. Ich war ein sportinteressierter Junge, der mit großer Begeisterung den Rundfunkreportagen von der Friedensfahrt oder von den Olympischen Spielen in Melbourne lauschte. Das reichte mir bald nicht mehr; ich kaufte mir von meinem Taschengeld Sportbücher. Und eines Tages hielt ich das Buch von Ferenc Mezö 60 Jahre Olympische Spiele in der Hand. Für mich das Schlüsselerlebnis überhaupt. Mezö hatte an sich nur Zahlen gesammelt: die Ergebnisse aller Olympischen Spiele also. Eine auf den ersten Blick trockene Angelegenheit, nur Zahlen und Namen, Zahlen und Namen. Doch bald entdeckte ich mehr, ich fand Zugang zu diesen Zahlen und Namen und entdeckte kleine Lücken. Irgendwo fehlte zum Beispiel der Vorname eines Olympioniken. Und meine Neugierde war geweckt. Man müßte diesen Vornamen herausfinden ... So begann alles. Erste Korrespondenzen, die Suche nach Adressen, später das Telefon.

Das Tageszeitungsgeschehen ist flüchtig. Es lebt vom Termindruck, gestattet nur selten zeitaufwendige tiefer schürfende Recherchen. Die Herausgabe von Nachschlagewerken, die ernst genommen werden wollen, verlangt dagegen Akribie, Geduld, oft einen langen Atem. Fiel Ihnen der Spagat zwischen diesen beiden Polen immer leicht?

Für mich besteht kein Widerspruch zwischen dem Tagesjournalismus, wie ich ihn verstehe, und wissenschaftlich-akribischer Tätigkeit. Ich lehne den flüchtigen Journalismus ab, für den die Geschichte, die Story, wie es heute heißt, wichtiger ist als die Detailtreue, die Wahrhaftigkeit der Fakten. Allerdings habe ich auch - das gebe ich gern zu - meine Schwierigkeiten mit den Wissenschaftlern, die nur ihre Sicht auf die Welt akzeptieren, nichts anderes gelten lassen und ihren Wert danach beurteilen, wie viele Fußnoten es pro Seite gibt. Mein Bestreben richtet sich auf eine Synthese zwischen beiden Polen: Eine vielen verständliche, also populäre Art der Darbietung von Fakten, die jeder Prüfung standhalten, die durch nichts zu erschüttern sind.

Das Thema Olympia, Olympische Spiele ist schon von den verschiedensten Seiten betrachtet worden. Gibt es denn überhaupt noch Neues zu entdecken? Wird Ihnen nicht eines Tages der Stoff für weitere Arbeiten ausgehen?

Als ich mich, wie bereits angeführt, ernsthafter mit der olympischen Geschichte zu beschäftigen begann, gab es nur wenig Gleichgesinnte. Das hat sich inzwischen geändert. In vielen Ländern forschen sportbegeisterte Autoren im olympischen Terrain; wir haben uns inzwischen sogar vereint zur International Society Of Olimpic History, kurz ISOH. Und es gibt immer noch weiße Flecken; je tiefer man eindringt in die Geschichte, desto mehr Fragen stellt man. Denn die Olympischen Spiele sind doch Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Das Beschäftigen mit den Zahlen, den Namen der Läufer, Turner, Schwimmer führt folgerichtig zu weiteren Fragen: Wo kommt der Sportler her? Wer hat ihm die Reise bezahlt? Warum grüßt er beim Abspielen der Hymne oder grüßt nicht? Lebensgeschichten tun sich auf, Schicksale. Was passierte mit dem Sieger nach seinem Triumph? Wie fand er zum Sport? Wie endete er? Die Sportgeschichte wird zur Kulturgeschichte; Olympia ist das Spiegelbild der jeweiligen Zeit. Und auf einmal weitet sich der Blick immer mehr. Die Neugierde kann einfach nicht befriedigt werden.

Mit welchen Quellen arbeiten Sie?

Nur im äußersten Notfall nutze ich Sekundärquellen. Am kompetentesten sind natürlich Zeitzeugen; die Olympioniken selbst oder Verwandte, Nachkommen, Bekannte, Freunde. Mit jeder Generation verschwinden diese Zeitzeugen, und ich bedaure, daß ich nicht schon früher jede Gelegenheit genutzt habe, um noch lebende Personen nach ihren olympischen Erinnerungen zu befragen. Eine gute Quelle sind auch die offiziellen Auswertungen der Olympia-Ausrichter. Das sind zumeist sehr umfangreiche, aufwendig zusammengestellte Werke, die nur in kleiner Stückzahl produziert werden und sehr teuer sind. Sie kosten mitunter mehrere tausend Mark. Doch die Investition ist notwendig, will man solide arbeiten.

Ist man bei der Auswertung dieser Quellen vor Fehlern gefeit? Stimmen alle Fakten, die der Rezipient aufnimmt?

Natürlich gibt es Standardwerke, die jeder immer wieder gern benutzt. Und oft zieht sich tatsächlich ein Fehler, ein Irrtum durch jede weitere Publikation. Ein Beispiel aus meiner Arbeit: Ich habe irrtümlich in meinem Zahlenwerk „Die Olympischen Spiele von 1896 bis 1976“ für die Spiele von Mexiko 1968 und München 1972 exakt die gleiche Zuschauerzahl angegeben. Niemand hat das bemerkt, ich anfangs auch nicht. Und selbst in Werken, die im Jahr 1996 anläßlich 100 Jahre Olympische Spiele erschienen, sind diese Zahlen wieder verwendet worden. Ich habe sie selbst längst korrigiert; doch dieses Buch aus den siebziger Jahren dient offensichtlich vielen Statistikern als Grundlage für ihre Arbeiten, und so übernehmen sie eben auch die Fehler. Davor ist man natürlich nicht gefeit - und darum mein Bestreben um Originalquellen.

Bei der Fülle der Publikationen - welches Nachschlagewerk würden Sie als Ihr Hauptwerk betrachten?

Mit Olympia kompakt möchte ich meine umfassendste Arbeit beenden. Für die Winterspiele liegt sie bereits vor. Nun arbeite ich an den Sommerspielen. Der Interessent soll in diesen Nachschlagewerken alles, wirklich alles finden, was bei den jeweiligen Spielen wichtig oder weniger wichtig war. Natürlich alle sportlichen Zahlen. Dazu dann eben alles andere: verkaufte Eintrittskarten, Urkunden, Brief- und Sondermarken, Medaillen, Journalisten, Künstler.

Und daraus entstehen dann vielleicht wieder neue Geschichten ...

Bei Albert Meyer war das so. Ich hatte herausgefunden, daß bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen sieben Fotografen aus verschiedenen Ländern anwesend waren, darunter der Berliner Albert Meyer. Nach langem und zum Teil sehr aufwendigem Suchen fand ich 100 Originalfotos, die Meyer damals in Athen fotografiert hatte, und ich konnte aus ihnen eine Art Tagebuch zusammenstellen: Es gelang mir zu rekonstruieren, welches Foto Meyer an welchem Tag der Athener Spiele aufgenommen hatte. Und daraus entstand dann ein Buch, das sowohl das Leben des Albert Meyer würdigt, als auch die ersten Spiele der Neuzeit aus sehr persönlicher Sicht darstellt. Zudem erinnerte eine von mir zusammengestellte Ausstellung, die unter anderem bei den Jahrhundertspielen im Sommer in Atlanta gezeigt wurde, an den Fotografen Meyer. Man wird also nach wie vor bei seinem Suchen nach noch Unbekanntem in der olympischen Geschichte fündig und kann es auf verschiedene Weise auswerten oder interpretieren.

Ist der Sport für die Kunst ein ernstzunehmendes Darstellungs- oder Projektionsobjekt?

Natürlich haben sich die Künstler, vor allem Architekten, Literaten und Bildende Künstler, immer wieder mit dem Thema Sport beschäftigt. Doch war die Verbindung schon enger als in unserer heutigen Zeit. In der Antike ohnehin. Viele hellenische Künstler sahen in den Sportlern, in den sportgestählten Körpern das Idealbild des Menschen. Diese enge Verbindung dauerte meines Erachtens noch bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts. Dabei denke ich nicht nur an die Kunstwettbewerbe, die immer an die Olympischen Spiele gekoppelt waren. Gerade im ersten Drittel unseres Jahrhunderts haben sich auch viele Dichter des Sports als Ausdruck des Lebenskampfes angenommen, von Jack London bis Bert Brecht, von Georg Bernard Shaw bis Ernest Hemingway. Und im berühmten Romanischen Café in Berlin saßen in den zwanziger Jahren die Sportgrößen jener Jahre mit der Kunstszene an einem Tisch. Für mich hat sich dann allmählich der Sport aus dieser Freundschaft entfernt. Er nahm marktschreierische Züge an, verriet immer öfter die hehren Ziele, die er sich einst gestellt hatte. Für mich steht aber trotzdem fest: Der Sport, wohin er auch geht, wird auch künftig die Künstler beschäftigen. Denn er war, ist und bleibt ein Teil der Gesellschaft, die sich mit all ihren Widersprüchen auch in ihm spiegelt.

Die technische Entwicklung ist natürlich auch nicht an dem Buch, dem auf Papier geschriebenen Wort, vorübergegangen. Der Fernsehbildschirm oder das Computerbild können schon seit geraumer Zeit die Buchseiten ersetzen. Haben Sie damit Probleme?

Man darf sich den neuen Formen des Medienzeitalters nicht verweigern. Der Computer zum Beispiel erleichtert die Arbeit; in seinen Speichern steckt ein Großteil meiner Arbeiten. Für die Jahrhundertspiele im zurückliegenden Sommer in Atlanta habe ich an einer CD-ROM mitgearbeitet - eine interessante Arbeit, die mein Gesichtsfeld ohne Zweifel erweitert hat. Und doch glaube ich weiter an das Buch, an das gedruckte Wort. Ich möchte gern dieses gebündelte Wissen in der Hand halten können, es sinnlich erfühlen. Das wird sich wohl auch nicht mehr ändern.

Das Gespräch führte Klaus M. Fiedler


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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