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Helmut Fickelscherer

Die Etablierung
eines Genres

Bemerkungen zu: Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke.
Ein Lexikon. Herausgegeben von Erik Simon und Olaf R. Spittel.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1988, 350 S.

Vor zehn Jahren wurde ein bemerkenswertes Lexikon erarbeitet, das der DDR-Science-fiction; Stichdatum war Ende 1986, allerdings sind im Herstellungsprozeß auch 1987 publizierte Texte noch weitgehend mit einbezogen. Ende der achtziger Jahre ist damit dokumentiert, wie vielschichtig sich die Science-fiction in der DDR während vier Jahrzehnten entwickelt hatte. In dieser Zeit wurde auch - immer noch zögerlich - als Genre-Bezeichnung der Begriff Science-fiction verwendet, nachdem aus Gründen der Abgrenzung zu westlichen Buch- und Heftpublikationen die Romane und Erzählungen in der DDR als wissenschaftlich-phantastische, utopische oder phantastische Literatur bezeichnet worden waren. Bei der Einführung des Begriffs Science-fiction handelte es sich nicht um eine Äußerlichkeit, sondern um den Ausdruck wachsenden Selbstbewußtseins vieler Autoren, die sich als Mitglieder einer kontinenteübergreifenden Gemeinschaft zu fühlen begannen. Auch die Teilnahme an im kapitalistischen Ausland stattfindenden Euro- und World-Cons der Science-fiction-writer schien nicht mehr völlig unmöglich, obwohl hierbei zu den ideologischen Schwierigkeiten finanzielle hinzukamen. Eine wichtige Rolle spielte der bereits im März 1972 gegründete „Arbeitskreis Utopische Literatur beim Schriftstellerverband der DDR“ , der sich zu einer Interessenvertretung der Autoren entwickelte. Zahl und Bedeutung der SF-Schriftsteller nahmen ständig zu.

Dabei hatte die Entwicklung der DDR-SF sehr bescheiden angefangen. Als 1949 Ludwig Tureks Buch Die goldene Kugel erschien, das als erster SF-Roman der DDR gelten kann, waren darin die SF-Elemente nur oberflächlich eingesetzt. Überhaupt herrschte Unsicherheit, wie das Genre zu bewerten sei. Es gab zunächst wenig Traditionslinien, an die man anknüpfen konnte. Schon während der Nazidiktatur waren die Verbindungen zur anglo-amerikanischen SF - der eigentliche Begriff Science-fiction geht ja auf den Amerikaner Hugo Gernsback zurück - abgebrochen worden, und der kalte Krieg verhinderte eine Wiederanknüpfung. Auch die unmittelbare deutsche Traditionslinie konnte wegen nationalistischer Haltungen einiger Autoren von der dem Antifaschismus verpflichteten DDR nicht fortgeführt werden. Genannt sei hier als Beispiel Hans Dominik, der sich angepaßt hatte und der nun verpönt war, als - wie mehrmals in diesem Jahrhundert - eine neue Anpassung gefordert wurde.

Diesen komplizierten Neubeginn beschreiben Erik Simon und Olaf R. Spittel, die Herausgeber des Lexikons, in den ersten Kapiteln eines achtzigseitigen Essays über die Entwicklung der DDR-SF, der den ersten Teil des Bandes ausmacht und mit Faksimiles wichtiger Buchtitel bebildert ist. Nach einem Exkurs zu den Quellen deutscher SF im 19. und 20. Jahrhundert (Kurd Laßwitz, Paul Scheerbart) widmen sie sich den SF-Publikationen zwischen Kriegsende und Gründung der DDR. Die eigentliche Entwicklung der DDR-SF wird dann von ihnen in den folgenden Kapiteln in mehrere Etappen unterteilt. Deren erste, die überwiegend auf technische Erfindungen orientierte SF der fünfziger Jahre, umfaßt die Namen H. L. Fahlberg, Klaus Kunkel, Heinz Vieweg, Eberhardt del'Antonio, Günther Krupkat. Doch: „In den fünfziger Jahren erschienen in der DDR insgesamt nicht mehr als 11 SF-Romane und pro Jahr im Durchschnitt 5 bis 6 Erzählungen.“

Am Anfang der zweiten Entwicklungsetappe steht das Abenteuer Raumfahrt, zeitlich markiert durch die ersten Erfolge der praktischen Raumfahrt Ende der fünfziger Jahre, die Vorstöße ins All zum vorherrschenden Thema bis etwa 1972/73 machten. Der Raumflug wird als „technische Großtat und heroisches Abenteuer“ dargestellt (Horst Müller, Carlos Rasch, Herwarth Ball/Lothar Weise), in Erweiterung des technischen Abenteuers werden irdische Raumfahrer in „interplanetare Revolutionen“ verstrickt (z. B. bei Richard Groß), oder gesellschaftlich hochentwickelte Außerirdische treffen auf eine alte irdische Zivilisation (dieses „paläoastronautische Motiv“ findet sich bei Günther Krupkat, Carlos Rasch, Wolf Weitbrecht, Herbert Ziergiebel). Gegen Ende dieser zweiten Etappe entstehen komplexe Gesellschafts- und Charakterbilder, es gibt aber auch den untauglichen Versuch, mittels einer sogenannten Nah- oder Realphantastik das Genre stärker den Erfordernissen des sozialistischen Realismus anzunähern, gleichsam eine Rückkehr zum Produktionsroman auf phantastischer Ebene anzustreben. Erfolgreicher war die „erste Verwendung von SF-Motiven als unverhüllte literarische Konvention“ (diese spielerische Nutzung zuerst bei Curt Letsche und Gerhard Branstner).

Seit Anfang der siebziger Jahre kann man von einer weiteren Entwicklungsetappe sprechen. Es tritt eine breite Auffächerung des Genres ein, hervorgerufen durch eine „Öffnung der DDR-SF für Impulse von außen“ . „Bis weit in die sechziger Jahre hinein war die Science-fiction in der DDR gegenüber Entwicklungen der internationalen SF und ihren traditionellen Kunstgriffen ebenso verschlossen wie in bezug auf die Errungenschaften und Tendenzen der übrigen Gebiete der Weltliteratur ... In den siebziger Jahren wurde die Isolation durchbrochen ...“ , und zwar leitet sich dieser Prozeß von einer Verbesserung des Angebots ausländischer SF her. Wichtige Bücher sowjetischer Autoren werden übersetzt, auch erscheinen Erzählungen von Josef Nesvadba und Werke von Stanislaw Lem, Anthologien internationaler SF werden veröffentlicht: Marsmenschen (Hrsg. Klaus Walther); Der Diamantenmacher, Die Ypsilon-Spirale, Das Zeitfahrrad (Hrsg. Edwin Orthmann). Später kommen zahlreiche Länderanthologien aus Ost und West hinzu. Bücher von K. Fialkowski, H. W. Franke, P. Boulle, R. Merle, R. Bradbury, I. Asimow, U. K. Le Guin, S. Komatsu u. a. werden in der DDR vorgestellt.

Prominente Schriftsteller erkennen ebenfalls die Möglichkeiten der SF und nutzen sie für sich: Anna Seghers, Christa Wolf, Franz Fühmann, Günter Kunert, Günter de Bruyn, Irmtraut Morgner, Rolf Schneider, Erich Köhler, Karl-Heinz Jakobs ...

All das verursacht einen erheblichen Aufschwung der DDR-SF, eine Vielzahl neuer Autoren bringen das Genre voran: Karl-Heinz Tuschel, Alexander Kröger (beide debütierten bereits Ende der sechziger Jahre), Hans-Jürgen Dittfeld, Klaus Frühauf, Rainer Fuhrmann, Rolf Krohn, Alfred Leman, Peter Lorenz, Klaus Möckel, Gert Prokop, Heiner Rank, Arne Sjöberg, Hans Taubert, Bernd Ulbrich, Wolf Weitbrecht u. a.

Zum erstenmal gibt es auch Texte, in denen sich das SF-Genre nicht ganz ernst nimmt, gibt es einen „souveränen Umgang mit dem SF-Instrumentarium: Humor, Satire, Parodie“ (Gerhard Branstner, Johanna und Günter Braun, Reinhard Heinrich, Wolfgang Kellner, Erik Simon, Günter Teske u. a.).

Die achtziger Jahre bestätigen die Aufwärtsentwicklung der DDR-SF, auch hier wieder neue Namen: Angela und Karlheinz Steinmüller, Hans Bach, Heiner Hüfner, Wolfram Kober, Ernst-Otto Luthardt, Gottfried Meinhold, Thomas K. Reich, Michael Szameit u. a. Das Genre der Science-fiction ist nun etabliert, es gibt Veröffentlichungen unterschiedlichster literarischer Qualität auf den beiden traditionellen Gebieten, der Wellsschen Linie, die mehr weltanschaulich orientiert ist, und der Vernesschen Linie, die das Abenteuerliche bevorzugt. Und es existieren natürlich viele Verknüpfungen beider Linien, mitunter auch humorvoll gestaltet. Und leider gibt es auch neue Bücher, die längst überholt geglaubte Klischees bedienen und trotzdem ihre Leser finden. Es herrscht also ganz normaler Literaturbetrieb, „so daß Gesamtbewertungen der DDR-SF nunmehr endgültig durch eine differenzierende Analyse der Werke einzelner Autoren ersetzt werden müssen“ .

Die „differenzierende Analyse“ wird im lexikalischen Teil des Bandes vorgenommen. Dieser Hauptteil stellt die Biographien und Veröffentlichungen von 84 AutorInnen und HerausgeberInnen vor, vom Autor Erhard Agricola bis zur Herausgeberin Gerda Zschocke. Neun Fachleute haben die einzelnen Artikel, die mit Autorenfotos und Abbildungen zahlreicher Buchtitel illustriert sind, verfaßt und mit Sachverstand die Werke der Autoren und die Anthologien der Herausgeber eingeschätzt, Weiterentwicklungen, aber auch Stagnationen im literarischen Schaffen der SF-Schriftsteller angemerkt. Die einfühlsamen und in Achtung vor der Arbeit des Autors vorgenommenen Kurzrezensionen machen den bleibenden Wert des lexikalischen Teils aus. Da bleibt kaum eine Erzählung unerwähnt, und sei sie noch so kurz, es werden Grundthemen und Gestaltungsprinzipien der Autoren erörtert; selbst einer der frühen Autoren der DDR-SF wie Arthur Bagemühl, heute weitgehend vergessen, ist aufgenommen, und man erfährt, daß sein einziger Roman, Das Weltraumschiff, „eine für seine Zeit beachtliche Breitenwirkung“ erzielte.

Bemerkenswert ist auch der Umgang mit „komplizierten“ Autoren wie den Brauns, die zu den herausragenden SF-Schriftstellern gehören. Kompliziert in dem Sinne, daß ihnen mehrmals von der die Druckgenehmigungen erteilenden Hauptverwaltung sogenannte ideologische Schwierigkeiten „attestiert“ wurden. Klugerweise wird dieser zermürbende Streit nicht ins Lexikon hineingetragen, wo die Werke von Johanna und Günter Braun auf acht Seiten ausführlich betrachtet werden. Ihre nur in der Bundesrepublik Deutschland erschienenen Bücher werden - wie ganz selbstverständlich - ebenfalls erwähnt und besprochen. Und der „geübte“ DDR-Leser konnte natürlich sogleich einordnen, was es bedeutete, wenn hinter den Titeln Das kugeltranszendentale Vorhaben und „Der x-mal vervielfachte Held in Klammern steht: „1983 in der BRD“ bzw. „1985 in der BRD“ .

Auch ein Autor wie Frank Töppe, der 1983 in die BRD übersiedelte, wird nicht zur Unperson, und ihm wird sogar bescheinigt, daß sein Buch Regen auf Tyche (1978) „eine der besten Erzählungssammlungen der DDR-SF“ ist.

Solche Sachlichkeit ist nicht ganz selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß das Verhältnis zwischen Anhängern der Science-fiction und staatlichen Institutionen immer mal wieder Trübungen erfuhr. 1973 wurden beispielsweise Mitglieder des Stanislaw-Lem-Clubs, eines SF-Fanclubs, an der TU Dresden exmatrikuliert, weil sie (durchaus humanistische) westliche SF-Literatur verbreitet hatten. Damals herrschte große Unsicherheit, wie die sich nunmehr sprunghaft entwickelnde Science-fiction überhaupt einzuschätzen sei, und Vertreter des Kulturbundes, unter dessen Fittichen sich SF-Fanclubs (die natürlich nicht so hießen) ansiedeln wollten, forderten vom Arbeitskreis Utopische Literatur Aufklärung und ideologischen Rückhalt. Auch aus diesem Grunde erschien 1978 als Sonderheft des Schriftstellerverbandes die Broschüre Wissenschaftliche Phantastik. Autoren der Deutschen Demokratischen Republik (Redaktion: Henry Günther, Ekkehard Redlin), in der 26 SF-Autoren vorgestellt werden und in deren Vorbemerkung es heißt: „Diese Publikation will ... eine Vorstellung von der Vielfalt vermitteln, die sich auf diesem Literaturgebiet herausgebildet hat, ob die Verfasser nun bereits in einem Schriftstellerlexikon aufgenommen worden sind oder nicht.“ Verwirrende Vielfalt und Autoren, die bisher nirgends erwähnt waren, gaben also Anlaß zu mißtrauischer Wachsamkeit. Dieses Sonderheft 1978 kann als ein bescheidener Vorläufer des vorliegenden Lexikons gelten.

1982 wurde dann - sozusagen als Vorstufe des Lexikons - auch von Erik Simon und Olaf R. Spittel Science-fiction in der DDR. Personalia zu einem Genre veröffentlicht (Verlag Das Neue Berlin). Hier sind bereits 54 Autoren und Herausgeber Gegenstand der Betrachtung. Und neben einer ausführlichen Vorbemerkung gibt es einen Bericht von Heiner Rank: „Zehn Jahre Arbeitskreis Utopische Literatur“ sowie im Anhang eine Besprechung von Dissertationen zur Science-fiction in der DDR. Man war also immer noch bemüht, das Genre in den Blickpunkt der Literaturwissenschaft und -kritik zu rücken, die in der DDR (wie überhaupt im deutschsprachigen Raum, im Gegensatz beispielsweise zu Frankreich) existierende Kluft zwischen „ernster“ und Unterhaltungsliteratur zu überbrücken.

Im 1988 erschienenen Lexikon wird auf diesen Anhang verzichtet, statt dessen ist eine übersichtliche „Kurzbibliographie der DDR-SF-Literatur 1949-1986“ aufgenommen worden. (Ausführliche Bibliographien zur DDR-SF veröffentlichte Olaf R. Spittel in den Almanachen Lichtjahr. Und Hans-Peter Neumann erfaßte den gesamten Zeitraum der DDR-SF zunächst mit seinem bibliographischen Beitrag in den Studien zur DDR-Science-fiction Das Lichte Morgen von Angela und Karlheinz Steinmüller und dann mit dem akribisch recherchierten Buch: Die Bibliographie der DDR-Science Fiction, Edition AVALON, 1996.)

Als Erik Simon und Olaf R. Spittel das Science-fiction-Lexikon veröffentlichten, schrieben sie im Vorwort: „So versteht sich der vorliegende Band als erste eingehende Gesamtschau auf vier Jahrzehnte SF-Geschichte in der DDR; er will gleichermaßen Nachschlagewerk wie kritisch ordnende Bestandsaufnahme sein ...“ Damals ahnte noch niemand, daß sich zwei Jahre später solch eine Bestandsaufnahme mit einem abgeschlossenen Literaturgebiet befassen würde. Es wäre zu wünschen, daß das Lexikon Die Science-fiction der DDR Eingang in ein gesamtdeutsches SF-Nachschlagewerk findet.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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