Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Rudolf Jürschik

„Pflücken, bündeln, ernten“

Lesen, was man sehen sollte

Welch zivilisationsgeschichtlicher Erfahrungswert offenbart sich uns in der Wortbedeutung des lateinischen „legere“ - lesen.

Welche Verantwortung also übernimmt einer, der uns empfiehlt, ein bestimmtes Buch zu lesen, bzw. in ihm zu lesen oder es als Nachschlagewerk immer wieder zu Rate zu ziehen.

Hiermit empfehle ich das Buch „Schwarzweiß und Farbe“ . Warum?

Zunächst sollte man sich des Widersinns einer Empfehlung bewußt sein, über etwas zu lesen, das man dem Wesen der Sache nach sehen sollte. Schließlich geht es um Filme. Um die „DEFA-Dokumentarfilme 1946-92“ . So informiert, weckt schon der doppelsinnige Titel Interesse. Was ist ihre fotochemisch bedingte Beschaffenheit schon gegen ihren Wert als Dokument und/oder gar hinsichtlich des ästhetisch-künstlerischen, des ideellen, auch ideologischen Wertes von Filmen und ihrer in sich vielschichtigen Funktion. Wodurch sie ja wiederum Zeit dokumentieren. Und schon vor jeder Lektüre ahnen wir, wie schillernd sich der Wert-Begriff erweisen wird. Zu lesen ist, wo besser gesehen werden sollte, schon deshalb, weil Filme im gravierenden Unterschied zu den Werken anderer Künste zwecks ihrer sinnlich-geistigen Wahrnehmung leider nicht immer frei verfügbar sind; und, weil eine Orientierung unerläßlich ist, bedenkt man, daß allein das hier gewählte Bezugsfeld knapp zehntausend Filme umfaßt. Das setzt voraus, zu „bündeln“ - wie auch immer. Aber schon mit jedem Zuordnen und erst recht mit jeder Auswahl beginnt man zu werten. Das macht angesichts der gegenwärtig so nachdrücklich geltend gemachten Forderung nach „wertfreier Darstellung“ jedweder Geschichte solcherart verlegerische Unternehmung - scheinbar! - von vornherein suspekt. Dieser ihr (notwendig) immanenten Problematik muß sich aber stellen, wer dergleichen schreibt, verlegt oder liest.

Das Buch regt mit fortschreitender Lektüre immer nachhaltiger zum Durchdenken solcher übergreifender historiographisch- methodologischer Fragen an. Mehr noch: Dank der gattungsspezifisch möglichen, aber durchaus nicht immer wirklichen Nähe des Dokumentarfilms zum Zeitgeschen fordert es zwingend dazu heraus. Denn mit den Bildern von (Zeit)Geschichte geht es nolens volens um ein Geschichts-Bild. Mit größerem Gewinn wird es demnach lesen, wer sich selbst dazu positioniert: in Übereinstimmung, fragend, widersprechend und unbedingt offen dafür, daß nicht nur Fakten, sondern auch Bilder signifikant sind. Als Abbilder von Wirklichem und wertintendiertes „Bild“ in einem.

Die ständige Verfügbarkeit der audiovisuellen Medien, die darin vorherrschende „Flut der Bilder“ lassen ein Denkangebot zur skizzierten Problematik dringender denn je erscheinen. Dergestalt, daß es uns, den Rezipienten, durch die Mitbestimmung der Verlaufsform der Rezeption ermöglicht, es uns im Wortsinn anzueignen: durch Lesen.

Moderne Kommunikationstechnologien werfen freilich auch Fragen anderer allgemeiner Art auf. Das vielfach angekündigte „telematische Ende der Gutenberg-Ära“ , um eine Formulierung des Medientheoretikers Vilém Flusser aufzugreifen, läßt ein Buch zu einem bewegten Bildmedium schon an sich anachronistisch erscheinen. Hinsichtlich des Aufwandes als machbar einmal vorausgesetzt, böten CD-ROM, Bildplatte u. a. gewiß die Chance einer wesentlich umfassenderen, damit genaueren und differenzierteren Information sogar in Einheit mit anschaulicher Wahrnehmung des Gegenstandes: der Filme. Wenigstens in Ausschnitten, aber eben doch bewegte Bilder und Life-Ton. Aber, so ist zu fragen, schrumpft damit nicht zugleich alles auf das TV-Format und die rein faktologische Information? Offen bleibt die Frage, aus welchen zeittypischen Umständen und Befindlichkeiten heraus, von welcher unaustauschbaren Biographie her ihr Gewordensein und Wirken zu verstehen ist. Gewiß, ohne Information kein Verstehen. Aber auch die größte Dichte „wertfreier“ Information garantiert mir kein Verstehen des Funktionierens eines auf Sinngebung angelegten Kommunikations-Zusammenhanges. Weil dieser seiner Natur nach nicht nur Informationsfluß, sondern wesentlich auch „Kräftespiel“ wertorientierter Subjekte ist, wird man auch in der Reflexion seiner Geschichte und ihrer Darstellung diesen „Teufelskreis“ nur durchbrechen können mit dem Bekenntnis: „Ich sehe die Sache nach den und den Erfahrungen so und so.“

Dem kommt ein Gegenstand sogar noch entgegen, wenn er in gewisser Weise „abgeschlossen“ ist. Den DEFA-Film, mithin auch den „DEFA-Dokumentarfilm 1946 - 92“ kann man in diesem Sinne als ein abgeschlossenes eigenwertiges Kapitel der deutschen Filmgeschichte betrachten. Schon dies erweist sich angesichts vielfältig praktizierter Verdrängungen als bemerkenswertes Bekenntnis. Ein solches liegt nach Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, DEFA-Spielfilme 1946-1992 mit „Schwarzweiß und Farbe“ schwarz auf weiß vor. Und keine seriöse Kunst- und Kultur-Geschichtsschreibung wird fortan an diesen Büchern vorbeikommen. Sie sind zugleich unentbehrliche Sammel- und Nachschlagewerke.

Wie schon das Spielfilm- bietet das Dokumentarfilm-DEFA-Buch Stoff für ganztägige Symposien. Nicht allein der Fülle wegen, sondern vor allem bedingt durch die Besonderheiten seines Gegenstandes. Gemeint ist damit der unmittelbar-mittelbare Bezug der „nichtfiktiven Gattungen“ des Films der DDR, vornehmlich der Dokumentar-, aber auch der populärwissenschaftlichen Filme und natürlich der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ zum Zeitgeschehen und damit zur Politik. Folglich steht immer beider Realitätssinn mit zur Debatte, egal, wie man sich im einzelnen den in sich durchaus verschiedenartigen Filmen dieser Gattungen nähern mag. Das wiederum macht die vorliegende Publikation über die Film- und Kulturgeschichte im engeren Sinne hinaus belangvoll und aufschlußreich insbesondere für den gegenwärtigen Umgang mit der Geschichte des Alltagslebens in der DDR und die Politik der SED, ebenfalls weit über deren Kulturpolitik hinaus.

Unter der Redaktion von Günter Jordan und Ralf Schenk haben auch für diese vom Filmmuseum Potsdam herausgegebene Publikation mehrere Autoren, Filmwissenschaftler und Filmemacher, geschrieben. Neu ist, daß sich auch ein Politikwissenschaftler und Historiker aus der „alten Bundesrepublik“ diesem DDR-spezifischen Gegenstand zugewandt hat.

Nach einer Betrachtung über
DIE FRÜHEN JAHRE 1946 bis 1952 wird unter ideell bestimmenden Aspekten den Dezennien gefolgt:
VON STAHL UND MENSCHEN 1953 bis 1960,
AUFTRAG: PROPAGANDA 1960 bis 1970,
ZEIT DER VERPASSTEN MÖGLICHKEITEN 1970 bis 1980,
IM DÄMMERLICHT DER PERESTROIKA 1980 bis 1989 und
DER LETZTE AKT 1989 bis 1992.

Dem schließen sich spezifizierte Darstellungen an:
DER AUGENZEUGE,
DER POPULÄRWISSENSCHAFTLICHE FILM DER DEFA,
DOKUMENTARFILME AN DER BABELSBERGER FILMHOCHSCHULE,
DIE STAATLICHE FILMDOKUMENTATION und
DIE LEIPZIGER DOKUMENTAR- UND KURZFILMWOCHE.

Das heißt, auf die nichtfiktiven Gattungen bezogen, wird das Ganze des lebendigen Filmprozesses in der DDR gefaßt; auf immerhin 382 großen doppelspaltigen Seiten und mit treffend erinnerndem Bildmaterial, Szenen- und Arbeitsfotos, untersetzt.

Schon der Überblick läßt gewiß verstehen, daß es dem Autor hier unangemessen erscheint, dieses Kompendium zu referieren oder gar zu rezensieren. Bleibt der Weg, den besonderen Charakter dieses Buches hervorzuheben, auf übergreifende Fragen hinzuweisen, es unter verschiedenen Aspekten gewissermaßen als eine „multifunktionale“ Publikation vorzustellen.

Es gibt einen guten Grund, mit dem Anhang anzufangen: Erfahrungen aus der Arbeit von Programmkinos und ähnlicher, auf anspruchsvolle Filmkommunikation gerichteter Aktivitäten. Zum 100. Jubiläum des Films 1995 und anläßlich von 50 Jahren DEFA 1996 wurde mehr als üblich zu einschlägigen Lexika gegriffen. Ob nun über Titel oder die Namen der Regisseure gesucht wurde - zum DEFA-Film, d. h. zu einem ganzen und geschichtlich bedingt sehr eigenständigen Kapitel deutscher Filmgeschichte, war (zu) wenig zu finden. So manche (alt)bundesdeutsche Publikation zeugt von auffallender Ignoranz. Von einer Ausnahme wie „CINEGRAPH“ , dem Lexikon zum deutschsprachigen Film, abgesehen, wo schon seit Jahren vor der Wende systematisch DEFA-Filmschaffende aufgenommen wurden. Da erwies sich der Anhang des 1994 erschienenen DEFA-Spielfilm-Buches als höchst verläßliches Nachschlagwerk. Auf knapp 200 Seiten findet der Interessierte nebst Personen- und Titelregister eine vollständige Filmographie zu den über 700 Filmen mit Werk-, Stab- und Inhaltsangabe sowie Hinweise auf Publikationen zu den Filmen und Kritiken in etwa 80 Fachzeitschriften, Wochen- und Tageszeitungen. Womit ihm der Weg auch zu ihrer zeitgemäßen Wirkung und Wertung gewiesen ist. Die filmgeschichtlichen Abhandlungen (350 Seiten) und dieser Anhang in einem Band machten „Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg“ zu einem „Arbeitsbuch“ von hohem Rang. Man kann voraussagen, daß sich auch das gerade erst erschienene DEFA-Dokumentarfilm-Buch als ein solches erweisen wird. Daß der Anhang hier methodisch anders angelegt ist, ist vor allem vom Gattungsspezifischen der so verschiedenen nichtfiktiven Filme bestimmt. Vor dem Personen- und Titelregister (etwa 1 200 Namen und eben so viele Titel sind ausgewiesen) findet man auf über 60 randvoll kleinbedruckten Seiten „biofilmographische Angaben“ zu den Regisseurinnen und Regisseuren, die diese - soweit es möglich war - autorisiert haben. Auch das dürfte beitragen zur Gewißheit in der Arbeit mit diesem Buch.

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert: Da Personen der Zeitgeschichte aus Politik, Kunst, Wissenschaft und anderen Lebensbereichen einbezogen sind, kann man schnell ermitteln, ob es von ihnen oder über sie filmische Dokumente gibt bzw. wann und wodurch ihr Handeln in bezug auf das Filmschaffen in der DDR direkt relevant wurde. Was wiederum für Biographen und Historiker von besonderem Interesse sein kann.

Wie sich dieses Interesse an Personen festmachen läßt, wird es zugleich durch die dem Ganzen immanente „Chronik“ bedient. Dieses Buch ist auf seine Weise auch ein „Geschichtsbuch“ . Die Film-Periodika, insonderheit natürlich „Der Augenzeuge“ chronologisch gesehen - was für ein Erinnern oder Entdecken mit AHA-Effekten der vielfältigsten Art im „Zeitraffer“ . Was dank unserer Vorstellungskraft aber auch bei der Lektüre - durch Abbildungen zusätzlich stimuliert - eintritt. Sie macht deutlich, welche Bedeutung den Ereignissen zu ihrer Jetztzeit beigemessen wurde, und im Verhältnis zur Sicht von heute baut sich ein Feld der Spannungen auf, das zu einem guten Teil den geistigen Genuß dabei ausmacht. In einem gewissen Sinne verstärkt er sich noch mit Blick auf den Dokumentarfilm als vornehmlich künstlerische Aneignung von Wirklichkeit. Denn mit ihrem gnoseologischen Aspekt geht der axiomatische einher, das Moment der Wertung tritt deutlicher hervor, gebrochen in der subjektiven, scheint die zeittypische Sicht kräftig durch. Nicht zuletzt sind es benannte und/oder dem Leser auffallende Häufungen hinsichtlich von „Helden“ -Wahl, Themen und Problemen, aber auch Leerstellen, die sie verdeutlichen. Gleichsam wie in einem Spiegel (das Wort soll zur schnellen Verständigung stehenbleiben, obwohl es etwas Mechanisches hat) nimmt man den Verlauf eines öffentlichen Teils des gesellschaftlichen Prozesses von Selbstverständigung wahr, erfreut sich mancher An- und Einsicht und erschrickt über Zerrbilder und Blindstellen. Das ist kein Nebeneffekt. Das gehört zum gegenstandsbedingten Konzept des Buches. Also mußten die Autoren mit ihrer Filmgeschichte immer auch DDR-Geschichte mitschreiben. Aber wie wissenschaftlich gesichert ist diese denn schon geschrieben? Und konnte das vorhandene Angebot von den Autoren in diesem ihrem ersten angespannten Arbeitsgang schon ausreichend genutzt werden? Dennoch darf wohl angemerkt werden: Gelegentlich ist nicht zu überlesen, daß sie von dieser doppelten Aufgabe auch etwas überfordert waren. Dem unerläßlichen Anspruch eines konsequenten Historismus - auch im Umgang mit Filmschaffenden selbst - wird nicht jeder hinreichend gerecht, zuweilen schieben sich jetzt gängige vereinfachte Bilder vor die Analyse.

Produktiv gewendet: als „Geschichtsbuch“ gefaßt kann „Schwarzweiß und Farbe“ von der Geschichtsschreibung sehr wohl als Anregung aufgegriffen, als eine Aufforderung verstanden werden, gerade den so widersprüchlichen Prozeß der öffentlichen Selbstverständigung als Wirkungsfaktor im Geschichtsprozeß selbst seiner - auch existentiellen - Bedeutung entsprechend einzubeziehen.

Da die öffentliche - sprich: offizielle - Selbstdarstellung ein Bewußtsein, ein Bild von Geschichte, eine Auffassung vom Bestimmenden in der Geschichte einschließt, kommt jener Species des Dokumentarfilms besondere Beachtung zu, die, als Kompilationsfilm bezeichnet, vorwiegend mit historischem Bildmaterial arbeitet. An ihr ist das unumgängliche Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Verallgemeinerung, Tatsache und Interpretation, Wissen und Ideologie - übrigens auch Bild und Begriff - am empfindlichsten auszumessen. Und jede antithetische Gegenüberstellung war und ist kein Weg zur Wahrheit. Man wird sie als suchende Bewegung in diesem Spannungsfeld zu fassen haben und also nicht ohne Verständnis für die wertorientierten Vorstellungen der Suchenden zu ihrer Zeit. Das gilt wohl generell. Und so erinnert das Buch den Lesenden recht nachdrücklich an eine bleibende, ihrem Wesen nach philosophische Frage, worin derzeit weit und breit Verunsicherungen auszumachen sind. Daraus könnte sich erklären, warum die Überlegungen zu neuen Wertungen von Filmen gerade dieser Species - die Annäherung schwankt zwischen grobschlächtig rigoros und übervorsichtig - so wenig befriedigen. Wie schillernd der Wert-Begriff sein kann, läßt gerade der Blick auf diese Filme erkennen. Das Neben- und Ineinander von gültiger Sicht auf offengelegte Zusammenhänge im historischen Prozeß und offensichtlicher politischer Instrumentalisierung von Bildern der Geschichte im vermittelten Geschichtsbild - das ist der Stoff geschichtsphilosophischen Nachdenkens, den das Buch in Fülle anbietet und der wohl nie ausgeht, weil Politik immer einen Rahmen setzt.

„DEFA-Dokumentarfilm ist, kraft seiner Institutionalisierung, permanent‚Kunst im Auftrag‘“ , heißt es zum Geleit des Buches (S. 11). So ist es in seinen besten Teilen auch als ein „Essay zu Kunst und Politik“ zu lesen: sehr konkret und aufschlußreich in manchem Vorgang und Detail, sehr konzentriert um die Grundfrage „Öffentlichkeit“ als konstitutiv für Demokratie und aus der Erfahrung geschrieben, involviert gewesen zu sein. Deutlich wird: Die Entwicklung des Dokumentarfilmschaffens weist im Vergleich zu den anderen Künsten „Abweichungen“ auf, die auf der größeren Nähe zur Politik beruhen. „Bewegung“ in der Politik machte sich unmittelbar(er) geltend. Vielleicht wird man deshalb mit den diesbezüglichen Gedanken des Buches zum Durchdenken eines allgemein wichtigen, methodischen Problems, auch eines Phänomens, herausgefordert. Im Konfliktfall ist - zumeist zu Recht - immer von der Politik die Rede, wird die Abhängigkeit von ihr bewußt. Auffallend ist die Selbstverständlichkeit der Annahme des Freiraums der künstlerischen Arbeit, als hinge der nicht von der Politik ab. Zeigt sich darin nicht an, inwieweit Momente einer gesellschaftlichen Utopie - die Lösung der Antinomie von Geist und Macht z. B. - verinnerlicht war/ist? In der Frage steckt freilich eher die positive Variante zur Deutung des Phänomens. Die soll stehenbleiben.

Wo immer aber für „Kunst und Politik“ synonym „Geist und Macht“ gebraucht wird, da sei der Hinweis erlaubt, daß zwar die Macht immer bei der Politik, aber nicht immer Geist bei der Kunst ist.

Soviel zum Buch als ein „Essay“ - in ihm. Es ist auch ein „Bilder-Buch“ im Sinne einer Zusammenschau. Denn die komplexe Über- und Draufsicht hält Werte fest: die wichtigsten Film-Bilder von Vergangenem. Wenn aber Erhalten ebenso notwendig ist wie Ändern, dann müssen wir die Chance haben, dem Vergangenen möglichst in seiner sinnlich-wirklichen und dadurch überzeugend wahrhaftigen Gestalt neu zu begegnen. Insofern sind die Filme nicht nur Quelle für professionelle Historiker (die Filmgeschichtsschreiber eingeschlossen) und eine Möglichkeit für Soziologen, einen vergangenen Alltag sinnhaft zu erfassen - ihr Wert für uns liegt eben in der potentiellen Chance, etwas von unserem eigenen Gewordensein, unserer Einbindung in einen politischen, sozialen, sozio-kulturellen Prozeß erinnernd gerade in die unerläßliche individuelle Selbstverständigung einbeziehen zu können, nichts zu verdrängen, auch keine Selbstbestätigung. Um eine solche zu sein, müßte sie zu sehen sein. Wie meinte doch Jean-Paul Sartre: „Im Leben dessen, der liest, fehlt etwas, und das sucht er im Buch.“ Da findet er viel zu den Filmen und ihren/ unseren Sinnzusammenhang. Das vorliegende Buch eröffnet - unserer Vorstellungskraft vertrauend - dem Leser Räume, dies für sich zu tun, zu „ernten“ .

Wenn man - versuchsweise - mit Goethes „Der Sammler und die Seinigen“ denkt, kann man (ab)schließlich das Buch „Schwarzweiß und Farbe“ selbst auch als eine wunderschöne „Sammlung“ fassen. Wovon? Von Lebensbildern!

Darin vor allem liegt doch der unverlierbare Wert des DEFA-Dokumentarfilms. Immer wo Filmemacher aufrichtig und mit Achtung vor den Menschen gearbeitet haben, deren So-Sein und Befinden, ihr Selbst die Bilder ausfüllt, und wir die Wirklichkeit einer bestimmten Art zu leben schauen, da geschieht, was den Dokumentarfilm unersetztbar macht: daß wir uns inne werden, so wie sie zu mir gehören, gehöre ich zu ihnen im immerwährenden Fluß des Lebens.


Schwarzweiß und Farbe, DEFA-Dokumentarfilme 1946-92
Herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam, Redaktion Günter Jordan/Ralf Schenk.
Jovis Verlagsbüro, Berlin 1996, 463 S.


Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, DEFA-Spielfilme 1946-1992
Herausgegeben vom Filmmuseum Potsdam, Redaktion Ralf Schenk.
Henschel Verlag, Berlin 1994, 559 S.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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