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Jürgen Harder

„Die großen Deutschen . . .“

Zum Herausgeber-Konzept einer außergewöhnlichen Enzyklopädie

Die „neue Unübersichtlichkeit“ in concreto oder nur eine verschärfte schöne Qual der Wahl? Wie dem auch sei. Immer ausdifferenzierter in diverse fach-, sach- und gegenstandsspezifische Offerten lockt heute das ungeahnt weite Spektrum der Lexika. Auffällig: Einen festen Platz im vielfältigen Angebot von Nachschlagewerken hatten stets - und behaupten auch weiterhin - die biographischen Enzyklopädien. Das ist ermutigend. Sagt es uns doch: Das Interesse des Menschen am Menschen und für den Menschen ist ungebrochen. Ja, wenn es um Leben und Werk, um die sehr unterschiedlichen Erfahrungen seiner Artgenossen bei der Meisterung ihres Schicksals geht - dann scheinen Neugier und Wissensdurst des Homo sapiens unstillbar. Schließlich: Kann es überhaupt etwas „Spannenderes“ als die Biographie eines Menschen geben? Vorausgesetzt freilich: sie hat etwas von jenem berühmten Tautropfen, in welchem sich eine ganze Welt spiegelt. So ungebrochen das Interesse an Biographien und so unbestritten sicher der Platz von biographischen Lexika in der breiten Skala heutiger Enzyklopädien auch scheinen, die einschlägigen Projekte fordern immer aufs neue auch unsere kritische Aufmerksamkeit heraus. Am exemplarischen Modell: dem Fallbeispiel Die großen Deutschen unserer Epoche möchte ich deshalb Anspruch und Ergebnis eines derartigen biographischen Großprojekts einmal etwas näher betrachten.

„... ein höchst anspruchsvoller Titel“

Pünktlich zum kleinen Jubiläum eines großen Datums - dem fünften Jahrestag der deutschen Vereinigung - präsentierte der Propyläen Verlag Berlin und Frankfurt am Main der Öffentlichkeit den ebenso exzellenten wie höchst passenden Titel Die großen Deutschen unserer Epoche. Einer dieser Großen, Willy Brandt, dessen Lebenswerk durch die deutsche Einheit eine einzigartige Krönung erfuhr, blickt uns vom Hochglanzcover - würdig eingerahmt von Herbert von Karajan und Heinrich Böll - mit seiner unvergleichlich gewinnenden Art und charismatischen Ausstrahlung an - unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehend und verführerisch uns einladend zu Erwerb und Lektüre dieses stattlichen Bandes. Ediert wurde das enzyklopädische Werk von Lothar Gall. Auf den ersten Blick ist an diesem Buch alles groß: sein Anspruch und Umfang, die Tradition, die es fortschreibt, die Intention des Herausgebers, die Klasse und Kompetenz der einzelnen Autoren und - selbstredend - die Auserwählten: Die großen Deutschen. Bewußt angelegt als Fortführung des von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg herausgegebenen fünfbändigen biographischen Monumentalwerks Die großen Deutschen, erschien das Buch in seiner ersten Gestalt bereits 1985. Im Verständnis seines Herausgebers faßte es die Deutschen zusammen, die seit 1956 (dem Abschlußjahr der 5 Bände) für eine Würdigung in Frage kamen. Weil lebende Personen in dem Werk keine Aufnahme finden, ergänzt der jetzt vorliegende Band die Ausgabe von 1985 durch seitdem verstorbene hervorragende Persönlichkeiten. Insgesamt präsentiert er nun die Porträts von 53 verdienstvollen Deutschen.

Trotz des leicht veränderten Titels - und obwohl nicht ausdrücklich als solcher gekennzeichnet - gilt das Buch als „Sechster Band“ des oben erwähnten großen Sammelwerks. Selbstverständlich nicht nur der historischen Vollständigkeit halber sei unbedingt noch angemerkt: Dieses fünfbändige Werk verstand sich nach 1945 wesentlich auch als eine kritische Absetzung von jener „großen Reihe“ gleichen Namens, die Ende der 30er Jahre im faschistischen Deutschland mit den üblichen Akzentsetzungen und weitreichenden Verzerrungen erschienen war. Kontext und Hintergründe erlauben also keine Zweifel: Der von Gall edierte Band verdient eine besondere Beachtung und Würdigung. Als ein in enzyklopädischen Dimensionen angelegtes Fortsetzungswerk ist das Buch Die großen Deutschen unserer Epoche einerseits der eigenen Tradition und somit ganz bestimmten Standards und Maßstäben verpflichtet. Die nationale Repräsentanz dieses Werkes konfrontiert den Herausgeber andererseits mit Anforderungen, Ansprüchen und Erwartungen, die immer umstritten bleiben. Folgerichtig gibt es am Ende auch für alle Kritiken und Einwände, oder gar für Proteste und Entrüstungen, nur eine Adresse: den Herausgeber. Daher gilt mein Interesse hier der schwierigen Verantwortung des Herausgebers - dem spannungsgeladenen Konfliktfeld zwischen objektiver Verpflichtung, divergierendem öffentlichen Erwartungsdruck und subjektiver Einflußnahme.

Herausgeber Lothar Gall, Jahrgang 36, lehrt als ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und gehört zahlreichen wissenschaftlichen Kommissionen an. Bis vor kurzem war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. Als Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ ist er ein ebenso angesehener wie einflußreicher Mann. Besondere Beachtung fand sein Werk Bismark. Der weiße Revolutionär. Gall forschte ausgiebig über das deutsche Bürgertum und ist Mitherausgeber der Enzyklopädie deutscher Geschichte, die 1988 begonnen wurde und die auf mehr als 100 Bände konzipiert ist. Seine wissenschaftliche Qualifikation wie seine exponierten Positionen bzw. Funktionen in hochkarätigen Wissenschaftsgremien können als ausgezeichnete Voraussetzungen und beste Empfehlungen gelten, das von Heuss und anderen überkommene Erbe würdig fortzusetzen. Die großen Deutschen unserer Epoche - für den Herausgeber Lothar Gall ist das vor allem wegen der Betonung des bestimmten Artikels „ein höchst anspruchsvoller Titel“ .

Sklavische Bindung an die Tradition

Um so mehr provoziert der Titel freilich die Frage nach den Kriterien für „Größe“ . Bemerkenswert ist zunächst eine ebenso scharfe wie pointierte Abgrenzung: „Es gibt große Verbrecher, aber es gibt keine verbrecherische Größe.“ Gall hat dieses Ausschlußkriterium von Heuss übernommen. Damit freilich nicht genug: Auch hinsichtlich aller anderen Maßstäbe und Kriterien steht Gall ganz im geistigen Banne der von Heuss und seinen Mitherausgebern begründeten Tradition. Dies beginnt mit der selbstverständlichen Inanspruchnahme aller Großen - nicht nur Deutschlands sondern „des deutschen Sprachraums“ : Die außergewöhnlichen und weltweit geachteten Leistungen der schweizerischen Autoren Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch stehen als unschätzbarer Kulturbesitz der Menschheit ganz apart also auch für deutsche Größe. Und wer - wie selbstverständlich - den großen österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan in diesem Buch gewürdigt sieht - warum sollte er überhaupt noch nach dessen Nationalität fragen? Diese großzügigen nationalen Grenzüberschreitungen wären mir ausgesprochen sympathisch, würden sie aus einer europäischen kosmopolitischen Kulturtradition gespeist - der Goethes etwa. Leider spricht vieles dafür, daß hier geistig noch Restbestände des längst verflossenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation nachklingen.

Die Tradition schreibt sich fort über die demonstrative Dominanz von Repräsentanten aus den Wissenschaften und Künsten bis hin zur Orientierung an der guten alten Bildungselite. Dieser Bildungsschicht obliegt es nämlich maßgeblich, über die „Größe“ einer deutschen Frau oder eines deutschen Mannes zu befinden.

Hier beginnen meine Fragen an den Herausgeber. Sie konzentrieren sich vornehmlich auf die Grundsätze und Prinzipien, von denen sich Gall bei der Edition des Werkes Die großen Deutschen unserer Epoche leiten ließ. Um dabei Verdienst und Grenze seines editorischen Konzepts näher zu beleuchten, rücke ich drei Punkte ins Blickfeld: Galls Traditionsverständnis, seine Auswahlbegründung und schließlich seine Zweckbestimmung des Gesamtprojekts.

Kein Zweifel: Die Fortschreibung der monumentalen biographischen Reihe ist verdienstvoll. Leistungen und Werthaltungen bedeutender deutscher Persönlichkeiten werden so in originellen Lebensbildern für nachfolgende Generationen aufbewahrt. Problematisch wird es freilich, wenn die Verpflichtung gegenüber einer Tradition zur sklavischen Bindung an dieselbe mißrät. Denn eine Reihe von Widersprüchen und Defiziten des Projekts sind ausschließlich Galls kritikloser Huldigung seiner Vorbilder geschuldet. Er gerät dadurch unter das Niveau des von ihm hochgeschätzten Heuss: Sah dieser doch sein Werk immer „in die Zeit gestellt“ . Beim Herausgeber von Die großen Deutschen unserer Epoche ist davon wenig zu spüren: Die Zeit scheint bei ihm stillzustehen. Dies überrascht um so mehr, als Gall eigens den Epoche-Begriff neu in den Titel einführt. Diese „Neuerung“ dient ihm aber keineswegs dazu, sich auf das Neue „unserer Epoche“ wirklich einzulassen. Mit der Frage, inwieweit er die epochalen Umwälzungen seit dem Zusammenbruch des „Real-Sozialismus“ für sein Konzept fruchtbar zu machen sucht, will ich den Herausgeber gar nicht erst konfrontieren. Alle suggerierte Bedeutungsschwere des neu eingeführten Epoche-Begriffs dünnt sich jedenfalls aus zur rein formalen Eingrenzung geschichtlicher Zeitabschnitte. Der von Gall edierte sechste Band erscheint fünf Jahre nach der deutschen Vereinigung - und bleibt doch seltsam unberührt davon. So muß ich die Bedeutung meines Eingangshinweises auf das pünktliche Erscheinen dieses Buchs zu eben diesem Jubiläum nolens volens ein wenig „tiefer hängen“ . Weder in der Einführung in das Werk noch im Nachwort findet sich ein Wort von Gall zu dieser Zäsur, geschweige denn eine geistige Reflexion dieses tiefsten Einschnitts der jüngsten Geschichte Deutschlands. Geradezu grotesk wirkt es daher, wenn ein so ausgewiesener Historiker wie unser Herausgeber auch für das 1995 erschienene Werk - also vier Jahrzehnte nach dem Erscheinen des fünften Bandes! - die Maxime immer noch nicht gelten lassen will, „daß alle Geschichte nach 30 Jahren neu geschrieben werden müsse“.

Fragwürdige Auswahl: Große Frauen - Fehlanzeige

Kommen wir zum - wie Gall selbst sagt - „entscheidenden Punkt“ : dem Auswahlverfahren. Noch vor jede Definition und Begründung des Begriffs der historischen Größe setzt der Editor eine Primär-Instanz: die Bildungselite. Ihr wird die ausschließliche Kompetenz zugeschrieben bei der Bestimmung dessen, was die Lebensleistung eines Menschen überhaupt erst in den Rang von „Größe“ erhebt. Gall schreibt auch damit nur das Konzept des fünfbändigen Sammelwerks „Die großen Deutschen“ fort. Obwohl er - verblüffenderweise - selbst einräumt, daß von dieser Elite „der Begriff der historischen Größe niemals objektivierbar ist, daß er vielmehr die Werthaltungen in einer Bildungsschicht widerspiegelt“ , hält der Herausgeber dennoch an diesem Konzept fest. Damit nicht genug: In einer mehr als gewagten Weise gibt er das Urteil dieser Bildungselite für das Urteil der „Allgemeinheit“ aus: für das Urteil der Gesellschaft. Zumindest ein Teil dieser Allgemeinheit empörte sich vehement über eine derartige Gleichsetzung oder besser: über diese anmaßende Vereinnahmung. Der Grund: Die deutsche Bildungselite, auf die sich der Editor des Propyläen Verlags stützte, hat für den gesamten Zeitraum von 1956 bis 1994 nicht eine einzige Frau ausfindig machen können, die für eine Aufnahme in den vorliegenden Band hinreichend qualifiziert und würdig gewesen wäre. Herausgeber Gall erhielt dafür inzwischen eine öffentliche Quittung: Er wurde am 16. Juni 1996 von der Gleichstellungs-Stelle der SPD-Fraktion zum „Chauvi des Jahres“ gekürt.

Diese respektlose öffentliche Abmahnung einer der Honoratioren der deutschen Historiographie scheint um so mehr gerechtfertigt, als der Herausgeber anläßlich der Begründung und Erläuterung seiner Konzeption ausdrücklich jede Willkür der Auswahl in Abrede stellte, „auch wenn der eine oder andere Leser sich fragen mag, warum der oder der in die Sammlung aufgenommen wurde, der und der darin fehlt“ . Ein Auswahlverfahren jedoch, das ein „die“ nicht einmal in seinem Wortschatz führt - ich kann es nicht anders als pure Willkür nennen! Die berechtigte Aufnahme der breiten Phalanx großer Physiker (Max von Laue, Otto Hahn, Max Born, Werner Heisenberg) provoziert geradezu die berechtigte Frage nach Lise Meitner. Da Österreicher ganz selbstverständlich in dem Band vertreten sind, kann es sich beim Ausschluß Lise Meitners aus dieser Phalanx der Großen der Physik ebenfalls nur um eine höchst fragwürdige subjektive Einflußnahme handeln. Weiter: Wir finden selbstverständlich Thomas Bernhard, aber unverständlicher Weise nicht Ingeborg Bachmann in dem Buch - auch sie ganz offensichtlich ein Opfer von Machismo. Sieht man von den ob ihres unbestreitbaren Ausnahmecharakters wohl eher zu vernachlässigenden Sonderfällen Uwe Johnson, Ernst Bloch und Walter Felsenstein ab, konnte vor dem Gallschen Selektionsmechanismus sonst keine Persönlichkeit aus der DDR bestehen. Aber es war kein Geringerer als Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der nach der deutschen Vereinigung mit Nachdruck darauf verwies, daß insbesondere Künstler und Wissenschaftler aus der DDR Wichtiges und Bewahrenswertes in die deutsche Einheit einzubringen hätten. Selbstverständlich enthält Galls Band einen „Kernbestand“ von Persönlichkeiten, bei denen die Zustimmung nahezu „allgemein“ ist. Ich nenne hier nur einen Namen: Albert Schweitzer. Aber mit Blick auf die Namen, welche die vom Herausgeber selbst so bezeichnete „Randzone“ bilden, übe auch ich mich einmal in Willkür und erinnere wahllos an einige Persönlichkeiten aus dem inzwischen untergegangenen „zweiten deutschen Staat“ : Gustav Hertz und Robert Havemann, Anna Seghers und Arnold Zweig, Johannes Bobrowski und Franz Fühmann, Helene Weigel und Wolfgang Langhoff, Walter Markov und Werner Kraus, Fritz Cremer und Ernst Busch, Lea Grundig und Gret Palucca, Otto Nagel und Wieland Herzfelde, Paul Dessau und Erwin Strittmatter, Walter Janka und Konrad Wolf. Mitnichten meint die Erinnerung dieser Namen eine nachträgliche Forderung nach Aufnahme aller Genannten. Doch als Hinweis auf das Vorhandensein möglicher Kandidaten aus dem nicht mehr vorhandenen Lande darf meine willkürliche Namensreihe schon verstanden werden. Apropos: Galls Auswahlprinzip legt nahe, daß der Nobelpreis einem todsicheren Eintrittsbillett in den Orden der „Großen Deutschen“ gleichkommt. Wenn der Träger dieser weltweit höchsten Leistungswürdigung allerdings - wie Gustav Hertz - wichtige Lebens- und Schaffensjahre in der DDR verbrachte, scheinen sich wie von selbst Glanz und Würde des Nobelpreises zu verflüchtigen - und damit auch sein Bonus-Wert. Überhaupt: Wer bis ans Ende seiner Tage im „anderen deutschen Staat“ verblieb, hatte schlechte Karten, ins Buch der „großen Deutschen“ zu gelangen. Dagegen stand das Sammelwerk dem „westdeutschen“ Martin Heidegger von vornherein weit offen. Bekanntlich hatte sich dieser Deutsche nicht nur zeitweise glühend dem Faschismus verschrieben. Er sah sogar sein Werk, seine Philosophie in der nationalsozialistischen Bewegung glänzend bestätigt: sozusagen als „Wiederkunft des wesentlichen Seins im nichtigen Seienden“ . Dies alles warf keinerlei Schatten auf seine Größe. Für den Editor war es selbstverständlich, dem Mann (der nach dem gewichtigen Urteil von Jürgen Habermas und anderen bedeutenden Zeitgenossen zweifelsfrei ein Nazi war) seinen festen Platz im Pantheon der „großen Deutschen“ zuzuweisen. Die gleich mitgelieferte Unterbelichtung der dunklen Seiten des großen Denkers - der er war! - hat offenbar längst ihren Stachel als „befremdliche Provokation“ verloren. Außerdem: Heideggers Aufnahme ist zugleich ein weiterer Verweis auf die unvertretbare Mißachtung großer Frauen. Zumindest Kenner vermissen vor diesem Hintergrund Hannah Arendt, die große Politikwissenschaftlerin und Soziologin deutscher Herkunft. Die Aufnahme Heideggers bei gleichzeitiger Nichtberücksichtigung der Jüdin Arendt sagt auch etwas aus über ein Herausgeber-Konzept.

Die Kriterien für „Größe“ und ihre Tücken

Das vom Herausgeber vertretene Auswahlverfahren führt uns unmittelbar an die Zweckbestimmung des gesamten Projekts heran: Was die Bildungselite in einzelnen Individuen als historisch groß bezeichnet, gibt das Wertsystem der Gesellschaft wieder und dient zugleich dessen Bestätigung und Bekräftigung. Um diesem Anspruch mit seinem Sammelwerk Die großen Deutschen unserer Epoche voll zu genügen, macht Gall drei Gesichtspunkte geltend.

Erstens. Den Benutzern des Nachschlagewerks muß eine überzeugende „Vorstellung“ von individueller Größe, von einer „Maßstäbe setzenden Existenz“ gegeben werden. Zu dem Behufe setzt der Herausgeber kurzerhand einen Widerspruch außer Kraft. Hatte er zunächst eingeräumt, daß der Begriff der Größe durch eine Bildungselite „niemals objektivierbar“ sei, zaubert er gewissermaßen plötzlich ein „objektives Kriterium“ herbei: „Bei der Bewertung als ‚groß‘ spielt die objektivierbare, verdinglichte und zugleich eindeutig individualisierbare Leistung eine zentrale Rolle“ . Gall verbindet die Vorstellung von Größe folglich in erster Linie mit dem Bereich der Kunst und Wissenschaft. Damit rechtfertigt er zugleich das enorme Übergewicht von Künstlern und Gelehrten, von Schriftstellern und Wissenschaftlern in dem Sammelwerk. Als groß erscheint der „große Einzelne“ , der sich und sein Werk - seine isolierbare, individuelle Leistung repräsentiert. Der praktische Nutzen eines solchen Kriteriums liegt auf der Hand: Es erleichtert die Auswahl kolossal. Das Problematische indes: Es schränkt die Suche von vornherein ein - und schließt damit bestimmte potentielle Bewährungsräume, Tätigkeitsfelder und Wirkungsbereiche für Größe völlig aus. Daß Gall mit diesem Verfahren bei einer einseitigen Favorisierung von Künstlern und Wissenschaftlern landet, ist nur konsequent. Doch wirklich konsequent und auch ehrlicher wäre dann gleich die Edition eines Titels wie „Die großen deutschen Künstler und Wissenschaftler“ gewesen. Denn: Von den insgesamt 53 in das Sammelwerk aufgenommenen Persönlichkeiten entfallen 43 auf den weit gefächerten Wissenschafts- und Kunstbereich. Daneben sind diese 7 Politiker vertreten: Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Heinrich Brüning, Ludwig Erhard, Carlo Schmid, Franz Josef Strauß, Willy Brandt. Die verbleibenden 3 Plätze teilen sich: Martin Niemöller, Axel Springer und Hermann Josef Abs.

Zweitens. Der Herausgeber legt allergrößten Wert darauf, sein Konzept „in deutlichen Widerspruch zu vielerlei aktuellen Einschätzungen“ zu setzen. Selbstverständlich maße ich mir hier keine weitere aktuelle Einschätzung an, aber einige Fragen, deren Berechtigung wohl kaum bezweifelt werden kann, möchte ich schon an dieses Konzept richten. Dieses Konzept hebt nicht nur von millionenfachen andersartigen Existenzweisen und Erfahrungen ab. Es stellt sich bewußt in diametralen Gegensatz zum „normalen“ Leben. Diese „Umkehrung der Alltagsverhältnisse“ in der modernen Gesellschaft, wo alles zunehmend auf die Funktion und Gruppenrepräsentanz ausgerichtet ist, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist gewollte Programmatik. Die Begründung lautet etwa so: Weil Freiheit der Entscheidung und der Gestaltung im „normalen“ Leben, in dessen immer enger und bindender werdenden Verflechtungen immer weniger möglich ist, sei der Kulturbereich letztes Refugium individueller Freiheit. Mehr noch: In bewußtem Gegensatz zu allen realen Entwicklungen unserer Lebenswelt sieht Gall in der exemplarischen Künstlerexistenz Hoffnungen und Perspektiven für unsere Zukunft. Diesem unverkennbar utopischen Zug soll hier nicht etwa mit Hohn begegnet werden. Noch weniger will ich meine Hochachtung einer Größe versagen, nur weil sie sich als außergewöhnliche Leistung eines Einzelnen ausweist. Aber Galls Verweis auf immer geringer werdende Möglichkeiten von Freiheit der Entscheidung und der Gestaltung in der modernen Gesellschaft verfehlt ja gerade den axiologischen Knackpunkt: Denn was ist eine Freiheit noch wert, wenn sie keinen Platz mehr in der Gesellschaft hat? Freiheit der Entscheidung und der Gestaltung „am Rande“ oder gar außerhalb der Gesellschaft läuft doch Gefahr, eine Freiheit von Verantwortung zu werden. Unsere moderne Gesellschaft mit ihren unleugbaren wachsenden Verflechtungen, Abhängigkeiten und Einschränkungen beruht ganz entscheidend auf Leistungen ihrer Mitglieder, und die sind ohne Kreativität nicht zu haben. Indes: Kreativität und Leistung in unserer Gesellschaft - wie sollen sie denn anders als durch Freiheit der Entscheidung und Gestaltung überhaupt zustande kommen? Und wer im zähen und widerspenstigen Geflecht vielfältigster gesellschaftlicher Beziehungen, Abhängigkeiten und Hindernisse Großes leistet - warum sollte er geringer sein als der Künstler, der im Refugium individueller Freiheit schafft?

Drittens. Ein so groß angelegtes und auf nationale Repräsentanz zielendes Werk wie Die großen Deutschen unserer Epoche muß sich an den eignen Maßstäben und Zielsetzungen messen lassen. Und dieses große Buch zielt erklärtermaßen - außer auf Bildung - vor allem auf Erziehung, auf einen pädagogischen Zweck: „Die Größe individueller Leistung und der Rang einer Persönlichkeit - sie sollten auf das hinführen, was ‚stellvertretend für die fruchtbaren Gaben unseres Volkes erscheint‘; sie sollten Werte vermitteln und auf Werte verpflichten.“ Zunächst: Ich sage 1 000mal ja zur notwendigen Orientierung auf Werte. Und so verdient die vorliegende Sammlung und Aufbewahrung von Lebenswerten in Gestalt von beeindruckenden Lebensbildern durchaus Anerkennung. Mehr noch: Angesichts des allseits beklagten, weil angeblich mehr und mehr um sich greifenden Werteverfalls in heutiger Zeit, darf, ja sollte dieses Werk auch als eine Bastion gegen kulturelle Verwerfungen und moralische Verwüstungen in unserer modernen oder bereits postmodernen Welt verstanden werden.

Aber wenn die Träger der Werte - so jedenfalls will es das Verständnis des Herausgebers - in einem für das Volk unerreichbaren und unzugänglichen Exklusiv-Status leben und schaffen, muß dann die feierliche pathetisch-romantische Formel von den „Stellvertretern für die fruchtbaren Gaben unseres Volkes“ nicht zur leeren Floskel oder gar zum blanken Hohn verkommen? Oder soll diese schöne Phrase nur unseren wachen Sinn betäuben, um das Fundament des Ganzen nicht mehr wahrzunehmen: Die elitär gesetzte Hierarchie, die die Großen ihrem Volk zunächst entrückt, damit jene dann von diesem bewundert und schließlich als alleinige Instanz der allgemein verbindlichen Wertorientierung vom „gemeinen Volke“ , von den modernen „Alltags- und Massenmenschen“ akzeptiert werden? Liegt hier vielleicht die Erklärung, warum der Herausgeber in seinen vielfältigen Begründungen für Wertevermittlung und Werteverpflichtung so ganz ohne den Begriff der Demokratie auskommt? Ich halte es hier jedenfalls mit einer dieser von Gall verpönten „aktuellen Einschätzungen“ : Demokratie ist vor allem ein vielschichtiger und massenhafter Prozeß, der alle zeitgenössischen und zeitgemäßen schöpferischen Herausforderungen und Möglichkeiten in sich birgt. So gehört zum Wesen der Demokratie auch, jede allzu starke Abhängigkeit vom „großen Einzelnen“ zu vermeiden, um beim plötzlichen Verlust der großen Leit- oder Vorbildfigur nicht in lähmende Hilf- und Orientierungslosigkeit zu verfallen.

Ergebnis: Kapitulation vor den eigenen Ansprüchen

Die Zweckbestimmung des Gesamtprojekts Die großen Deutschen unserer Epoche durch den Herausgeber bietet sich dem abschließenden Blick also recht widersprüchlich dar. Ins Auge springt das Auseinanderfallen von selbst gesetztem hohen Anspruch und dessen Einlösung durch einzelne editorische Grundsätze, Prinzipien und Methoden. Es sind vornehmlich die eben behandelten Grundsätze, die diesen Anspruch ständig unterlaufen. Alle drei Prinzipien des Editors stehen letztlich für eine Kapitulation vor den Schwierigkeiten des eigenen Anspruchs. Erklärtermaßen geht es dem Herausgeber entscheidend darum, eine möglichst faßbare und nachvollziehbare „Vorstellung“ von einer „Maßstäbe setzenden Existenz“ zu vermitteln. Verständlich: Da kommen ihm Künstler und Wissenschaftler sehr entgegen mit ihren einzelnen, isolierbaren, verdinglichten und eindeutig individualisierbaren Werken und Leistungen. Wer sich aber so exponiert auf diesen einen Aspekt kapriziert - den der Veranschaulichung von Leistung -, muß mit dem Vorwurf leben, in der tatsächlich schwierigen Erkundung und Bewertung von menschlicher Größe eher den bequemen Weg zu wählen. Schlimmer noch: Wer seinen Anspruch diesem Kriterium unterordnet, gibt ihn letztlich auf. Darüber hinaus hilft der Herausgeber bei der „Vereinzelung und Isolierung von Leistungen der großen Einzelnen“ unzulässig nach: um den Preis der unangemessenen Geringschätzung von oft entscheidenden Vorleistungen und unentbehrlichen Hilfestellungen anderer. Dies hat auch eine komische Seite. Denn um uns eine rechte Vorstellung zu vermitteln von den Großen unserer Epoche - die nach meiner festen Überzeugung auf den Schultern vieler stehen und durch tausend Fäden mit ihrer Zeit und Gesellschaft verknüpft sind -, scheint der Herausgeber unsere großen Zeitgenossen noch einmal dort anzusiedeln, wo ein alter Volks- und Irrglaube sie schon immer wähnte: im Elfenbeinturm.

Doch zurück zum Ernst. Gall sieht sein Konzept in „deutlichem Widerspruch zu aktuellen Einschätzungen“ . Da er aber den wirklichen und argumentativen Widerspruch schuldig bleibt, verharrt er lediglich in einer Attitüde der trotzigen Ignoranz gegenüber den aktuellen Einschätzungen. Auch dies also nichts weiter als eine Kapitulation!

Bleibt die Wertefrage, und ich erinnere noch einmal an den entscheidenden Herausgeber-Grundsatz. Mit ihrer Auswahl der großen Deutschen für dieses Sammelwerk habe die Bildungselite nur ihre eigenen Werthaltungen - und damit die der Gesellschaft - bekundet, und zwar mit dem einzigen Ziel: das Wertsystem eben dieser Gesellschaft zu bestätigen, ja zu bekräftigen. Doch allein was in diesem Buch über und - weit wichtiger noch - von Gottfried Benn und Theodor W. Adorno zu lesen steht, zerfetzt Galls erstaunlich undifferenzierte Vorstellung mit geradezu faszinierender geistiger Explosivkraft. Während Adorno das gute alte Wertsystem durch seine unbestechliche „Dialektik der Aufklärung“ zunächst erschütterte und schließlich mittels seiner „negativen Dialektik“ zertrümmerte, so hatte Benn bereits schonungslos dessen „Tod und Verwesungsprozeß“ konstatiert und diagnostiziert. Spätestens hier könnte ich der Voreingenommenheit gegenüber Galls unverkennbarem Konservativismus verdächtigt werden. Zu meiner Entlastung lege ich daher umgehend allen LeserInnen noch das großartige Porträt Heisenbergs ans Herz. Ich habe dabei vor allem dessen höchst produktive und frappierend zeitgemäße Lebensmaxime im Auge: „Nur der Konservative kann ein wirklicher Revolutionär sein!“ Kein Zweifel: Auch diese Richtschnur sprengt den naiv homogen und eindimensional gesetzten Werte-Horizont des Herausgebers. Nicht zufällig würdigt Gall in seinem eigenen Beitrag den Historikerkollegen Franz Schnabel. Dieser hielt die in humanistischer Tradition wurzelnden Werte des deutschen Bürgertums des 19. Jahrhunderts hoch: Werte aus jener Zeit, als „in dieser Kleinwelt Kapitalisten und Proletariat noch fehlten“ . Dieser historischen Idylle ist offenbar auch Galls Wertekanon entlehnt, den er moralisierend gegen die Moderne mobilisiert. Erfreulicherweise lassen sich aber viele Autoren, aus deren Feder die einzelnen Beiträge über die großen Deutschen stammen, nicht in das enge Herausgeberkorsett pressen. Erfreulicher noch: Zahlreiche Einzelbeiträge konterkarieren auf bemerkenswerteste Weise die vom Editor begründete Zwecksetzung des Gesamtprojekts.

Schließlich: Solides Produkt mit falschem Etikett?

Verdienst und Grenze also. Das große Sammelwerk ist eine Lektüre wert. Mit Gewinn kann man auch immer wieder in ihm nachschlagen. Allein der Umfang der einzelnen Lebensbilder - und in den meisten Fällen ihre geistige Intensität und expressive Frische - machen dieses Nachschlagewerk jedem gewöhnlichen Lexikon überlegen. Die aufgezeigten Begrenzungen und Defizite sind dem editorischen Konzept geschuldet. Die vom Herausgeber angebotene Lesart als „Gebrauchsanweisung“ verstellt eher den Blick als daß sie ihn aufschließt. Aufschließt für geistige Potentiale und moralische Spannungen, für geschichtliche Widersprüche und politische Kämpfe. Kurz: für die gesellschaftlichen Umbrüche und den darin eingeschlossenen kulturellen Wertewandel unserer Epoche. Erst aus diesem Epoche-Kontext erwachsen die großen Herausforderungen, die große Lösungen und große Leistungen erfordern - und also große Menschen hervorbringen. Dieses sperrige komplexe und widersprüchliche Geflecht der Zeitgeschichte liefert die Reibungsfläche, die immer wieder Menschen groß macht: Eben weil sie sich an ihr reiben und nicht selten aufreiben. Auf Galls Vorgabe ließe sich also ohne Verlust verzichten. Denn unbeeindruckt von allen „Vorgaben“ lassen sich die Schätze dieser ganz eigenen Enzyklopädie am besten heben und aufheben. Diese Schätze können aber die Fragwürdigkeit des Gesamtprojekts nicht aus der Welt schaffen. Die eklatanten Mißverhältnisse bei der Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche - die über 80prozentige Präsenz der Wissenschaften und Künste - bringen den Anspruch, ein biographisches Nachschlagewerk über „die großen Deutschen“ vorzulegen, in die Nähe eines Etikettenschwindels. Schließlich manifestiert sich die Fragwürdigkeit im Anspruch: unbedingt „die“ Großen offerieren zu wollen. Verzicht kann auch Gewinn bedeuten. Und so wäre allein mit dem Verzicht auf den bestimmten Artikel im Titel des Sammelwerks viel gewonnen. Wer also seinen Anspruch ein wenig relativiert, muß in der Erkundung und Bewertung von Leistung und Größe ja nicht gleich in einen „uferlosen Relativismus“ verfallen. Mit einer außergewöhnlichen Enzyklopädie - also in Gestalt von originellen Lebensbildern - Maßstäbe zu setzen und Werte zu vermitteln: Diese anspruchsvolle Intention ließe sich auch so unbeschadet erfüllen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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