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Schlag nach bei Bertelsmann . . .

Im Gespräch mit Wolf-Eckhard Gudemann

Herr Gudemann, Sie sind Verlagsleiter des Bertelsmann Lexikon Verlags und gleichzeitig auch Chefredakteur des Lexikon-Instituts. Wie war Ihr beruflicher Werdegang bis dahin?

Ich habe in Münster Geographie, Geologie, Wirtschaft und Sozialwissenschaften studiert. Danach begann ich meine Tätigkeit als Fachredakteur für Geographie, Länder- und Völkerkunde im Lexikon- Institut des Bertelsmann Verlages in Gütersloh. 1981 wurde mir die Position des Chefredakteurs kommissarisch übertragen und ich habe voll an der Konzipierung der großen Bertelsmann Enzyklopädie mitgearbeitet. Nach Fertigstellung des Werkes, das war 1985, habe ich die Funktion des Chefredakteurs übernommen und bin seit 1992 auch Verlagsleiter.

Es gibt viele Gründe ein Lexikon herauszugeben. Welches sind die Ihren?

Der Grund für die Herausgabe eines Lexikons ist für uns in erster Linie ein traditioneller. Den Nutzern soll, das klingt vielleicht etwas hochtrabend, das Wissen der Welt in einer Form zur Verfügung gestellt werden, die es dem einzelnen leicht macht, Daten, Fakten, Informationen schnell nachschlagen zu können.

Seit wann gibt Bertelsmann Lexika heraus?

Lexika erscheinen bei uns seit Anfang der 50er Jahre, der Grund dafür ist ein einfacher. Nach dem Kriege wurden in Deutschland die ersten Bertelsmann-Buchclubs gegründet. Das Programm, das diese Clubs den Mitgliedern offerierten, sollte natürlich auch lexikalische Werke enthalten. Bertelsmann wandte sich damals an die Lexikon-Verlage Brockhaus, Meyer und Herder, um Lexika in Lizenzausgabe zu übernehmen. Dies wurde aber von den Verlagen abgelehnt, so daß man sich sagte, gut, dann machen wir es eben selbst. Im damaligen C. Bertelsmann-Verlag wurde daraufhin 1952 eine Abteilung für Nachschlagewerke gebildet. Das war quasi die Geburtsstunde der Bertelsmann-Lexikothek.

Lassen Sie uns ein wenig die Geheimnisse der Lexikaherstellung lüften. Welche konzeptionellen Überlegungen gehen voraus, welche Kriterien gibt es für die Stichwortauswahl?

Bei der Planung eines Lexikons wird zunächst eine Grobkonzeption erarbeitet. In dieser Konzeption werden sowohl die Anzahl der Stichworte als auch das Format festgelegt. Letzteres ist für die zur Verfügung stehende Zeilenzahl pro Seite besonders wichtig. Beider Feinkonzeption wird dann im Gespräch mit den jeweiligen Autoren die genaue Zeilenzahl für jedes Fachgebiet festgeschrieben. Man kann sogar soweit gehen, daß man dem Beitragsverfasser eine Stichwortliste zur Verfügung stellt, in der die genaue Zeilenzahl pro Stichwort steht. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie die einzelnen Fachgebiete untereinander zu gewichten sind. Wenn man dabei anfangs auf gar nichts zurückgreifen kann, geht das mehr oder weniger Pi mal Daumen. Man kann sagen, daß man erst nach Jahren oder Jahrzehnten Erfahrung zu einer Fachgebietsgewichtung findet, mit der man zukünftig arbeitet.

Schaut man dabei auch mal bei der Konkurrenz nach?

Ja, darauf wollte ich gerade kommen. Natürlich analysiert man schon vorhandene lexikalische Werke. Und man macht sich in der Tat die Mühe, die Stichworte, die dort enthalten sind Fachgebieten zuzuordnen, um auf diese Weise eine Vorstellung von dem Mengengerüst zu bekommen. Allerdings ist man gut beraten, die dort vorhandenen Fachgebietsgewichtungen nicht kritiklos zu übernehmen. Wir haben deshalb nicht nur deutschsprachige Werke, sondern auch englische Lexika verglichen. Da wir bereits früher einmal an einer kleinen Geschichte großer Lexika gearbeitet haben, war uns die Fachgebietsgewichtung der großen Sowjet-Enzyklopädie ebenfalls bekannt.

Worin unterscheidet sich dann das Bertelsmann-Lexikon von Meyer oder Brockhaus?

Wir unterscheiden uns hinsichtlich der Zielgruppe von Brockhaus. Das hängt mit der Entwicklung der Buchgemeinschaften zusammen. Man ist ja beim Vertrieb von Lexika auf gute Umsätze angewiesen, und durch die Buchclubs konnte man eine große Zahl von Mitgliedern bedienen. Diese gehörten weniger akademischen Kreisen, sondern eher der gut gebildeten Mittelschicht an. Daran hat sich seit den 60er Jahren nichts Wesentliches geändert. Damals wurde immer gesagt, wir wenden uns mit unseren Werken an den „nichttypischen Buchkäufer“ , an den Facharbeiter mit Familie. Diese Unternehmensphilosophie wurde dann später auf den Direktvertrieb übertragen, und man merkte, daß man dadurch wesentlich erfolgreicher sein konnte, als durch den Verkauf über die Buchclubs. Auch heute noch ist diese Zielgruppen-Ansprache ein wichtiges Kriterium. Brockhaus wird oft als das akademische Bildungswerk angesehen und die Bertelsmann Lexikothek eher belächelt. Dennoch ist durch die gezielte Vertriebsarbeit erreicht worden, daß 70% des Lexikon-Marktes von Bertelsmann beherrscht werden.

70% ist eine stattliche Zahl, wenn man dabei die Auflagenhöhe berücksichtigt, müßte eigentlich in vielen Haushalten ein Bertelsmann-Lexikon vorhanden sein. Welche Lexika waren denn im Angebot?

Ja, davon kann man ausgehen. Zum Beispiel unser „kleines Rotes“ , das über die Bertelsmann Buchclubs vertrieben wurde, war eigentlich das erfolgreichste Lexikon aller Zeiten. Davon wurden 33 Millionen Einzelbände und natürlich thematische Ergänzungsbände, die zu den zwanzig Grundbänden dazukamen, verkauft. Dieses Lexikon wurde, wie auch alle anderen, über die Buchclubs vertrieben und war von 1970 bis 1984 im Angebot. Danach kam ein großes modernes zwölfbändiges Werk im klassischen Lexikonformat heraus. Das lief aber auf Grund des hohen Preises nicht so erfolgreich und wurde nach drei Auflagen durch das kleinere Universal-Lexikon in zwanzig Bänden, plus Themenbände abgelöst. Dieses war bis 1992 im aktuellen Angebot der Buchclubs und Buchgemeinschaften. 1993 kam ein neues Bertelsmann-Lexikon in 24 Bänden, das jetzt komplett erschienen ist, auf den Markt.

Und last, but not least gibt es ja noch unsere Großenzyklopädie, die große Bertelsmann- Lexikothek, die im Direktvertrieb an die Käufer kommt. Sie besteht aus 15 Bänden A bis Z und 15 Themenbänden zu den wichtigsten Wissensgebieten, wie Geschichte, Geographie, Medizin, Naturwissenschaften, Technik, Kultur, Wirtschaft, Zoologie und Botanik. Zu diesem 30bändigen Werk gehören noch ein Atlas und, gewissermaßen als elektronische Suchhilfe, eine CD-ROM. Die Lexikothek wird von Auflage zu Auflage aktualisiert, und das geschieht bei uns jährlich. Kriterium dafür, was aktuell hereingenommen wird, ist eigentlich das, was in der Welt passiert.

Im Gegensatz zur Zeit des 18. Jahrhunderts und der Enzyklopädie hat sich das Wissen vervielfacht und die Stichworterläuterungen entschieden reduziert. Wie suchen Sie dem Konflikt zu begegnen, einerseits soviel Stichworte wie möglich aufzunehmen, andererseits den Platz der Erläuterungen zugunsten der Zahl der Begriffe immer mehr zu reduzieren. Wo sehen Sie die Grenze oder macht sich ein Trend zum Fachlexikon als Ergänzung zum Großen bemerkbar?

In einem allgemeinen Lexikon gibt es in der Tat Themenfelder, die durch die Anzahl der Stichworte und auch durch den Umfang der einzelnen Artikel so ausführlich dargestellt sind, daß man daraus einbändige Themen-Lexika machen kann. Wir haben das auch getan. Zum Beispiel kam im Herbst bein Thema Geschichte das Lexikon der Geschichte wieder neu heraus. Es ist im wesentlichen ein Auszug aus der Großen Bertelsmann Enzyklopädie. Natürlich muß ein Lexikon, das sich mit einem speziellen Fachgebiet befaßt inhaltlich mehr bieten als ein allgemeines Nachschlagewerk, um für den sachkundigen Käufer interessant zu sein. Als wir das Themen-Lexikon Wirtschaft herausbrachten, haben wir natürlich gesehen, daß das, was in der allgemeinen Enzyklopädie zum Thema dargestellt wird, sowohl von der Stichwortzahl als auch von der Qualität der Inhalte nur einen Bruchteil des Fachgebietes abdeckt. Bei der wachsenden Spezialisierung auf fast allen Gebieten werden fachspezifische Nachschlagewerke weiterhin eine wichtige Rolle spielen.

Bertelsmann hat ja mit seinen Buchclubs ein interessantes Vertriebssystem gefunden. Können Sie aus Ihren Erfahrungen sagen, welchen Stellenwert Nachschlagewerke bei Ihren Lesern haben? Wird der Absatz steigen?

Man kann sicherlich nicht sagen, daß Lexika zukünftig im Absatz steigen werden. Dies hat sich auch in der Vergangenheit nicht abgezeichnet. Im Gegenteil, es ist zu befürchten, daß durch CD-ROM sogar der Absatz der Printprodukte in diesem Bereich zurückgehen wird.

Damit wären wir bei den elektronischen Nachschlagewerken. Bisher schmückten Lexika die Bücherschränke vieler Wissensdurstiger. Dies scheint im elektronischen Zeitalter vorbei zu sein oder behauptet das Printwork seinen Platz neben CD-ROM? Worin sehen Sie den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Lexikonformen?

Ja, über diesen Themenkreis wurde in unserem Verlag auch viel diskutiert. Bertelsmann war ja mit seinem einbändigen Universallexikon, das 70 000 Stichworte umfaßt, der erste Anbieter eines CD-ROM Nachschlagewerkes auf dem deutschen Markt. Natürlich bietet die elektronische Darstellung eines Lexikons Vorteile, die auf der Hand liegen. Die hohe Speicherkapazität ermöglicht es, eine wesentlich größere Zahl von Stichworten aufzunehmen. Besonders bei Volltext-Recherchen ist ein schneller Zugriff und eine umfassende Information möglich. Man kann die angebotenen Texte mit Bildern, Tönen und Videos bereichern. Allerdings wird für diese Zusatzinformationen viel Speicherkapazität benötigt, so daß sich ihre Anzahl auch in Grenzen halten muß. In unserer Lexikothek bietet die elektronische Suchhilfe nicht nur die Möglichkeit über das Gesamtwerk zu recherchieren, sondern wir können alle Textelemente, die aus Platzgründen nicht in das Werk aufgenommen werden können, zusätzlich an die betreffenden Stichworte anhängen. Wir geben dem Käufer auch die Möglichkeit, daß er - sozusagen auf seiner CD-ROM - eigene Notizen machen kann und damit die Enzyklopädie selbst erweitert.

Aber alle diejenigen, die CD-ROM benutzen, werden sicherlich im Laufe der Zeit zu der Erkenntnis kommen, daß sie dennoch auch das Print-Produkt brauchen. Eines liefert die CD-ROM nämlich nicht, den allgemeinen Überblick. Deshalb werden auch zukünftig elektronische Datenträger neben traditionellen Print-Werken bestehen. Das hängt auch damit zusammen, daß unsere Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen haben, die eine ist auf analytische, die andere auf synthetische Informationsverarbeitung spezialisiert. Würden wir nur mit CD-ROM arbeiten, würden wir im Grunde genommen nur eine Gehirnhälfte nutzen und die andere, die die synthetischen Aufgaben wahrnimmt, nämlich etwas erst einmal im Überblick zu erfassen und danach quasi vom Allgemeinen ins Besondere zu gehen, vernachlässigen. Dieser Aspekt ist besonders für die gesamte Lernentwicklung bei Kindern wichtig.

Abschließend noch eine Frage an den Verlagsleiter und Chefredakteur, kommen Sie noch zum Lesen?

Ich muß ehrlich gestehen, daß ich wenig zum Lesen komme. Aber eine Lektüre habe ich mir bisher nicht nehmen lassen, das ist die morgendliche Zeitung.

Na, das ist doch wenigstens etwas.
Herr Gudemann, vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 10+11/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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