Eine Annotation von Bernhard Meyer
Wolf, Winfried:
Berlin - Weltstadt ohne Auto?
Eine Verkehrsgeschichte 1848-2015.
Neuer ISP Verlag, Frankfurt/M. 1994, 398 S.

Dieser Titel lädt ein wenig zum Träumen ein. Von der Beschaulichkeit des Berliner Stadtverkehrs im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts wird ebenso berichtet wie von der Illusion einer autofreien Weltstadt 2015. Das eine ist die nicht wiederkehrende Vergangenheit, das andere ein in unerreichbare Ferne gerückter Wunsch. Von wem eigentlich? Wollen die Berliner überhaupt eine autofreie Stadt (will heißen verkehrsberuhigte Zonen, autofreies Zentrum, ausgebauten Nah-, Regional- und Fernverkehr auf der Schiene usw.)? Die Träume sind kurz, denn der Autor geht mittenrein in die Verkehrsrealität von Berlin - entstanden nach dem Mauerfall 1989. „Keine Wende nach der Wende“, so sein Fazit. Statt alternativen Verkehrslösungen (konsequent bürger- und umweltfreundlich) den Vorzug zu geben, wurde der Individualverkehr priorisiert und die „Motorisierungs-Aufholjagd“ des Ostens der Stadt betrieben. Dabei analysiert der Autor, selbst seit mehreren Jahren kein Autofahrer mehr und verantwortlicher Redakteur der „Sozialistischen Zeitung/SoZ“ in Köln, die gespaltene Berliner Verkehrsentwicklung von 1945 bis 1989. Überhaupt verfügt der Autor über eine bemerkenswerte historische Ader, die den Leser in Kenntnis über Grundzüge der Berliner Verkehrspolitik in anderthalb Jahrhunderten setzt.

Das alles steuerte in den Augen des Autors auf die gegenwärtige Situation hin, der umfassende Krititk zuteil wird: rasender Verkehr, Autowahn, Staus, Unfälle und Verkehrstote, Schadstoffe und Lärm ... Wie stets in derartigen Abhandlungen kommen die Alternativen zu kurz. Sie erschöpfen sich in der kaum von der offiziellen Politik widersprochenen Konzeption „Entwicklung eines flächendeckenden, effizienten, komfortablen öffentlichen Verkehrs mit dem Rückgrat Straßenbahn“. (S. 265) Der Einzelvorschläge gibt es im Buch manche, auch überlegenswerte. Nur: Will das eine Mehrheit der Haupt- und Weltstädter? Dieser Aspekt bleibt bedauerlicherweise ausgeblendet.

Der journalistisch flüssig und lebhaft geschriebene Text will keine wissenschaftliche Abhandlung sein, sondern vielmehr eine Streitschrift. Einem weitgehend realisierten Trend wird eine andere, ökologisch ausgerichtete, anscheinend vernünftige Sicht entgegengesetzt. Dem Buch liegt ein Stadtplan „Traumstadt Berlin 2010“ bei, der die verkehrstechnische Erschließung Berlins durch den öffentlichen Nahverkehr dokumentiert. Umfangreiche Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und ein Personen- und Sachregister tragen zur guten Lesbarkeit des Unterfangens bei.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite