Eine Rezension von Hans-Rainer John

Der Spionagecoup des Jahrhunderts

Wladimir Tschikow/Gary Kern: Perseus - Spionage in Los Alamos
Aus dem Englischen von Christiane Landgrebe und Chris Hirte.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1996, 526 S.

Wladimir Tschikow, Oberst a. D. des KGB, erhielt im Oktober 1989 offiziell Zugang zu den bis dahin streng gehüteten KGB-Akten Nr. 13676. Es handelte sich um 17 stahlfarbene Kartons, in jedem Hunderte von brisanten Dokumenten: die Geschichte, wie der sowjetische Geheimdienst das Manhattan-Projekt „abschöpfte“, wie er die Geburt der Atombombe in Los Alamos verfolgte und wie er seine Erkenntnisse der sowjetischen Forschung zuführte.

Auf rund 300 Seiten rekonstruierte Tschikow nach weiteren Recherchen und nach Interviews mit Überlebenden aus dem drögen dokumentarischen Material die atemberaubenden Vorgänge. Er schreibt flüssig, fast romanhaft, erzählt anschaulich. Das ist spannend wie ein Krimi - ein Thriller, den das Leben schrieb. Tschikow korrigiert Sudoplatow („Der Handlanger der Macht“ - Enthüllungen eines KGB-Generals, Econ-Verlag, Düsseldorf 1994, siehe „Berliner LeseZeichen“ Nr. 11/12 1995), der behauptet hatte, daß führende Atomforscher wie Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Leo Szilard, George Gamow oder Niels Bohr den Sowjets direkt oder indirekt Vorschub geleistet hätten, und ortet als Hauptquellen den Deutschen Klaus Fuchs (Deckname Charles) und einen amerikanischen Wissenschaftler, den er Arthur Fielding nennt (Deckname Perseus - der Name mußte geändert werden, weil „Perseus“ noch lebt, auf ihn kein Verdacht fiel und er nie gefaßt wurde), die sich aus Gewissensgründen an Vertreter der UdSSR gewandt hatten und uneigennützig aus ideellen Motiven agierten. Die amerikanischen Forschungsergebnisse gelangten sicher und schnell in die Hände Stalins Dank eines Agentenehepaars, das vermöge seiner Umsicht, seines Mutes und seines Geschickes eine Spitzenstellung in der Geschichte der Spionage einnimmt: Lona Petka und Morris Cohan (Deckname Leslie und Luis). Das gemeinsame Motiv: Sie wollten die UdSSR instand setzen, der atomaren Erpressung zu widerstehen, sie hielten das atomare Gleichgewicht für einen stabilisierenden Faktor für den Weltfrieden.

Die Cohans, beide amerikanische Kommunisten, haben Tschikow offenbar so fasziniert, daß er ihren Lebensweg weiterverfolgte, nachdem ihre Aufgabe im Bereich der Atomspionage erfüllt war und sie Amerika aus Sicherheitsgründen verlassen mußten. Auf 120 Seiten wird ihre Biographie zu Ende geführt. In diesen Jahren, in denen sie vorwiegend in England operierten, wurden sie international als „Die Krogers“ bekannt.

Das letzte Viertel des Buches besteht aus einer Nachbetrachtung des Ko-Autors Gary Kern, die sich vor allem mit dem Umgang mit den Tatsachen der Atomspionage nach dem Jahre 1989 befaßt. Dabei bedient sich Kern nicht nur einer ganz anderen Darstellensweise, sondern er geht auch von einem ganz anderen ideologischen Standpunkt aus. Tschikow geht es keineswegs um eine Rechtfertigung der Politik der UdSSR insgesamt oder des KGB als Ganzem; die Organisation der Atomspionage hält er allerdings zur Erhaltung des militärischen Gleichgewichts für berechtigt. Er feiert sie als Meisterstück und bewertet ihre Hauptakteure als ehrenwerte Leute, ja als Helden. (Deshalb paßt es auch nicht in sein Bild, daß die UdSSR alle Kontakte zu Klaus Fuchs leugnete.) Für Kern, einen amerikanischen Experten für sowjetische Geschichte, der an der Universität von Princeton studierte, sind dagegen Charles, Perseus und die Krogers Verräter und Schnüffler, die - er schreibt das nicht, aber es wäre die logische Schlußfolgerung - wie die Rosenbergs rechtens auf den elektrischen Stuhl gehörten. Denn seiner Ansicht nach wäre eine Sowjetunion ohne Atombombe stärker vom Wohlwollen Amerikas abhängig gewesen und daher eher zu weltweiter Zusammenarbeit und zur Entwicklung der eigenen Ökonomie in der Lage gewesen. Er vergißt nur, daß es die westlichen Alliierten waren, die der Sowjetunion mit der Fulton-Rede Churchills den Fehdehandschuh hinwarfen und von der Zusammenarbeit zur Konfrontation übergingen.

Man könnte dem Buch diese Uneinheitlichkeit ankreiden, aber möglicherweise war die Ko-Autorenschaft Kerns der Preis für die Erstveröffentlichung in einem französischen Verlag (Editions Robert Laffont). Unsere Verlage praktizieren ja gelegentlich ähnliches, wenn sie dem Buche eines ostdeutschen Fachwissenschaftlers den Kommentar eines westdeutschen Politologen zuordnen. Wenn die Kernsubstanz wertvoll ist - und das kann man hier mit Überzeugung bestätigen - tut das dem Buche in der Regel keinen Abbruch.

Übrigens ist mit moralischen Kategorien dem Spionagewesen ohnehin schwer beizukommen. Als der Gedanke, mit der Entwicklung der Atomwaffe den deutschen Nazis zuvorzukommen, 1941 in englischen Laboratorien entstand, existierte zwischen Großbritannien und der Sowjetunion ein Abkommen zum Austausch von Militärgeheimnissen. Informiert wurde aber nicht die Sowjetunion, sondern die USA. Amerika griff die englische Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf, koppelte aber Großbritannien ab und schritt im Alleingang zur praktischen Lösung des Problems in Los Alamos, mitten in der Wüste Nevadas. Die USA hielten England damals für ein Sicherheitsrisiko, das sie ausschalten wollten. Die Folge war, daß sich nun natürlich der britische Geheimdienst mit dem Manhattan-Projekt befaßte. Die Sowjets wiederum hatten ihre Information sowohl im englischen Urankomitee als auch später in Los Alamos, und sie benutzten die Ermittlungsergebnisse des britischen Geheimdienstes, um ihre eigenen Spione zu überprüfen. (Stalin befürchtete stets, Opfer gezielter Desinformation zu werden.) Erst am 19. 8. 1943 gelang es Churchill, das Abkommen von Quebec mit Roosevelt abzuschließen, das England wieder mit ins Boot nahm, die UdSSR aber ausdrücklich ausschloß. Freilich öffnete der vereinbarte uneingeschränkte Informationsaustausch nur der Sowjetunion die englische Hintertür: Indem die britischen Wissenschaftler wieder Zugang zum Manhattan-Projekt erhielten, waren sie auch wieder abschöpfbar.

Man sieht: „Geheimdienstarbeit hat ihre eigene Dialektik. Während man selbst sucht, der anderen Seite Geheimnisse zu stehlen, stiehlt die andere Seite einem die eigenen Geheimnisse. Man chiffriert etwas, die Gegenseite dechiffriert es, und umgekehrt. Während man sucht, versteckt sie etwas, wenn man selbst etwas versteckt, sucht sie. Es geht immer im Kreis.“ (Seite 349)

Tschikow läßt immer durchblicken, daß die UdSSR ein dichtes, vielfach geknüpftes, kunstvolles Spionagenetz gewebt hatte, mittels dessen sie stets auf dem laufenden gehalten wurde, aber im Endergebnis konzentriert er sich fast zu ausschließlich auf Charles, Perseus, Luis und Leslie. Der Cambridger Spionagekreis mit Donald Meclean (Deckname Homer), die Rosenbergs, die Grennglass' firmieren wie viele andere nur am Rande. (Von den Rosenbergs weiß er nur mitzuteilen, daß sie offenbar einbezogen, aber von untergeordneter Bedeutung waren. Immerhin war es der einzige Fall, wo an aufgeflogenen Spionen die Todesstrafe vollstreckt wurde.) Geben die Dokumente nicht mehr und deutlicheres her?

Besonders verdienstvoll dagegen erscheint, wie das Verhältnis zwischen sowjetischer Forschung und sowjetischer Spionage dargestellt wird. Immerhin wird in der kriegsverwüsteten Sowjetunion im Handumdrehen eine neue Industrie aus dem Boden gestampft und mit Igor Kurtschatow, Juli Chariton, Jakow Seldewitsch, Georgi Fljorow und Anatoli Alexandrow ein leistungsfähiges Forschungsteam formiert, das mit einem Minimum an technischer Ausrüstung komplizierteste Probleme in einem weit kürzerem Zeitraum löste, als es seine amerikanischen Gegenspieler, die unter idealen Bedingungen und mit unbegrenzten Mitteln arbeiteten, vermochten. Die russischen Forscher waren zum schnellen Erfolg verdammt, da halfen die übermittelten Spionageergebnisse, Rückstand aufzuholen und Arbeitsschritte zu überspringen, aber ohne schöpferischen Eigenanteil (der mit 60 Prozent beziffert wird) wäre die Nuß nicht zu knacken gewesen (die Wasserstoffbombe wurde dann ohnehin auf gänzlich selbständigen Wegen entwickelt). Andererseits muß man sicher sagen, daß die Spionage nicht nur lohnenswert, sondern auch unerläßlich war, um das erstrebte Kräftegleichgewicht in so kurzer Zeit herzustellen. Es hat möglicherweise die amerikanischen Strategen davon abgehalten, Atomwaffen im Korea-Krieg (1950-1953) einzusetzen.

Der ursprüngliche Anlaß zum Bau der Atombombe war die Befürchtung, daß die Nazis die ersten sein könnten. Als sich herausstellte, daß Nazideutschland keine nukleare Bedrohung darstellte, weil die Atomforschung dort weit zurückgeblieben war, mußte für die Forscher von Los Alamos eine neue Motivation gefunden werden. Von Joseph Rotblatt ist überliefert, daß General Groves, der Leiter des Projekts, den Wissenschaftlern während eines Abendessens im Jahre 1944 erklärte: „Es ist doch wohl klar, daß das ganze Projekt dazu dient, die Russen im Zaum zu halten. Im gleichen Jahr forderte Niels Bohr vergeblich, die Russen in das Projekt einzubeziehen, da sonst ein Rüstungswettlauf ohne Ende zu erwarten wäre.“

Es ist deshalb müßig, nach der moralischen Berechtigung der sowjetischen Spionage zu fragen. Die Sowjetunion hatte Anlaß zu Mißtrauen, als sie von dem geheimen Urankomitee Englands hörte und kurz danach von dem streng geheimen Manhattan-Projekt in Los Alamos erfuhr. Die Bombardierung Hiroshimas mit „Little Boy“ und Nagasakis mit „Fat Man“ entgegen dem Memorandum einer Kommission besorgter Physiker unter Vorsitz von James Frank, einem deutschen Emigranten und Nobelpreisträger (die Wissenschaftler waren für eine Demonstration durch einen nichtmilitärischen Einsatz), steigerten die Beunruhigung zu einem fast panikartigen Zustand. Zudem drangen Informationen über Pläne für einen atomaren Angriff auf die UdSSR („Trojaner“, „Dropshot“) durch ...

Das Buch über den größten Spionagecoup und eines der bestgehüteten Geheimnisse unseres Jahrhunderts erscheint seriös recherchiert, sachlich in der Darstellung, es ist gut lesbar und spannend geschrieben. In einem umfangreichen Anhang finden sich Anmerkungen und Quellennachweise, ein Personenregister mit Verzeichnis der Decknamen, eine Übersicht über Abkürzungen, Begriffe und Tarnbezeichnungen. Das Buch trägt dazu bei, daß das Geheime nicht mehr geheim ist, und da das Atomproblem unwiderruflich zum Teil der Weltgeschichte geworden ist, hat es einen selbstverständlichen Anspruch auf unser Interesse.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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