Eine Rezension von Bernhard Meyer

Der hippokratische Eid

Verratene Medizin.
Beteiligung von Ärzten an Menschenrechtsverletzungen.
Engl. Herausgeber: The British Medical Association.
Deutsche Herausgeber: Behandlungszentrum für Folteropfer mit
Unterstützung der Ärztekammer Berlin und Amnesty International.
Edition Hentrich, Berlin 1995, 283 S.

Von Folterungen und Menschenrechtsverletzungen ist täglich zu hören und zu lesen. Erschütterung stellt sich ein, aber hinterfragt wird selten. Der Mensch neigt eben zum Verdrängen, und außerdem lauert schon die nächste Schreckensmeldung. So bleibt u. a. unbedacht, welche Funktion eigentlich Ärzte bei Verhören, Folterungen, körperlicher Züchtigung, Vollzug der Todesstrafe, Zwangsernährung, Zwangsmedikation oder im ganz „normalen“ medizinischen Alltag von Gefängnissen und Straflagern ausüben oder auszuüben gezwungen werden. Es erhebt sich die Frage nach der Gültigkeit des von jedem Arzt geschworenen hippokratischen Eides bei gesetzlich angeordneten oder diktatorisch befohlenen, selbst gewollten oder aus politischen, ethischen oder religiösen Überzeugungen zwar abgelehnten und doch nicht zu verhindernden Teilnahme an Vorhaben, die unter den Begriff Menschenrechtsverletzungen mit schweren gesundheitlichen Folgen subsumiert werden können. Betroffene Ärzte vollziehen hier eine Gratwanderung zwischen Gewissen und Berufsethik einerseits und Bedrohung ihrer beruflichen Existenz und ihrer eigenen Gesundheit, von eigener Freiheit und eigenem Leben andererseits. Im Konsens mit medizinisch-berufsethischen Normen und Verlautbarungen des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA) und der UNO hat der Arzt Leben und Wohlergehen seiner Patienten über alle anderen Interessen zu stellen, auch über die der staatlichen Obrigkeit.

Die Rede ist vom Bericht über die Beteiligung von Ärzten an Menschenrechtsverletzungen, 1992 herausgegeben von der Britischen Ärztevereinigung (British Medical Association). Die deutschsprachige Übersetzung liegt nun vor. Verdienstvolle verlegerische Förderung erhielt das Projekt durch die Edition Hentrich, die den Bericht auch drucktechnisch in vorzüglicher Qualität präsentiert.

Der Bericht gliedert sich in 11 Kapitel und einen Anhang mit den wichtigsten Originaldokumenten zu dieser Thematik. Jedes Kapitel wird mit zusammenfassenden Schlußfolgerungen versehen. Allein 3 der Kapitel widmen sich der Erläuterung ärztlicher berufsethischer Normen im internationalen Recht und der schwierigen Methodik zur Beweisführung ihrer Verletzung. Sodann werden ausführlich und für den Leser nachvollziehbar die Einbeziehung bzw. Verstrickung von Ärzten bei Folterung, Mißbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken, der Ausführung gerichtlicher Urteile wie körperliche Züchtigung und Todesstrafe, ihre Einbindung bei Hungerstreiks, Zwangsmedikation und Zwangsernährung behandelt und Ärzte als Repressionsopfer vorgestellt. Der Bericht endet mit Ausführungen zum Widerstand der internationalen Ärzteschaft und schließlich mit Empfehlungen zur angesprochenen Thematik.

Eine Vielzahl von Problemen wird angesprochen, denen sich der Arzt unter verschiedenartigsten politischen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Gegebenheiten in aller Welt zu stellen und die er zu bewältigen hat, wenn er seinen auf Heilung, Schmerzlinderung und Lebenserhaltung ausgerichteten Beruf ernsthaft erfüllen will. Ein Großteil arztfremder Anforderungen rührt aus vielfältigen Bestrebungen zur politischen Machtergreifung und -erhaltung und damit aus der Niederhaltung und Verfolgung von Opponenten. Hier kollidieren Rechte und Pflichten des Arztes mit dem Wollen staatlicher Obrigkeit. Der Bericht läßt hier - gestützt auf die Vorgabe des Weltärztebundes (Erklärung von Tokio, 1975) - keinen Zweifel: Der Arzt muß sich Menschenrechtsverletzungen und standeswidrigem Ansinnen beim medizinischen Umgang mit Gefangenen, Verhafteten, Verurteilten usw. verweigern. Der Arzt wird einem ungeheuren Druck ausgesetzt, dem standzuhalten nur wenigen gelingt. „Wer durch die Behandlung gefolterter Gefangener zum Mittäter geworden ist und geschwiegen hat, ist bereits Komplice der Täter.“ (S. 11) Die Liste dessen, was von ihnen gewollt, verlangt oder erzwungen wird, ist lang: Preisgabe der medizinischen Schweigepflicht, Weitergabe von medizinischen Unterlagen an das Militär, Abforderung von Folter und andere Repressalien vertuschenden Berichten, mangelhafte medizinische Betreuung gerade Gefolterter, Verzögerung oder Verhinderung von Überweisungen auf Intensivstationen nach Folter, Beteiligung an der Vernehmung und Folter nicht zum medizinischen Schutz, sondern zur Austüftelung und Anwendung immer neuer qualvoller Methoden, Gestaltung eines medizinischen Gefängnissystems zur physischen und/oder psychischen Vernichtung Gefangener, medizinische Folterkontrolle und ärztliche Behandlung bei Komplikationen, Vermittlung von Fachkenntnissen und Methoden an Folterer, Fälschung von medizinischen Informationen einschließlich Obduktionsbefunden ... Wie verhält sich der Arzt tatsächlich, der den Vorschriften der Polizei, der Armee, der Justizverwaltung, der Geheimdienste unterstellt ist? Oder gar der Arzt, der aus seiner privaten Praxis heraus zu derlei Diensten herangezogen wird, deren Art und Umfang er vorher nicht kennt? Hier klaffen weltweit zwischen Berufsethos, Anforderungen aus der Unterstellung und den individuellen Vorstellungen des einzelnen erhebliche Lücken - die Medizin wird mißbraucht, sie wird verraten. Muß sie auch verraten werden?

Der Bericht trägt Vorkommnisse von überallher zusammen. Letztlich eine Summe von Einzelberichten der Betroffenen, Geflüchteten, Überlebenden, Mutigen, denn kein Land liefert den Organisationen irgendwelche diesbezüglichen Informationen. Eine Beweisführung, die internationale Anerkennung findet, ist schwierig. Wo dies gelingt, wird die Mär vom bedauerlichen Einzelfall Subalterner strapaziert. Noch komplizierter liegen die Dinge, wenn es sich um den Mißbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken handelt. Die Diagnose einer Geisteskrankheit aus dem noch immer außerordentlich verworrenen und schlecht umrissenen Gebiet der Psychiatrie ermöglicht es, politisch Mißliebige gegen ihren Willen zu internieren. Der Bericht geht deshalb, wie nicht anders zu erwarten, vor allem auf die Praktiken der ehemaligen Sowjetunion ein, die von den 60er Jahren bis 1986 diesen Mißbrauch „systematisch“ (S. 96) betrieben habe. Seit 1987 wurden etwa 2 000 Personen entlassen, die aus medizinischen Gründen als Dissidenten ruhiggestellt worden waren. Es wird auch auf Deutschland verwiesen (S. 105/106), gemeint ist aber nur die DDR mit der umstrittenen Untersuchung vom November 1990 zur psychiatrischen Klinik Hochweitzschen (Waldheim), „wo Regimegegner gegen ihren Willen inhaftiert und behandelt worden sein sollen“. Die diesbezüglichen Vorwürfe des dort in den 80er Jahren behandelten ehemaligen Innenministers von Sachsen, Heinz Eggert, haben sich jedenfalls als haltlos erwiesen.

Der britische Bericht widmet sich berechtigt auch einigen Themen, die sich nicht aus machtpolitischen Repressionen ergeben. Dazu gehört die Todesstrafe, die die Verfasser grundsätzlich abgeschafft sehen wollen. Sie plädieren dafür, daß Ärzte nur den Totenschein auszufüllen hätten, mehr nicht. Nun, die Praxis sieht anders aus. Der Arzt kann u. a. mit der Organentnahme nach erfolgter Exekution beauftragt werden. Er soll ferner aus medizinischer Sicht dem Vollzugssystem raten, welche Hinrichtungsformen dafür generell am vorteilhaftesten sind. Schließlich wird sein Wissen benötigt, um immer neue Verfahren zu entwickeln, wie z. B. die Dosierung der tödlichen Injektionsspritze, die 1977 in Oklahoma und Texas gesetzlich verankert wurde. Und: Wer spritzt, der Henker oder der Arzt? Wird der Arzt zum Henker? Ein Wust medizinischer, moralischer, ethischer und juristischer Probleme, die vorerst meist zu Lasten der Ärzte beschieden sind, obwohl der Weltärztebund sich bereits 1981 eindeutig äußerte: Die Beteiligung von Ärzten an der Todesstrafe ist standeswidrig, nur der Totenschein soll ausgefüllt werden.

Die Autoren und Protagonisten des britischen Berichts verfolgen hehre Ambitionen hinsichtlich der unantastbaren sittlichen Rolle der Medizin und der Ärzteschaft bei der Wahrnehmung von Menschenrechten in allen Ländern. Sie machen öffentlich und namhaft, was verborgen bleiben soll. Ohne internationale Öffentlichkeit und Anklage wird es Fortschritte nicht geben. Es gibt sie, dank menschlichen Gewissens.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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