Eine Rezension von Helmut Hirsch

Sprachbilder und Denkzeichen für Kenner und Leser

Gert Sautermeister: Georg Christoph Lichtenberg
Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1993, 163 S.

Gert Ueding: Jean Paul
Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1993, 213 S.

Dietrich Harth: Gotthold Ephraim Lessing, oder
die Paradoxien der Selbsterkenntnis
Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1993, 238 S.

In den Händen der Wissenschaftler wird Literatur schnell zum theoriebeladenen Probierfeld. Hier aber geben drei Autoren lesenswerte Auskünfte, denn sie zeigen, wie und was sie gelesen haben bei „ihren“ Dichtern.

Gert Sautermeister hat für Kenner und Leser Georg Christoph Lichtenberg porträtiert. Erkenntniskräfte und Erkenntnisgegenstände werden aus der Biographie entwickelt. Der Experimentalphysiker Lichtenberg war ein Erlebnismensch, der in allem noch immer eine weitere Möglichkeit sah. Sautermeister analysiert Lichtenbergs Spiel und Sprachformen (besonders innerhalb der Sudelbücher und Briefe) als alltägliche Lebensmomente eines aufklärerischen Kopfes, nennt dessen Beschäftigung mit Lavaters Physiognomik, eine Mode-Sucht jener Zeit, „Ausspähungspolitik“ und entdeckt in dieser Kritik Intentionen, die der „Spiegelschrift des Handelns“ gelten. Lichtenberg erscheint als Tag- und Nachtträumer, ironischer Selbstdeuter und wacher Selbstdenker. Sautermeister weiß um den großen Wert der Briefe aus London, sie „hallten wider von der Spontaneität eines erregbaren Zeitzeugen, der Sehschärfe des Augenmenschen“. Von vielen Seiten witzig, wird Lichtenbergs Hang und Drang zur beweglichen Konfiguration interpretiert, wie er mit Ironie, Phantastik und Witz den Schleier von Tabus lüftet. Undenkbares denkbar erscheinen läßt, Verheimlichtes offenbart. Sautermeister hat mit Lichtenberg nicht nur Vergnügen, er setzt es auch in erzählerische Mitteilungen um, mehr Lob ist kaum möglich.

„Ein Schriftsteller wie Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem was ich seit jeher gelesen habe“, lobte Lichtenberg den eigenwilligsten Erzähler deutscher Sprache, von Gert Ueding vorgestellt. Schon mit seinem witzigen Vorwort erweist er sich als kompetent. Er schrieb die Vorrede (wenn wir ihm Glauben schenken können) nachträglich, als er feststellte, daß Vorreden und Vorreden zu Vorreden oder Geschichten dem ausschweifenden Erzähler Jean Paul gemäß sind. Mit souveränen Beiträgen skizziert Gert Ueding das Leben und Schreiben eines brillanten Kauzes, den sentimentalen und phantastischen „Spurenleser alles Abseitigen und Kuriosen“, den Lichtenberg vor allem schätzte, weil der Bayreuther aus seinen Gedankenexperimenten dicke Romane zu flechten verstand. Fast immer erprobte Jean Paul sein Ich, spielte mit den Figuren seiner Selbsterweiterung und Verdoppelung bis an chaotische Abgründe oder an die Grenzen himmlisch-utopischer Gefilde.

Er hat aus den unglaublich vielen Verführungen, die das Leben bietet, Literatur gemacht. „Imaginäre Kindheit“ ist das erste Kapitel dieses Buches überschrieben, und es bringt Licht in die verspielten Anfänge der Poesie. Jean Paul Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal besitzt wenig Geld, aber viel Einbildungskraft, also schreibt er unermüdlich aus Büchern und Meßkatalogen, um daraus den Stoff für seine künftigen Bücher anzureichern. Gert Ueding erzählt, wie Jean Paul erzählt hat. Er macht den ruhelosen Traum- und Nachtpoeten vorstellbar, den Detailfanatiker erkennbar. Und er setzt all die Pointen, an denen der Dichter sein Vergnügen hatte. So endet die Erzählung „Trümmer eines Ehespiegels“ von 1810 mit den prophetischen Worten: „Männer, zeigt mehr Liebe! Weiber, zeigt mehr Verstand.“

Von Liebe und Ehe handeln viele seiner Romane, er schrieb von „Aufschneiden der Ehebetten“ und kannte das „Nachdunkeln der Gefühle“, das hat ihn um 1800 zum Lieblingsschriftsteller der Damen gemacht. Heute, und nicht nur Gert Ueding gehört dazu, lesen ihn auch Männer, denn was Jean Paul unter „Gesamt- oder Zugleichliebe“ oder unter einer „Erotischen Akademie“ verstand, zieht alle Teile der Gattung in den Bann. Der Autor empfiehlt, Jean Paul möglichst so zu lesen, daß die aus Tagtraum und Nachtphantasie gewobenen Gedanken- und Figurenspiele durch den Leser als eigene poetische Landschaften erlebt werden können. Diese „Einzelexpeditionen“, resümiert Ueding, ergeben ein „Weltmodell“ für Leser.

Das dritte Buch in der Beck'schen Reihe „Autoren“ ist Lessing gewidmet, und Dietrich Harth hat es mit dem provokant klingenden Untertitel „Oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis“ versehen. Leider fehlt dieser materialreichen Arbeit der erzählend-darstellerische Schwung der beiden anderen Titel. Hier agiert noch zu oft akademischer Dozierstil. Dabei fängt alles recht gut an. Dietrich Harth geht von einer scheinbar nebensächlichen Notiz des Dichters aus, wonach Lessing selbst nur „mit einem kleinen Denkzeichen gesund“ genannt sein wollte. Verfolgt wird minutiös ein Riß in der Konstitution Lessings, und Harth findet diese Beobachtung so frappierend, daß er bald kühn behauptet, eigentlich trügen doch alle Schriften Lessings „Denkzeichen“ in sich und sie seien schlichtweg „unvollendet, münden in Rätsel, die sonderbaren Dramenschlüsse nicht zu vergessen“. Eine Behauptung, die glücklicherweise nicht durch lückenlose „Beweise“ eingelöst wird.

An der Lebensgeschichte Lessings ist Harth sowieso nicht sehr interessiert, sondern er will sich „ins Dickicht der Texte auf der Suche nach einer Erfahrung“ schlagen.

Was kommt dabei heraus? Er stößt bei Lessing auf das Rätsel der Doppelrolle von Dichter und Kritiker, erkennt Lessings Geist des Widerspruchs, sieht die große Nachbarschaft von Wissenschaft und Dichtung und hebt, mitunter ziemlich blumig und plötzlich, Lessings grandiose, epochemachende Leistung im Amt des Kritikers hervor. „Mit eigenen Augen sehen“ und lesen ist eine Maxime, beherzigenswert für alle Zeiten.

Ausführlich analysiert Harth Lessings Verfahren als Kritiker, bilanziert die verschiedenen Formen des Ausgleichs, versucht sich an der „Dialektik von Sach- und Werturteil“. Wichtig ist mir sein Hinweis, daß dieser Aufklärer, ganz im Gegensatz zum Experimentator Lichtenberg, zwar Vielseitigkeit zeigte, über sich selbst aber nur spärliche Auskünfte verbreitete. Auch das Vergnügen an der Chaostheorie hat diesen Interpreten erfaßt. Er schreibt, eine Notiz Lessings aus der „Hamburgischen Dramaturgie“ hervorholend, „die beste Musik - ein eitler Sandhaufen“ - sehr keck: „Das gelungene Kunstwerk ist - darauf scheint alles hinauszulaufen - eine Bastion gegen das Chaos. Denn das Chaos allein ist böse, Ausdruck des Monströsen, worauf Lessing so oft mit verschiedenen Worten hinweist.“ „Im Dickicht der Texte“ landet Dietrich Harth manch akademischen Blindgänger. Es tummeln sich da Seltsamkeiten wie „Aufmerksamkeitsprägnanz“, „irrtumsschwangere Verstrickungen“ oder „Mischaxiome“.

Dennoch: Die Beck'sche Reihe „Autoren“ wird von Schreibern, die ein gutes Gespür besitzen, ihre Dichter „verstehen“ und kennen, bevölkert. Die Kommentare sind leidenschaftlich, mindestens aber sachkundig und reichlich pointiert. Und es kann einer guten Reihe nie schaden, wenn einige ihrer Beiträge auch den Widerspruch des Lesers anzustacheln imstande sind.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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