Eine Rezension von Helmut Hirsch

Der lange Weg zum offenen Schluß

Hans Mayer: Brecht
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 510 S.

Der Germanist Hans Mayer, inzwischen fast neunzigjährig, hat nicht nur über Goethe, Richard Wagner, Georg Büchner und Thomas Mann ausführliche und anregende Analysen vorgelegt. Intensiv verbunden fühlte er sich nach seinem Weggang aus Leipzig (1963) der Gruppe 47. Keinem anderen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts war er so stark verpflichtet wie Bertolt Brecht.

Erstmals in einem Band vereinigt erschienen nun die Arbeiten Mayers über den Stückeschreiber, Lyriker und Essayisten Brecht. Ein großer Bogen wird gespannt. Mit sechzehn Jahren liest Mayer „Die Legende vom toten Soldaten“, ein halbes Jahrhundert später gibt er gründlichst Auskunft über das Thema „Brecht und die drei Wurzeln des Marxismus“. Sozusagen dazwischen liegen die Aufführungen der Exilstücke „Leben des Galilei“, „Mutter Courage“ und „Der gute Mensch von Sezuan“ in Zürich und am Berliner Ensemble Mitte und Ende der vierziger Jahre. Anfänge und Höhepunkte eines begeisternden Literaturwissenschaftlers.

Mayer hat der Verführung, eine Biographie über Brecht zu schreiben, widerstanden. Denn, notiert er zum Schluß dieser Ausgabe, was wäre dies „angesichts der Fülle von Aufzeichnungen, Selbstaussagen, Journalen und Briefen?“ Erinnerung und Deutung, Analyse und Kommentar genügen ihm. Die „Erinnerung an Brecht“ umschloß alle Seiten der Lebens- und Arbeitsgeschichte, es waren „vierzig Jahre der Beschäftigung mit einem unvergeßbaren Menschen und Künstler“.

Möglich, daß es Hans Mayer ähnlich wie Heiner Müller ergangen ist. Brecht war für viele Intellektuelle und Künstler im Osten ein Lichtpunkt, eine Identitätsfigur. Ein Mann, der mit seinen Geschichten und Entwürfen Geschichte versprach, zum Bleiben verführte. Sofort nach Brechts Übersiedlung im Herbst 1948 suchte Mayer dessen Nähe. Noch nach vierzig Jahren genießt er die zeremoniöse Welt der Empfänge und PEN-Club-Bankette, die gemeinsamen Besuche in Residenzstädten und Rittersälen. Unvergeßlich blieb ihm auch, wie Brecht bei einem üppigen Buffet in Scheveningen den Kniedruck einer Herzogin erklärte. Für Mayer war dieser Dichter, der alle Farben liebte, wenn sie nur grau waren, „der geborene Spieler“, und er läßt keine Gelegenheit aus, sich selbst gebührend hervorzuheben: „Auch wir beide haben bei allen Begegnungen miteinander gespielt.“ Das Gefühl, der „ständig anwachsenden Heerschar der neuen Großfamilie“ um Brecht anzugehören, entsprach der geistigen Neugier Mayers. Sein damaliges Erdenglück war: „Von nun an gehörte ich ein bißchen dazu.“ Wer Mayers Autobiographie Außenseiter kennt, versteht die darin gestellte Frage: „Warum wurde ich kein Dramatiker?“ auch aus solchen Zusammenhängen.

Gründliche Kenntnisse und eine extreme Empfänglichkeit für das Problematische im Menschlichen zeichnen Hans Mayer aus. Geradezu beliebig greift er in seinen Fundus, bietet einen Kurs an, der „Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene“ betitelt ist. Er zeigt auch den verletzbaren und den empfindsamen Brecht, der mit sich selbst die Kunst der Verstellung spielte und Lesern wie Kennern immer wieder Schwierigkeiten bereitet hat. Mayer klärt auf: „Auf diese Kunstfigur des coolen und herzlosen Menschenverächters sind nicht nur viele Leser Bertolt Brechts hereingefallen, sondern auch viele Leute, die mit ihm Umgang hatten.“

Abstand von sich selbst zu finden gehörte seit der Zeit in Augsburg zu einer Brechtschen Lebensmaxime. Auch später mochte er Zweideutigkeiten dieser Art: „Wen immer Ihr suchet, ich bin es nicht!“

Der Text „Brecht und die Tradition“ von 1961 ist der längste und der problematischste des Bandes. Gezeigt wird der Weg Brechts als verzwickter weltanschaulicher Lernprozeß. Aus heutiger Sicht wirken Kennzeichnungen wie das „Richtige“ oder das „Falsche“ etwas seltsam. Mayer war auch ein besserwisserischer Pädagoge in jener Zeit, als die Regeln der Dogmatik blühten. Und um Brecht verstehen und genießen zu können, wird umständlich dargestellt, wie „ein dialektischer Widerspruch zwischen Innovation des Inhalts und Tradition der künstlerischen Form“ erzeugt wurde. Noch 1971 erteilt Mayer den professoralen Rat: „In den vollen Genuß eines von Brecht geschaffenen literarischen Kunstwerks gelangt nur, wer imstande ist, die mit Hilfe der Historisierung, Anspielung und Zitat geschaffene Form für sich zu interpretieren.“

Gründlichkeit ist diesem Interpreten nicht abzusprechen. Er weiß, daß frühe und ganz späte Gedichte Brechts schwer zu entschlüsseln sind, er weiß, daß Brecht über Marx-Lektüre, und nicht über die Arbeiterbewegung, zum Marxismus kam. Er nennt Gründe, warum Brecht im Westen mehr ankam als im Osten: „Einfühlen konnten sich in die kunstvoll dargebotenen Schöpfungen aus revolutionärem Bewußtsein nur die informierten und instruierten Abkömmlinge der Bürgerwelt. Sie allein waren gleichzeitig fähig, den Verfremdungsprozeß mit zu vollziehen.“

Neben Textanalysen auch immer wieder Alltägliches: Brechts Privilegien und das Verhalten des Dichters am 17. Juni 1953. Beklagt wird Brechts früher Tod vor vierzig Jahren, „sehr zur Unzeit“, denn, so meint Mayer, Brecht hätte „jene schändlichen Prozesse des Generalstaatsanwalts Melsheimer gegen Walter Janka und Wolfgang Harich mit allen späten Folgen ... möglicherweise und als einziger verhindern können“.

Hans Mayers späteren Arbeiten ist anzumerken, daß er wechselvollen Erfahrungen in der Geschichte und in der Literatur mehr und mehr Beachtung schenkt. Der Blick auf den Schillerschen Spielbegriff, der Vergleich mit Dürrenmatt und Beckett rückt auch Brechts Werk in ein neues Licht.

Mit einem imaginären Gespräch „Der gute Mensch von Sezuan hadert mit Brecht“, in der Art Lukianischer Totengespräche geschrieben, endet der Band. Im „Himmel“ pflegt Brecht Umgang mit seinen Kunstfiguren, doch es erscheint in diesem Gespräch seine Shen Te aus dem „Guten Menschen von Sezuan“ ganz anders, kritischer, willkürlicher, als Brecht sie wollte.

Hans Mayer läßt durchblicken, daß Brechts Gewißheiten nicht unumstößlich waren, und die ironische Brechung schließt hier zugleich auch ein Eingeständnis des Brecht-Interpreten mit ein. Der offene Schluß des Stücks ist, so die neue Lesart, eine Metapher für den offenen Schluß in der Geschichte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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