Eine Rezension von Bernhard Meyer

Die T 4-Aktion

Joachim S. Hohmann/Günther Wieland: MfS-Operativvorgang
„Teufel“
„Euthanasie“ -Arzt Otto Hebold vor Gericht.
Metropol Verlag, Berlin 1996, 320 S.

Das „sanfte Sterben“ (Euthanasie) beschäftigt die Menschen heutzutage mehr und mehr. Im Juni 1996 wurde im australischen Darwin das erste Sterbehilfegesetz der Welt parlamentarisch verabschiedet - unter erleichterter Zustimmung und wohl noch mehr heftigem Protest der Bevölkerung. Die Euthanasie gehört zu der inzwischen reichlich angewachsenen Themenpalette, die aus dem Tabubereich herauswachsen. Die Lebenserwartung steigt weiter an, die hierzulande neu eingeführte Pflegeversicherung soll diesen Prozeß begleiten, und dennoch stellt sich bei jedem irgendwann der Beklemmen auslösende, vorausschauende, oft nur flüchtige, schnell wieder verdrängte Gedanke an die möglichen Umstände des eigenen Ablebens ein. Viele wünschen sich (und den ihnen Nahestehenden), wenn es denn eines Tages aus biologisch-medizinischen oder gottgewollten Umständen sein muß, einen raschen, schmerzlosen, niemanden belastenden Tod. Flüchtig auch der Gedanke an einen Abgang unter euthanasistischen Aspekten. Aber wie geht das vor sich? Und vor allem: Ist es überhaupt erlaubt? Seufzend die Erinnerung an Marie von Ebner-Eschenbach: „Wir müssen lebenslang lernen - und zum Schluß auch noch das Sterben.“ Eine hat ihren letzten Part schon gelernt, die „Mutter der Nation“ Inge Meysel, die für den Fall der Fälle etwas bei sich trägt ...

In unseren Landen ruft die Euthanasie noch immer - und das völlig zu Recht - Erinnerungen an den während des Faschismus betriebenen Mißbrauch hervor. Deshalb muß hier eine Annäherung besonders behutsam erfolgen. Andererseits darf jedoch die spezifische deutsche Belastung nicht bis zur Ausgrenzung dieses Themenkreises führen. Es ist also kategorisch zwischen der Berechtigung der Euthanasie zur individuell gewollten humanen Beendigung der abgelaufenen Lebenszeit und deren wissentlichem Mißbrauch aus politischen, ökonomischen, biologistischen Gründen zu unterscheiden. Natürlich modifiziert sich die Haltung zur Euthanasie für jeden einzelnen durch dessen moralisch-ethische Wertmaßstäbe, religiös gebundene Vorgaben oder andere zu akzeptierende Lebensauffassungen. Besonders problematisch und heftig umstritten ist und bleibt die Euthanasie für all jene Situationen, wo eine - gleich in welchem Alter und bei welch unheilbarer Krankheit oder Behinderung - bewußt herbeizuführende Lebensbeendigung die Mitwirkung des Arztes erfordert. Das äußerst kontroverse Für und Wider z. B. des Einschläferns von Frühgeborenen und Säuglingen mit schwersten Mißbildungen und Dysfunktionen verdeutlicht die bestehenden Konflikte.

In der zu rezensierenden Publikation von Joachim S. Hohmann (professoraler Historiker und Sozialwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Weingarten) und Günther Wieland (promovierter Jurist und ehemaliger Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR) wird der Mißbrauch der Euthanasie durch die Nazis in ihrer von 1941 bis 1943 intensiv betriebenen Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ am Fall des daran beteiligten Arztes Dr. med. Otto Hebold (1896-1975) demonstriert. Das zu erkennen gelingt jedoch nicht auf den ersten Blick, denn der Titel lenkt den Leser in eine andere Richtung. Welcher aktuelle „Teufel“ hat die Autoren (oder den Verlag?) geritten, diese ohne jeden Zweifel nur dem Dritten Reich anzulastende Thematik im Titel mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu verbinden und selbst im Untertitel den Eindruck hervorzurufen, als ob die Verfehlungen des Hebold zu DDR-Zeiten geschehen wären? Zweifellos glaubten die Urheber, mit ihrer Machination einem zeitgenössischen Trend folgen zu müssen, daß sich enthüllende „Stasi-Literatur“ besser an den Mann bringen läßt. Wer also das Buch unter diesem Aspekt kauft und liest, muß sich irregeführt vorkommen. Es handelt sich vielmehr um eine profunde Auflistung des faschistischen „Euthanasie“ -Programms und dessen akribische Umsetzung unter Außerkraftsetzung jeglicher Humanität.

Zunächst erläutert Hohmann das 1965 vom Ersten Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus angestrengte Verfahren gegen den „Euthanasie“ -Gutachter Otto Hebold. Erst zu diesem Zeitpunkt war dessen Mitwirkung an der sog. „T4-Aktion“ („Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Gemeinnützige Stiftung, Berlin W 8, Tiergartenstraße 4) bekannt geworden. Hebold selbst hatte diesen ihn schwer belastenden Fakt wohlweislich nach Kriegsende in der SBZ/DDR in allen Personalangaben verschwiegen. Angeklagt wurde ein Arzt, der „über Leben und Tod Zehntausender Menschen mitzuentscheiden“ (S. 29) hatte. Damit betraute ihn 1940 die Reichskanzlei des Führers, in deren Blickfeld er möglicherweise mehr zufällig geriet, als die im Herbst 1939 unter strengster Geheimhaltung angelaufene Aktion immer mehr Personal erforderte. Aufgrund von Meldebögen aus den psychiatrischen Heilanstalten sollte Hebold neben anderen „Gutachtern“ einschätzen, ob Anstaltsinsassen noch arbeitsfähig oder als „lebensunwert“ einzustufen seien. Auf diese Weise wurden psychiatrisch Schwerkranke bar jedes ethischen Mitgefühls innerhalb und außerhalb der Medizin als sog. „Ballast-Existenzen“ und „unnötige Esser“ tituliert, ausgesondert und schließlich vergast. Hebold fabrizierte am Schreibtisch vom Mai 1940 bis April 1941 ca. 6 000 solcher „Gutachten“ und nahm verschiedentlich selbst an den Tötungsverfahren in den Anstalten Bernburg und Pirna-Sonnenstein teil, um den Totenschein für jeweils 100 in einem Durchgang mit Kohlenmonoxid vergaste psychiatrisch Kranke auszustellen. Dies alles verrichtete Hebold wie einen beliebigen Job, ohne innere Anteilnahme und Mitgefühl. So verwundert es kaum, daß er die von ihm aufgrund des Gesetzes über die Verhinderung erbkranken Nachwuchses (1934) vorgenommenen Sterilisationen für absolut rechtens und medizinisch „für eine ganz gute Maßnahme“ hielt, „um bei Schwachsinnigen und bei Schizophrenen die weitere Vererbbarkeit zu beschränken“. (S. 29)

Gelungenes Anliegen von Hohmann ist es, Hebold als einen ganz normalen, eher unscheinbaren Arzt vorzuführen, der seit 1929 der NSDAP angehörte, jedoch keinesfalls ein Aktivist der braunen Bewegung war. Disziplin und Gehorsam gegenüber der faschistischen Obrigkeit, gepaart mit Erfahrungen aus dem psychiatrischen Alltag, ließen ihn zu einem willfährigen Werkzeug werden. Das Gericht und mit ihm Autor Hohmann hielten dem Angeklagten die angeblich ablehnende Haltung von Ärzten vor. Danach hätte sich „eine ganze Anzahl von Ärzten in Deutschland widersetzt“, „viele Psychiater“ hätten das „Erbgesundheitsgesetz“ umgangen, „viele Ärzte“ haben Pfleglingen geholfen (S. 33). Hier müssen hinsichtlich der Anzahl der so handelnden Ärzte, ihrer Möglichkeiten und ihres Wollens lebhafte Zweifel angemeldet werden. Ebenso bezieht sich das auf die ohne Kommentar übernomme Aussage des Gutachters vor Gericht Prof. Dr. Quandt, daß „die Möglichkeit für Ärzte bestand, den faschistischen Mordplänen die Zustimmung und Mitwirkung zu verweigern“ (S. 42). Hier wie bei weiteren Punkten hätte Hohmann die Chance gehabt, über die Akten hinaus brisante Fragen zu erörtern, wie z. B.: Was wäre mit Hebold geschehen, wenn er sich sofort oder später verweigert hätte? Unwillkürlich stellt sich die Erinnerung an den im Juni 1996 seliggesprochenen Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg ein, der, von dieser konspirativ durchgeführten „T4-Aktion“ wissend, im August 1941 einen mutigen Protestbrief an den Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti (1900-1945) schrieb und damit den endgültigen Anlaß für seine Verhaftung bot. Oder an Kardinal Clemens August von Galen, der am 3. August 1941 in der Landeskirche in Münster mit einem eindringlichen Appell zur sofortigen Beendigung der „Euthanasie“ -Aktion an die Öffentlichkeit trat. Sie trugen, wenngleich das Verhältnis der katholischen Kirchenführung zum Faschismus eines kritischen Urteils bedarf, zum Abbruch der Aktion am 21. August 1941 durch Hitler-Befehl bei. Aber das waren Einzelfälle, die so aus der Ärzteschaft nicht bekannt geworden sind. Hebold jedenfalls hegte keine Zweifel an der Notwendigkeit seines Tuns. Insgesamt wurden mit seiner Hilfe 70 273 Patienten ermordet.

Nach Kriegsende praktizierte er im Anhaltinischen als biederer, von der Bevölkerung geachteter Landarzt, später gar als Leiter eines Landambulatoriums in der Lausitz. Das Gericht verurteilte Hebold nach, wie der Autor ausdrücklich vermerkt, fairem Prozeß zu lebenslanger Haft, die er bis zu seinem Tode 1975 verbüßte.

Von besonderem Wert ist die Prozeß-Dokumentation, die über die Hälfte des Bandes einnimmt. Hier kann der Interessierte die Vernehmungsprotokolle von 1964 sowie Hebolds Stellungnahme ungekürzt auf sich wirken lassen. Wieland liefert einen akzeptablen Beitrag zur Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen durch die DDR. Er versäumt nicht die Benennung von Defiziten bei der Strafverfolgung, wenn er z. B. an die bekannt gewordenen, aber nicht geahndeten Vergehen der in der DDR tätigen Ärzte Catel, Voss und einiger anderer erinnert. Dies wird vom Autor den Justizorganen angelastet. Wohl unberechtigt, denn die SED-Führung erfuhr später von den Verfehlungen, ging jedoch stillschweigend darüber hinweg.

Die allgemeinverständliche und flüssig geschriebene Abhandlung besitzt für den interessierten Laien einen hohen Aussagewert; für Experten hingegen ist es ein weiteres Glied einer bereits gut durchleuchteten Problematik. Die Vorführung des Hebold beweist, daß es eben nicht nur etwa 200 Personen waren, die (nach Himmler) für den Holocaust unmittelbar verantwortlich waren. Zahlreiche „normale“ Bürger mit „normalen“ Berufen haben daran mitgewirkt - die Autoren rücken einen davon ins Rampenlicht. Das ist um so notwendiger, als jüngst erst in einem umfänglichen Traktat eben dieser Umstand durch die kommentarlose Wiedergabe von Himmlers Ansicht mehr als verharmlost wird (K. Weißmann: Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler 1933-1945. Berlin 1995). Die Besonderheit im Herangehen der hier besprochenen Publikation liegt in der Gewährung von „Einblicken in Geschehnisse von singulärem Charakter, innerhalb deren der bürokratisch organisierte Massenmord Routine und Alltag war“ (S. 16). Die Autoren urteilen sachkundig und umfassend nach der Aktenlage, gehen jedoch nicht in die Befragung der Familie oder anderer Zeitzeugen, um weitere Hintergründe aufzudecken. Gerade darin hätte Zugewinn liegen können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite