Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Gestörtes Gleichgewicht der Hormone

Theo Colborn/Dianne Dumanowski/John Peterson Nyers:
Die bedrohte Zukunft
Gefährden wir unsere Fruchtbarkeit und Überlebensfähigkeit?
Aus dem Amerikanischen von Susanne Kuhlmann-Krieg.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur, München 1996, 398 S.

In seinem Vorwort gibt US-Vizepräsident Al Gore mit einem treffenden Satz den Inhalt dieses Buches wieder: „Die bedrohte Zukunft bietet eine lebendige, gut lesbare Darstellung der wissenschaftlichen Bemühungen zur Klärung der Frage, wie zahllose vom Menschen geschaffene Chemikalien das empfindliche Gleichgewicht der Hormone stören können, das bei vielen Prozessen eine zentrale Rolle spielt - angefangen von der Sexualität über die Entwicklung von Verhalten und Intelligenz bis hin zur Funktion des Immunsystems.“ Er stellt fest, daß die Forschungsergebnisse, die dem Buch zugrunde liegen, „dringende und unumgängliche Fragen aufwerfen, mit denen man sich auseinandersetzen muß“, und weist darauf hin, daß die Nationale Akademie der Wissenschaften der USA eine Expertenkommission gebildet hat, die sich mit der von den Chemikalien ausgehenden Bedrohung befassen soll. Hierzu nur diese in Fachkreisen unbestrittenen Fakten: Rund 100 000 synthetische Chemikalien sind weltweit auf dem Markt. Jahr für Jahr kommen etwa 1 000 neue Substanzen hinzu, in den meisten Fällen ohne hinreichende Tests und Gutachten. Allein in den USA werden derzeit dreißigmal so viele synthetische Pestizide eingesetzt wie im Jahr 1945 - es sind jetzt knapp vier Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung. Rund 35 Prozent der in den USA konsumierten Lebensmittel enthalten nachweislich Rückstände von Pestiziden.

Für die aufsehenerregende Publikation, die eine Fülle solcher bedrohlichen Tatsachen wiedergibt und wertet, haben sich zwei Frauen und ein Mann zusammengetan: die Pharmazeutin, Zoologin und Ökologin Dr. Colborn (Worldwide Fund of Nature), die Wissenschaftsjournalistin Dumanowski (Boston Globe) und der Vorsitzende einer privaten Umweltschutzorganisation Dr. Nyers. Das dreifache Ergebnis sind fachliche Kompetenz, Zugänglichkeit des Textes für jeden normal gebildeten und interessierten Laien sowie eine komplexe Sicht, darauf gerichtet, die Umwelt mit den auf sie und in ihr wirkenden Faktoren weitgehend einzubeziehen.

In den 14 Kapiteln geht es letztlich um den Menschen, sein Überleben. Aber wie ein roter Faden zieht sich durch die Darstellung das Wissen, die Aufforderung: Seht auf die Tiere - was ihnen geschieht, setzt auch den Menschen Warnzeichen! Anomalien und Krankheiten bei Tieren sind oft, ja meist die langfristig eintretenden Folgen menschlichen Einwirkens auf die Natur, gewollten und in seinen Folgen nicht zu Ende bedachten Einwirkens zum angeblichen Besten des Menschen wie auch umweltschädigender Nachlässigkeit. Niedergang und Verschwinden von Tierpopulation, so die Autoren, werden oftmals der Zerstörung des natürlichen Lebensraums durch den Menschen angelastet, wobei Jagd und Fang einschließlich Überfischen hinzukommen. Neben diesen Ursachen aber sind, wie neuere Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zeigen, vom Menschen ausgebrachte Stoffe - seien es eindeutige Schadstoffe, seien es hormonähnlich wirkende Substanzen - für Krankheiten und Tod von Tieren sowie schließlich das Aussterben ihrer Art verantwortlich.

Die auf verschiedene Tiere bezogenen instruktiven Beispiele, seien es Wale oder Berglöwen oder Adler, lassen erkennen, auf welche Weise die Autoren sowie vor allem die Wissenschaftler, auf deren Forschungsergebnisse sie sich beziehen, die Fragestellung ausweiten, um zu einer differenzierteren Sicht und genaueren Resultaten zu kommen. In jedem Fall drängt sich, ohne daß dies dem Leser ausdrücklich nahegelegt wird, die Überlegung auf: Was den Tieren geschieht, wird auch den Menschen geschehen können, vielleicht mit Verzögerung, vielleicht mit einem durch Antibiotika bewirkten Aufschub, aber doch mit großer Wahrscheinlichkeit - und über eine Langzeitwirkung von Antibiotika über mehrere Generationen weiß man nichts.

Es versteht sich, daß die im besten Sinne umtriebige Theo Colborn, der engagierte Umweltschützer Pete Nyers und die talentierte journalistische „Übersetzerin“ Dianne Dumanowski sich nicht zufriedengeben konnten mit dem Zusammenstellen von Wirkungen und Ursachen, dem Zusammentragen von Skandalen und dem Beschreiben von Ängsten, dem Feststellen von aktuellen Umständen und wahrscheinlichen künftigen Zuständen. (Hierzu gehört nicht nur die fortschreitende Schwächung des vor Krankheiten schützenden Immunsystems, sondern auch die zunehmende Zeugungsunfähigkeit der Männer, exakt nachgewiesen an der deutlich verringerten Zahl lebensfähiger Spermien.) So ist ein besonderes Kapitel - „Wie wir uns schützen können“ - der Notwendigkeit und den Möglichkeiten gewidmet, neue Störungen des menschlichen Hormonsystems zu verhindern sowie den Einfluß bereits in der Umwelt verbreiteter hormonell aktiver Substanzen so gering wie möglich zu halten. Dies reicht von der Aufforderung „Informieren Sie sich über Ihr Wasser“ und dem Rat „Wählen Sie Ihre Ernährung sorgsam aus“ bis zur Forderung „Bessere Verordnungen und Gesetze“. Für die deutsche Ausgabe des Buches ist übrigens - von wem auch immer - die Rechtslage bei Trinkwasser in der Bundesrepublik Deutschland skizziert, so auch die Tatsache, daß der Verbraucher offiziell keinen Rechtsanspruch hat, die Ergebnisse der örtlichen Wasseranalysen zu erfahren, was in der Regel bedeuten dürfte, daß er durch die Medien jeweils nur die günstigen Resultate vermittelt bekommt.

Das Buch stellt in der Tat neue, zudringliche, unbequeme Fragen zu den synthetischen Chemikalien, die auf der Erde - zu Lande, zu Wasser und in der Luft - verbreitet worden sind, in unglaublichen Mengen sowie in außerordentlicher Vielfalt, und noch verbreitet werden, denn zumindest im übertragenen Sinne sollen die Schornsteine der chemischen Industrie und der pharmazeutischen Werke auch künftig rauchen. Einige dieser Produkte sind inzwischen in Verruf gekommen und verboten worden, wenn auch keineswegs in allen Ländern. Hierzu gehört das einst als höchst wirksam, ja segensreich gepriesene DDT, dessen höchst negative Nebenwirkungen die Wissenschaft zweifellos eher hätte erkennen müssen, und dann hätten Politiker eher die Anwendung stoppen können. Bisher ist dies nur unvollständig geschehen - von den USA wurde DDT zumindest 1991 noch in erheblichen Mengen produziert und exportiert.

Bei solchen Beispielen kommt der Leser von selbst zu dem Schluß, daß es letztlich nichts nützt, eine Gefahr außer Landes zu schaffen - durch den Kreislauf der Natur kommt das Gift irgendwann zurück. DDT steht, wie die Autoren belegen, auch für andere Chemikalien einschließlich Arzneimittel, deren erschreckende Wirkungen sogar relativ rasch aufgetreten sind. Hierzu gehören das von Frauen als Beruhigungsmittel sowie gegen schwangerschaftsbedingte Übelkeit eingenommene Contergan (Thalidomid) und das synthetische Östrogen DES mit seinen ebenfalls verheerenden Wirkungen.

Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich, daß man das Buch in den Vorständen der Chemie- und Pharmakonzerne zweifellos sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen wird (es ist nicht nur in Deutschland noch frisch, auch der Originaltitel Our Stolen Future ist in den USA erst 1996 erschienen); eine Reihe von ihnen dürfte dabei durchaus gemischte Gefühle haben. Ebenso ist zu erwarten, daß eine stets dienstbereite Lobby, zu der erfahrungsgemäß auch Journalisten gehören, bereits zum Abwiegeln rüstet, einige hoffnungsvolle Passagen des Buches könnten dafür durchaus mißbraucht werden, wenn man sie ihres wohlüberlegten Zusammenhangs beraubt. Andererseits verleiht das Vorwort des US-Vizepräsidenten dieser Publikation zusätzliche Autorität, und das zunehmende Gesundheitsbewußtsein - auch wenn es gegen Fast Food einen schweren Stand hat - ist ein wichtiger Faktor, um den dargelegten Erkenntnissen Nachdruck zu verschaffen. Verbreitung und Schubkraft brauchen sie allemal, nicht zuletzt in Deutschland, wo die Großchemie mit ihren heilenden und ihren giftigen Wurzeln eine besondere Tradition hat.

Rund 40 Seiten Anmerkungen und Register zeugen von Akribie und umfassendem Quellenstudium, unerläßlich für eine seriöse Publikation, die in populärwissenschaftlichem Gewand einherkommt und wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Sie wird diesem Anspruch gerecht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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