Eine Rezension von Horst Wagner

„Schnauze“ mit Herz

Jonathan Carr: Helmut Schmidt
Econ-Verlag, Düsseldorf 1993, 328 Seiten

Dieses Buch und die darin porträtierte Persönlichkeit haben für mich eines gemeinsam: Vom ersten Eindruck her erscheinen sie unterkühlt, formgetreu streng. Erst allmählich erschließt sich ihre Vielschichtigkeit und Wärme. Liegt es an der landsmannschaftlich-temporären Nähe des Autors, des englischen Journalisten Jonathan Carr und des in Hamburg-Barmbeck am 23. Dezember 1918 geborenen Helmut Schmidt? Carr zeichnet den fünften deutschen Bundeskanzler natürlich in erster Linie als Politiker und ist auf abgewogene Sachlichkeit bedacht. Zugleich vermag er es, zurückhaltend und doch auf Nähe zielend und manchmal mit feinem Humor, den ganzen Menschen Helmut Schmidt zu erschließen. Gerade dadurch wird verständlich, warum Schmidt „beliebter war als jeder andere Kanzler seit Adenauer“. (S. 154)

Eben nicht nur, weil er - sich darin vom Visionär Brandt unterscheidend - als ausgesprochener „Macher“, als kühler Analytiker und Fleißmensch in Erscheinung trat. Carr läßt uns einen Staatsmann erleben, der über den Philosophen Kant ebenso sachkundig einen Vortrag halten kann wie über die „Interdependenz der Weltwirtschaft“. Der sich preußischen Tugenden ebenso verpflichtet fühlt wie dem jüdischen Erbteil seines Großvaters. Der nach England nicht nur in Regierungsgeschäften reist, sondern auch, um dort am Klavier Mozart vorzutragen. (S. 197) Und der beim Einzug ins neue Kanzleramt 1976 die Gelegenheit nutzt, Arbeitszimmer und Korridore mit Bildern deutscher Expressionisten zu schmücken. (S. 200)

Carr zeigt, daß es vor allem die frühe Liebe zu den Expressionisten, aber auch zu Käthe Kollwitz war, die Schmidt, der mit Kriegsbeginn zu einer Flakeinheit einberufen und 1941 Leutnant wurde, „in direkten Konflikt mit den Nazis“ geraten ließ. (S. 18) In Görings Luftfahrtministerium versetzt, wurde ihm - so zitiert Carr Schmidt - „klar, daß ich einer kriminellen Regierung diente“. (S. 20) Durch Krieg und Nachkriegswirren an seinem ursprünglichen Berufsziel Architekt gehindert, durch Diskussionen im Kriegsgefangenenlager für die SPD gewonnen, begann Schmidt mit 29 Jahren seine politische Karriere als Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und wurde nach Abschluß seines Wirtschaftswissenschafts-Studiums Dezernent beim damaligen Hamburger Senator für Wirtschaft und Verkehr Karl Schiller. 1953 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt. Anschaulich schildert Carr, wie Schmidt sich hier 1958 in einer Debatte über Atomwaffen in talentvoller, scharfzüngiger Rede mit der Regierung Adenauer auseinandersetzte, was ihm den Schimpf- und Ehrennamen „Schmidt-Schnauze“ einbrachte. (S. 38/39) Wobei nicht nur seine Freunde zur Schnauze auch bald das Herz entdeckten.

„Ich habe das nicht angestrebt, Zufälle haben es so gefügt“, erklärte Schmidt einmal in einem Interview zu der Tatsache, daß er am 16. Mai 1974 als Nachfolger Brandts zum Bundeskanzler gewählt wurde. (S. 107) Im „Zufall“ Guillaume-Affäre sieht Carr nicht die eigentliche Ursache für den Rücktritt Brandts. Er erinnert an die mit der Ölkrise zu dieser Zeit gewachsenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Bundesrepublik. „Die Menschen verlangten nach einem starken Mann, einem Pragmatiker ... und diese Erwartungen konnte Brandt aus vielerlei Gründen nicht erfüllen.“ (S. 101) Eine These, die manches für sich hat, aber nicht unumstritten bleiben dürfte. Ebenso wie Carrs Sicht, daß es nicht so sehr die von Bahr, Brandt und Scheel begründete neue Ostpolitik war, die die Erosion im „sozialistischen Lager“ gefördert hat, sondern Schmidts konsequentes Eintreten für den NATO-Doppelbeschluß. Als „Macher“ läßt uns Carr den Kanzler Schmidt vor allem in den kritischen Situationen der Jahre 1975-1977 erleben, als die RAF das Land mit einer Kette von Attentaten überzog. Geradezu spannend die detailreiche Schilderung der Ereignisse um die Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu im Oktober 1977. Die Darstellung des Treffens Schmidt-Honecker im Dezember 1981 läßt den Schluß zu, daß beide eigentlich ganz gut miteinander konnten. Erst die makabere Situation in Güstrow dürfte dann wie eine kalte Dusche gewirkt haben. Behutsam sucht Carr das Knäuel der Ereignisse zu entwirren, die zur „Wende“ in Bonn, zum Übertritt von Genscher und Lambsdorff auf die Seite der CDU und damit zur Ablösung Schmidts durch Kohl 1982 geführt haben. „Seinem eigenen Schicksal sah Schmidt mit Ruhe entgegen, aber der Gedanke an Kohl als Kanzler beunruhigte ihn. Er glaubte nicht, daß sein Nachfolger auch nur annähernd die Fähigkeiten und die Erfahrungen mitbrachte, die für dieses Amt nötig waren“, schreibt Carr. (S. 235) Doch er räumt gleichzeitig ein, daß Schmidt - wie viele andere - Kohl unterschätzt hat.

Das Buch endet mit einem Gespräch, das der Autor elf Jahre nach dem Sturz Schmidts in dessen Haus am Brahmsee mit dem Altbundeskanzler geführt hat. Darin äußert Schmidt sich u. a. zu den Verdiensten und Versäumnissen Kohls beim Vereinigungsprozeß, über die Rolle Gorbatschows beim Zusammenbruch der Sowjetunion und verrät, daß er bei einem privaten Treffen mit Honecker bei dessen Besuch in Bonn 1987 dem DDR-Staatsratsvorsitzenden geraten hat, zurückzutreten, „solange er den Zeitpunkt dafür noch selbst bestimmen könne„ . (S. 251) Letzteres dürfte zu jenen zahlreichen historischen Details gehören, die durch Carrs Buch erstmals öffentlich gemacht werden. Abgerundet die Auswahl der 25 Fotos, die Schmidt in politischen Höhepunkten, mit den Großen dieser Welt ebenso zeigen wie in sehr persönlichen, privaten Situationen. Die beigefügte Zeittafel hätte man sich ausführlicher gewünscht, zumal in der Biographie selbst die Daten manchmal schwer einem bestimmten Jahr zuzuordnen sind und die Zeitläufe zuweilen etwas durcheinandergehen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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