Eine Rezension von Helmut Fickelscherer

Spanischer Urlaub

Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1995, 128 S.

Eigentlich hätte es für den Architekten Böhring ein ganz normaler Urlaub werden können, hier an der spanischen Mittelmeerküste. Wie gewohnt Ferien zu dritt - mit der Ehefrau Ina, einer erfolgreichen Therapeutin, und mit der fast erwachsenen Tochter Julia, die in einem Jahr das Abitur machen würde. Die Bedingungen sind gut, die Unterkunft im Ferienpark ist nicht luxuriös, aber ordentlich. Die Eheleute gehen verständnisvoll miteinander um, man weiß, wie nötig der andere die Erholung nach einem aufreibenden Arbeitsjahr hat, und die Tochter sucht nicht den Generationskonflikt.

Dennoch fällt es Böhring schwer, die „innere Lähmung, die ihn manchmal an fremden Orten überfiel“, zu überwinden. Zudem beschleicht ihn mitunter ein kaum zu definierendes Gefühl der Isolation, was seine Frau nicht zu bemerken scheint. Die Ehe der beiden kann als stabil bezeichnet werden, stabil im Sinne sozialen Abgesichertseins, langjähriger Gewohnheit und Vertrautheit. Aber es ist jene trügerische Vertrautheit, deren hüllender Mantel auch nach zwanzig Ehejahren plötzlich aufreißen könnte in der bitteren Erkenntnis, daß der Partner fremd geworden ist, eigentlich sogar ein Fremder geblieben ist in all den Jahren.

Viel hat man sich nicht zu sagen in diesem Urlaub, und die harmlosen Zettel mit der Nachricht „Sind am Strand“, die er vorfindet, bekommen als ein Merkmal seiner Vereinzelung eine besondere Gewichtung. Instinktiv versucht Böhring, sich anbahnende Distanz zu überwinden; wenn Frau und Tochter die Landschaft betrachten, „stellte (er) sich dazu“. Ist er wirklich noch einbezogen - ins Familienleben, aber auch in die reale Welt?

Schon einmal tat sich ein Spalt vor ihm auf, als er zwei Jahre zuvor in einem österreichischen See fast ertrunken wäre, nicht weil ihn die Kraft verließ, sondern weil er angesichts der weiten Entfernung zum Ufer in Panik geraten war. „Seit jenen Minuten der Todesangst ... war etwas anders geworden. Ein feiner Riß lief durch seine Fundamente, den er vor den anderen verbergen mußte. Aber manchmal dachte er, daß alle anderen es längst wußten und nur er sich darüber hinwegtäuschte.“ Diese Befürchtung belastet auch die Einstellung zu seinem Kompagnon Fritz Kramer im Architektenbüro, der den Architektenberuf viel nüchterner betrachtet als Böhring, „wenn sie sich von der täglichen Routinearbeit und den Kompromissen mit den Auftraggebern abgenutzt fühlten“. Und Kramers Sympathie für Frau Ina, aber auch sein Vorschlag, einen Juniorpartner zwecks neuer Impulse und Ideen im Büro aufzunehmen, empfindet Böhring fast wie eine Verschwörung gegen sich. So gerät er, ohne es sich einzugestehen, immer tiefer in eine Sinnkrise, wird dünnhäutig gegenüber ganz alltäglichen Bemerkungen seiner rational denkenden Frau, und auch das obligatorische Besichtigungsprogramm der Landessehenswürdigkeiten bringt ihn nicht auf andere Gedanken, zumal er aus seiner Stimmung heraus eine andere Sensibilität für die Historie entwickelt als Frau und Tochter.

In dieser Situation trifft es ihn „wie ein helles Schlaglicht vor erloschenem Hintergrund“, als er der Frau begegnet, die mit ihrem Mann in den Nachbarbungalow gezogen ist. Er fühlt sich von dieser Frau gleichermaßen abgestoßen wie auf eine unerklärliche, doch heftige Art angezogen. Nach einer mißglückten Operation ist ihr Gesicht, ein ursprünglich eindrucksvolles Gesicht, halbseitig gelähmt; von einem Tag zum anderen wurde sie, eine bekannte Schauspielerin, aus ihrem gewohnten Dasein gerissen und meidet seither die Menschen. Für Böhring geht von dieser Frau eine „erschreckende und geheimnisvolle Ausstrahlung“, eine „verborgene Lockung“ aus, sie hat für ihn etwas Sibyllinisches, als würde sie ihm sagen: „Komm und zeig dich mir. Dann wirst du erfahren, wer du bist.“ Und als seine Frau und seine Tochter vom Einkauf zurückkommen, hat er das Gefühl, sie kämen „in diesem Moment aus der Vergangenheit, wie eine Erinnerung an eine Geschichte, die er irgendwann gelesen hatte ...“ Gegenwart nach dieser heftigen Erschütterung ist für ihn diese fremde Frau, von der er glaubt, nur sie könne ihn verstehen, und die er begehrt.

Wenig später trifft er sie erneut, inmitten einer apokalyptischen Landschaft mit Bergen, „kalkig ausgebleicht wie altes blank gescheuertes Gebein“. Die Frau ist hier - wie er - in der Einsamkeit gewandert und hat sich ganz prosaisch den Fuß verstaucht. Als er sie unter großen Anstrengungen zurückbringt, spürt er ihre Körperlichkeit, für Momente kommen sie sich nahe, „und etwas schloß sich um sie zusammen und grenzte sie beide in einsamer, selbstgenügsamer Schwere gegen die Welt ab“. Aber der Zug auf der nahe gelegenen Bahnstrecke fährt ohne sie beide weg zur Stadt.

Noch einmal steht er ihr gegenüber, sie liegt schlafend auf der Terrasse ihres Bungalows. Nur wenige Schritte sind es hin zu ihr, aber er spürt die Drohung: „Wenn du dort stehen bleibst, wirst du versteinern, wenn du näherkommst, wirst du zersprengt werden.“

Böhring zersprengt sein wohlgeordnetes Leben nicht, er weicht zurück, vielleicht versteint er wie die betonierten Bürobauten, die er zeitlebens errichtet hat. Wann wird sich der nächste Riß auftun, wann wird er wieder angesichts dessen, was vor ihm liegt, in Panik geraten?

Die Nachbarn reisen ab. „Merkwürdige Leute“, sagt Julia, Böhrings Tochter. Und es ist nichts geschehen. Böhring ist einer entstellten Frau begegnet, hat ihr bei einem Unfall geholfen und sie schlafend gefunden, als er ihr seine Aufwartung machen wollte. Nichts als Zikadengeschrei?

Wellershoff erweist sich in seiner Novelle als ein einfühlsamer Erzähler, als ein Meister der leisen Töne. Der Architekt Böhring, angetreten, „das Haus als Lebensentwurf und Wunschform“ zu bauen, „Umgebungen für Menschen, die darin lebten oder vielleicht sogar durch das Haus zu leben lernten“, spürt, wie ihm, zunächst fast unmerklich, der Boden unter den Füßen weggleitet. Gefühle der Entfremdung, der Unerreichbarkeit von Lebenszielen, Gedanken an Vergänglichkeit, an Alter und Tod treiben ihn in eine Lebenskrise, in der auch seine scheinbar so sichere Ehe in Frage gestellt ist. Schlaglichtartig erkennt er durch die existentielle Erschütterung bei der Begegnung mit der unglücklichen Frau des Nachbarn, wie es um ihn steht, hat aber nicht die Kraft, seine Resignation zu überwinden.

Meisterhaft setzt Wellershoff in der Beschreibung des alltäglichen Urlaubsablaufs Zeichen, die die Befindlichkeit Böhrings ausloten und die „unerhörte Begebenheit“ vorbereiten: Da scheint die Straße zur Feriensiedlung plötzlich abzubrechen, streunen ausgesetzte, verängstigte Hunde am Strand, wird eine Gottesanbeterin zum Symbol des einsamen Jägers, das Herz schlägt wie ein fremdes Wesen in der Brust, Angstträume und unwirkliche Szenen im Mondlicht initiieren Todesgedanken, ein Unwetter bedroht die Ferienidylle.

Zwischen Böhring und seiner Frau entstehen ebenfalls Spannungen, sprachlich behutsam zum Ausdruck gebracht. Inas Gesicht wirkt streng; sie wendet sich abrupt ab; sie scheint Böhring durch Unpünktlichkeit strafen zu wollen. Er möchte nicht dabei überrascht werden, wenn er besorgt nach ihr (und der Tochter) Ausschau hält ... Ganz allmählich gewinnt man den Eindruck der Gefährdung ihrer Beziehung.

Auch die „heile“ Ferienwelt hat ihre Risse. Neben dem üppig begrünten Bungalowpark entsteht ein neuer Gebäudekomplex, die ursprüngliche Landschaft wird immer mehr zurückgedrängt, vielleicht führt der nahe liegende kleine Bach Abwässer. Die Landwirtschaft verkommt zugunsten der Tourismusbranche, sterbende Bäume auf den Nutzflächen werden nicht durch junge ersetzt. Und irgendwie wirkt sich diese Verwandlung der Umgebung auch auf die Menschen aus, „die untereinander deutlichen Abstand“ halten.

Zikadengeschrei ist eine beklemmende Lektüre - und ein wichtiges Buch zugleich, denn es wirft existentielle Fragen auf, denen man sich nicht verschließen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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