Eine Rezension von Bernhard Lies

Erinnerungen, schöpferisch verwendet, helfen leben ...

Erwin Strittmatter: Selbstermunterungen
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1995, 121 S.

Eine Radtour führte mich mit meinem achtjährigen Enkel Max gezielt nach Schulzenhof. Als wir, aus dem tiefen Wald kommend, endlich eine kleine Ansammlung von Häusern erblickten und mitten darin einen an einem Haus werkelnden Mann, der dem Großen von Schulzenhof irgendwie ähnlich sah, da wußten wir: Hier also hat er gelebt und geschrieben. Das ist die ruhige, auf den ersten Blick nicht sonderlich attraktive Landschaft, die er seinen Lesern liebevoll nahebrachte, die sich nur dem erschließt, der in der einfachen Natur Schönes und Großartiges aufspüren kann. Aber auch wer eins ist mit dieser eigens ausgewählten Umwelt bedarf zuweilen der Ermunterung, Strittmatter gar der „Selbstermunterung“.

Und so notierte er 1966/67 ganz unsystematisch und zunächst wohl nur für den eigenen Gebrauch zahllose Ideen und Gedanken und Beobachtungen, wie man so sagt, über Gott und die Welt. Das war mitunter seine Art, sich zu finden, zu bestimmen, zu erkunden - sich aufzumuntern. Ungewohnt aphorismenhaft kommt uns das Ganze daher, noch knapper als im Schulzenhofer Kramkalender, ungewöhnlich für einen Erzähler wie Strittmatter. Zweifellos jedoch eine interessante Facette in seinem schriftstellerischen Tun. Diese kurzgefaßten, oft nicht mehr als ein oder zwei Sätze umfassenden Ansichten - darin enthalten manche Strittmattersche Lebensweisheit - hat nun der Aufbau Taschenbuch Verlag seiner neuen (oder alten?) Leserschar zugänglich gemacht, nachdem 1981, 82 und 84 im Aufbau-Verlag bereits drei Auflagen erschienen sind. Kurz, die jetzige Ausgabe gleicht der ersten aufs Wort, und zuweilen staunt man, daß der Text 1982 von den DDR-Oberen die Druckgenehmigung bekam.

Warum verordnete sich Strittmatter eigentlich eine Ermunterung? Die Gründe erschließen sich nur aus der zeitgenösssichen Deutung des Niedergeschriebenen. Da trifft der Leser auf Anhieb keinen alleinigen Anlaß; die Motive sind durchaus vielfältig und ebenso die Quellen, aus denen Aufmunterung für ihn ersprießt. Bei genauerer Betrachtung der Zeitläufte wird aber doch sichtbar, was Strittmatter Mitte der 60er Jahre bewegte, beunruhigte, vielleicht auch deprimierte, so daß er ein wenig Ordnung in seine Gedanken, in seine Bewertung von Geschehnissen, in sein keinesfalls weltabgeschiedenes Dasein als Schreiber zu bringen versuchte. So spürt man vorerst durchgehend, wie sich ihm als Mittfünfziger die Endlichkeit seines Erdendaseins in sein Bewußtsein drängt, ungebeten zwar, aber für ihn mit dem beruhigenden Gefühl, sich auf Unabwendbares überlegt einzustellen: „Ich darf nicht vergessen, daß der Vorrat an Zeit, mit dem ich zuweilen noch so unsorglich umgehe, bald aufgebraucht sein wird!“ (S. 29) Dann der trotzige Appell an sich: „Die Zeit meines Alterns versuche ich selber zu bestimmen: Ich halte mir Projekte auf Vorrat, an deren Verwirklichung ich zäh arbeite, auch unter widrigsten Bedingungen.“ (S. 23) Wie wir im Nachhinein wissen, waren dies erkleckliche Vorhaben wie die Bände 2 und 3 vom Wundertäter und die „Laden“ -Trilogie. An anderer Stelle (will heißen an einem anderen Tag und in einer anderen Stimmung) nahm er sich „hastloses Arbeiten“ vor, so „als ob ich meinen Lebensabend genösse und als ob ich zusätzliche Gedanken produzieren würde, die ich eigentlich habe mit ins Grab nehmen wollen.“ (S. 7) Wer Strittmatter kannte, wußte natürlich, daß es kein Ausruhen auf dem bis dahin Verfaßten (etwa Ole Bienkopp, Wundertäter I, Ochsenkutscher und Tinko) geben würde. „Ob erste Tagstunde, ob letzte Nachtstunde - es ist jederzeit möglich, Entscheidendes zu tun, sogar noch am Tag vor dem Tod, sagte ich mir.“ (S. 15)

Wie andere Künstler und Schriftsteller durchrüttelte ihn gehörig die 11. ZK-Tagung vom Dezember 1965. Obwohl sein Name nicht bei den Hauptketzern plaziert wurde, sein „Bienkopp“ (1963) fand bei der Parteiobrigkeit mehr Mißfallen als Zustimmung. Auch Strittmatters literarisches Gewicht hätte der inquisitorischen Atmosphäre keine Wende mehr gegeben, wenn er den Führenden gesagt hätte: „Die Kirchenväter bedienten sich der Künste und ließen zum Beispiel in der Literatur und in der Bildenden Kunst nur die Personage und die Themen zu, die ihre Anliegen begünstigten. Ists richtig, wenn sich auch unsere Atheistenväter so verhalten?“ (S. 91) Er ging in sich und rammte seine Pflöcke selbständigen Denkens und Fühlens ein. Ohne sie als Thesen an die große Glocke zu hängen, pochte er auf die „Eigengesetzlichkeit eines menschlichen Talents“ (S. 75) und nahm sich - und das kann nur als Opposition auf die beabsichtigte Disziplinierung durch seine Partei vestanden werden - strikt vor: „Ich will nur noch aufschreiben, was ich wirklich sehe, und ich will aufschreiben, was ich wirklich weiß, und ich will aufschreiben, was ich wirklich fühle.“ (S. 12) Diese betonte Ich-Form läßt sich als sein Bekenntnis zur unverwechselbaren Individualität des Schriftstellers verstehen, der unabhängig von Äußerem (auch einer alles bestimmenden Partei) aufschreibt, „was nur ich aufschreiben kann“. Ihm schwebte vor, unbehelligt und ungezwungen von irgendwelchen politischen und moralischen Vorgaben zu schreiben, „wie ich in der pflichtlosen Kindheit lebte“ . (S. 61) Trost und Hoffnung über das Erhabene und Dauerhafte des eng mit dem Leben verbundenen und nach Wahrheit strebenden Schriftstellers gibt sich Strittmatter mit seiner Überlegung vor: „Die Macht eines Herrschers währt nicht immer solang wie sein Leben. Die Macht des Dichters kann Jahrhunderte währen.“ (S. 119)

Herrlich poetische Bilder gelingen, wenn des Autors Ringen um Kopfklarheit und Zeit für sein Schreiben sichtbar wird. Er will als Pionier in dem Dickicht, sich „nicht vom Leben anderer überrennen lassen“, sondern „mein Leben zu einem Werk machen“ (S. 110). Jeder Morgen rufe ihm zu: „Sei ruhig, der Tag wird dir bringen, was du brauchst!“ (S. 111) Ein rastloser Schreiber verlangt vom Tag immer mehr, als dieser zu bieten vermag, deshalb ein wenig resignierend und zugleich optimistisch: „Meine Tage tummeln sich, und ein jeder ruft am Abend hinterm Wald: Nie wieder, nie wieder! Glücklich wär ich, wenn ich jedem nachrufen könnt: Ich hab dir entrissen, was ich konnt.“ (S. 38) Der ewige Kampf mit der knappen Zeit, dem Verstehen der Widrigkeiten und Widersprüche des Lebens im allgemeinen und des Findens der eigenen Lebensphilosophie und deren literarischer Widerspiegelung - diese Zwistigkeiten, die nichts anderes als der Alltag eines zeitgeschichtlichen Erzählers sind, durchziehen in mannigfaltiger Weise das Büchlein. Immer mit dem Wollen verbunden, daraus den eigenen Arbeitspfad zu pflastern.

Das Schöne an dieser kompakten Form der Gedankenübermittlung durch den Autor besteht zweifellos für den Leser darin, jedweder Anregung nachzugehen, eigenen Vorstellungen und Assoziationen freien Lauf zu lassen, sich irgendwohin mit seinen Gedanken zu begeben, mitunter zu verlieren. So liest man derlei nicht in einem Zug, man verharrt immer wieder und sinnt, wenn man des Literaten Überlegungen verinnerlichen will, von denen eine lautet: „Erinnerungen - schöpferisch verwendet - helfen leben. Erinnerungen als sentimentale Betrachtungen - helfen sterben.“ (S. 28) Weisheit eines in den Stürmen seiner Zeit gereiften „klugen Schulzenhofers“, der dem „listigen Augsburger“ manches abgesehen hat. So die selbstgesetzte Pflicht und das Vergnügen auf immer neues Erkennen: „Wenn ich aus einem Lebenstag keine Erkenntnis holte, habe ich ihn nicht erlebt, sondern verbracht.“ (S. 98)

Gerade aphoristisch Verknapptes wird an der präzisen Formulierung, dem angedeuteten Bild und an der Pointe gemessen. Strittmatter hat auch in dieser vermeintlich kleinen Form Erstaunliches geleistet. Mit Vehemenz kommt auf den Leser Erkenntnis, Lebensweisheit, Besinnlichkeit und viel Nachdenklichkeit aus den Tiefen einer Schreiberseele zu. Was er vermitteln will, trifft das Leben, das eines Intellektuellen im besonderen. Zu fragen wäre, ob sich der Schaffende durch allzu viele Ermunterungen nicht irgendwo selbst einengt, begrenzt? Kann er bei einer solchen Fülle gutgemeinter Ermunterungen letztlich noch alle befolgen? Daraus können schon neue Unruhen entstehen, die eigene Unvollkommenheit nur noch deutlicher werden. Aber das mußte der Autor allein mit sich selbst ausmachen. Mir scheint, es ist ihm gelungen.

Mein Enkel hat den zweizeiligen Grabspruch Strittmatters „Löscht meine Worte aus und seht: der Nebel geht über die Wiesen ...“ behalten. Er wird (hoffentlich) später in dessen Büchern nachforschen, welchen Sinn der Schriftsteller bei diesen Worten sah.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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