Eine Rezension von Gerda Gericke

Mehr als ein Kriminalroman

Ruth Rendell: Die Besucherin
Blanvalet Verlag, München 1995, 436 S.

Ruth Rendell schreibt seit ein paar Jahrzehnten Kriminalromane. Sie wurde 1930 geboren, da war Agatha Christie vierzig Jahre alt. Heute gilt Ruth Rendell als „First Lady“ des englischen Kriminalromans, und nächst Agathas dürfte es ihr Beispiel sein, das Frauen ermutigte, den Plan des literarischen crime zu betreten und darauf andere Markierungen zu setzen.

Das Genre zeigt sich außerordentlich dehnbar, und im Schema Verbrechen, Ermittlung, Verfolgung und Aufklärung läßt sich alles Menschliche unterbringen. Die Abgründe des Menschlichen hat Agatha Christie in ihren psychologisierenden Geschichten geschildert, und auch die Bücher von Ruth Rendell gewinnen Spannung aus den Untiefen der menschlichen Seele. Diese Qualität ist mit mehreren Preisen anerkannt worden. Ihre Bücher wurden in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Die Besucherin, ihr jüngster Roman, kam schon ein Jahr nach seinem Erscheinen in England in deutscher Sprache heraus.

Ruth Rendell hat die Struktur des Kriminalromans genutzt, um Rassismus in der Gesellschaft zu thematisieren. Sie weitet die Aktionslinien des Genres aus, um solche sozialen und politischen Strukturen erfassen zu können, die gleichsam Voraussetzung für Rassismus sind.

Das Thema wird rasch und fast ein bißchen befremdend angegangen, indem sich Inspector Wexford, Bürger der kleinen englischen Stadt Kingsmarkham, in der insgesamt nur achtzehn Farbige leben, ziemlich unmotiviert befragt, ob er rassistisch denkt. Überhaupt sind auf den ersten Seiten alle inspirierenden Motive der Autorin wie die handlungstragenden angedeutet. Das erkennt man bei einem Kriminalroman allerdings erst, wenn man ihn gelesen hat und sich noch einmal an die Lektüre des Anfangs macht. Zu viele Um- und Irrwege der Ermittlung, zu viele Nebenhandlungen nehmen einen unterwegs in Anspruch.

Die Autorin beginnt ihre Geschichte mit der Beschreibung des raschen Verfalls von Selbstbewußtsein und Selbstschätzung von Leuten, die arbeitslos werden und sich den Vorschriften der Arbeitsämter unterwerfen müssen. Wexford wird damit in der eigenen Familie konfrontiert. Das Arbeitsamt ist ein Ort, zu dem ihn seine Ermittlungen immer wieder führen, ein Hauptort zwar nicht des Verbrechens, aber doch der Enthüllung: der Beschreibung der Trostlosigkeit solcher Ämter, der Bürokratie, der Verwaltung der Arbeitslosen, der gleichermaßen von Resignation wie Aggression gezeichneten Atmosphäre. Arbeitslosigkeit ließe sich als ebenso diskriminierend wie Rassismus interpretieren. Inspector Wexford (beim englischen Fernsehpublikum aus Verfilmungen von Rendell-Krimis eine sehr beliebte Figur) ist ein Mann über die Fünfzig, verheiratet und dank zweier engagierter Töchter und deren Familien mit Lebensproblemen aller Art vertraut. Sein Beruf hat ihn nicht abgehärtet, sondern eher sensibilisiert. Die Fragen nach Rassismus im Denken und Fühlen von Leuten, die sich keineswegs als Rassisten sehen, eine für den thematischen Zusammenhang und sicherlich auch für die Autorin selbst sehr wichtige Frage, begleiten ihn und seine Ermittlungen. Daß Ruth Rendell sie nicht erschöpfend beantworten kann, liegt auf der Hand. Es gibt aber eine Szene im Buch, die Wexford und dem Leser deutlich macht, wie sehr man sich über sich selbst in dieser Beziehung täuscht. Wexford verwechselt die Leiche eines schwarzen Mädchens mit einem vermißten schwarzen Mädchen und lädt die Eltern ein, sie zu identifizieren. Er hat zwar die Entschuldigung, daß solche Verwechslungen auch bei Weißen vorkommen, muß sich aber eingestehen, über der scheinbaren Beweiskraft des Äußeren, den Rassenmerkmalen, die sorgfältige Untersuchung versäumt zu haben. Wexford ist also kein Held ohne Fehl und Tadel, sondern ein nachdenklicher, lernfähiger Mensch, der allerdings über seinen Fehlern, und seien sie so tragisch wie dieser, auch nicht zusammenbricht. Gelegentlich bezieht auch er Impulse aus dem, was die Krimi-Autoren Intuition nennen, irgendeine dunkle Ahnung, die aus dem Spurengewirr auftaucht.

Die Handlung dehnt sich, von der Vermißtenmeldung angefangen, aus ins Leben der kleinen Stadt. Ein zweiter Fall, die Ermordung einer Angestellten des Arbeitsamtes, und ein dritter, der Fund einer Ermordeten, die niemand sucht, erfordern ein breites Spektrum der Ermittlungen. So entsteht ein Bild des Städtchens, geprägt von starken sozialen Kontrasten, ein Seinsbefund. Auch die gegen Ende des Geschehens stattfindende Demonstration gegen Arbeitslosigkeit hat in ihrem Buch ihre Funktion für die Aufdeckung der Verbrechen. Ruth Rendell zeigt die Symptome des gesellschaftlichen Verfalls, und sie zeigt sie zum einen in den Schicksalen, zum anderen im Verhalten der Leute. Sie gestaltet die Kausalität von Arbeitslosigkeit und Asozialität im Ausdruck einer hilflosen, menschlichen Dürftigkeit. Die darin liegende Potenz für kriminelles Handeln setzt sie ins Verhältnis zur zynischen, menschenverachtenden und selbstherrlichen Gewalt von Angehörigen der höheren Gesellschaftsschicht. Rendell enthüllt mit Wexfords Ermittlungsarbeit praktizierte Sklaverei. Sie benutzt das Wort slavery, um eine Gesinnungsart zu charakterisieren, die alle Gebote des Menschlichen aus der Hybris der vermeintlichen Herrenrasse überschreitet. Ermöglicht wird sie durch unzulängliche Gesetzesgrundlagen aus dem Jahre 1971. Versklavung von Dienstmädchen, die laut Einwanderungsgesetz als Familienangehörige gelten und daher schutzlos sind, bleibt verborgen. Vergewaltigungen und Mißhandlungen sind keine Grenzen gesetzt. Opfer dieser gesetzlich zwar nicht sanktionierten, aber auch nicht geächteten Gewalt wurde das etwa 18jährige schwarze Mädchen, dessen Leichnam zufällig von einem Schatzsucher ausgegraben wurde. Zur Vertuschung dieses Mordes mußten andere Gewalttaten begangen werden, für die man sich auch einen Killer aus den Reihen der Armen kaufen konnte.

Wie in jedem Kriminalroman erfolgt am Schluß die Aufklärung des Verbrechens. In diesem Falle sind es mehrere, deren Verbindung über lange Zeit undeutlich bleibt. Die Autorin betreibt den Fortgang der Dinge ausschließlich aus dem Fortgang der Ermittlungen, und Wexford gibt am Schluß zu bedenken, daß der Täter nach dem Stand der Dinge kaum zu überführen gewesen wäre, hätte nicht seine Tochter unter dem Leidensdruck von Vermutungen eine Aussage gemacht. Das zeigt an, in welchem Maße sich derartige Formen des Rassismus unter dem Schutze des Gesetzes etablieren können.

An diesem Buch fasziniert nicht nur die spannend verknüpfte Kriminalgeschichte. Ruth Rendell ist darauf bedacht, einen lebendigen gesellschaftlichen Organismus zu zeichnen. In der Charakterisierung der Menschen läßt die Autorin liebenswerten Gerechtigkeitssinn walten. Sie beschreibt, offenbar mit Lust an der Differenzierung, Äußeres und Inneres, Eigenheiten, Gewohnheiten, die Reaktionen aufeinander. Scharfsinn oder Witz findet sich nur selten in Gesprächen, aber in der Schilderung von Vorgängen. Nur in einem Fall wird eine Figur, und zwar vom ersten Auftreten an, karikiert. Sie gewinnt schließlich die Wahl in den Stadtrat.

Die Autorin ist Realistin. Ihre Sicht auf die Verhältnisse läßt keine Aussicht auf Veränderungen des sozialen Gefälles zu. Aber in ihrem Buch gibt es verbale und in die Handlung eingeschlossene Appelle an Mitmenschlichkeit, die Aufforderung, sich privat und offiziell gegen all jene Formen geduldeter Gewalt, wie sie die Diskriminierung der sozial Schwachen, die Gewalt gegen Frauen, die Bevormundung alter Menschen, Mißbrauch der Not anderer und ähnliches mehr darstellen, zu engagieren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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