Eine Rezension von Bernd Heimberger

Irren ist intellektuell

Boris Pilnjak: „ ... ehrlich sein mit mir und Rußland“
Briefe und Dokumente.
Herausgegeben und übersetzt von Dagmar Kassek.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1994, 340 S.

„Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, wie der amerikanische Journalist John Reed sagte, warfen nicht nur das Leben der Romanows aus der Bahn. Die russische Revolution von 1917 forderte Jahrzehnte Opfer. Noch ehe Babel und Mandelstam tot waren, die Zwetajewa ihr Leben beendete, wurde Boris Pilnjak wegen trotzkistischer Tendenzen vor den Kadi gezerrt. Von dem 1938 hingerichteten Rothaarigen heißt es: „Er hatte etwas vom alten Rußland.“ Das bedeutete, ihm war die Besinnung auf alles Gewesene so wichtig wie die Bewegung nach vorn.

In Pilnjak hatte die Revolution keinen Widersacher. Nahm er ihre Verwerfungen wahr, widersetzte er sich mit Worten. Der Prosaist verfaßte ein halbes Dutzend Romane und füllte fast ein Dutzend Bücher mit Erzählungen. Der Ost-Berliner Verlag Volk und Welt erschloß den deutschsprachigen Lesern den in die Vergessenheit gedrängten Erzähler in den Achtzigern mit einer Ausgabe ausgewählter Werke. Entdeckt wurde ein Autor, der das Primat des Poetischen gegenüber der Politik betonte. Pilnjaks Prosastimme war reiner und heller als die Gorkis. Russe und russisch, wie Pilnjak war, war er sprachlich ein Büchner Rußlands. Nie modernistisch, ist er immer modern.

Die Präzision der Pilnjakschen Prosa gilt selbstverständlich auch für die Selbstzeugnisse. ... ehrlich sein mit mir und Rußland heißt eine Sammlung mit Briefen und Dokumenten des Schriftstellers, von denen viele noch nie veröffentlicht wurden. Eine Annäherung an das Schicksal des Autors wird möglich, dessen Lebenslauf soviel Anteilnahme wecken kann wie seine Literatur. In der Jugend mit stattlichem Selbstbewußtsein ausgestattet, sagte der 20jährige: „Mein erstes Werk wurde veröffentlicht, als ich 15 Jahre alt war.“ Sofern Zeitgeschichtliches in den Briefen zur Geltung kommt, wird es in sehr persönlichen, anschaulichen, kritischen Worten mitgeteilt. Unmißverständlich schreibt er 1934 an den Freund und Kollegen Konstantin Fedin: „Ich lebe die letzten beiden Wochen sehr schlecht, ausgesprochen schlecht.“ Nachfolgend ist eine Reflexion auf eine Stalinrede zu lesen, die den Gipfel des Peinlichen erreicht, wenn Pilnjak äußert: „Welcher Schriftsteller könnte sich rühmen, seine Worte seien denen Stalins ebenbürtig?“ Das ist kein Kniefall. Das ist die Kalamität eines Menschen. Ist ein Beispiel für den Irrtum der Intellektuellen, die gern den Glauben an Ideen aufrecht halten, selbst wenn der Gang der Geschichte den Glauben längst erschüttert hat. Boris Andrejewitsch Wogau-Pilnjak war nicht nur ein wehrloses Opfer. Auf Gedeih und Verderb mit den russisch-sowjetischen Verhältnissen der Ära nach Lenin verwoben, war das einzigartige Geschick des Schriftstellers nicht so einmalig. Dem Russen wird sich verwandt fühlen, wer weit von Rußland existiert und keine so exponierte Position wie Pilnjak hat. Treue, Traurigkeit, Tragik des Erzählers haben ihre Ursache in der immer wieder formulierten „Sehnsucht nach der russischen Erde“, den „Leiden an der Heimat“ Rußland. Geneigt zum Versöhnen, riskierte Pilnjak Kompromisse mit der Macht, die ihn kompromittierten. Gering war seine Geduld, wenn es um d a s Thema, also die Literatur ging. „... da es aber im Leben Rußlands derzeit keinen Kommunismus gibt, gibt es keine kommunistische Literatur, kann es keine geben“, sagte er 1923 und schrieb unbeirrbar seine russische Literatur. Das genügte den Propagandisten des „sozialistischen Realismus“, den Autor zu diskreditieren und zu denunzieren. Seine Literatur machte den Schriftsteller schutzlos. Literatur kostete Boris Pilnjak das Leben. Die Lebenden schulden dem unsterblichen Schriftsteller das Lesen seiner Literatur.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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