Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Vom Reichtum der Armen

Frank McCourt: Die Asche meiner Mutter
Irische Erinnerungen. Deutsch von Harry Rowohlt.
Luchterhand Literaturverlag, München 1996, 508 Seiten

Aus Irland stammen George Bernard Shaw, Sean O'Casey und James Joyce. Mit ihnen hielten bizarrer Witz, spielerischer Humor, pikante und sarkastische Sprachlust Einzug in die europäische Literatur dieses Jahrhunderts. Auch der boshafte Menschenfreund Jonathan Swift kommt aus Irland. 1729 schrieb er, die grüne Insel litt gerade unter furchtbarer Hungersnot, seine bitterste Satire, den „Bescheidenen Vorschlag, zu verhüten, daß die Kinder armer Iren ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können“. Swift trieb das Problem auf die Spitze und legte darin der Regierung in London nahe, die geschätzte Zahl von jährlich 120 000 neugeborenen Iren den reichen, die Insel beherrschenden, Engländern als „Speise anzubieten“. Weit mehr als zweihundert Jahre später macht Heinrich Böll ganz andere Erfahrungen in Irland. In seinem 1957 erschienenen „Irischen Tagebuch“ erfährt er die freundliche und skurrile Herbheit dieser Bewohner, entdeckt die prickelnde Poesie des Alltags. Auch zeichnet er ganz trefflich das „Porträt einer irischen Stadt“ namens Limerick, von der gewitzte Leute wissen, daß hier der Ursprungsort für komische und verschlüsselte Schüttelverse zu finden ist.

In Limerick hat der 1930 in New York geborene Frank McCourt seine Kindheit verbracht. Als Vierjähriger kam er mit seinen Eltern in diese Gegend, die er, reich an Erlebnissen, mit neunzehn wieder verläßt. McCourt arbeitet bis zu seiner Pension an einer High School in New York. Danach setzt er sich hin und schreibt in kurzer Zeit einen Roman, der diese irische Kindheit erinnert. Ein später Erstling von geradezu magischer Intensität. Nahezu bruchlos scheint der Pensionär McCourt in die Welt seiner Kindheit zurückgefunden zu haben. Es ist die lebendige, fortwirkende Kraft elementarer Erlebnisse, die hier noch einmal aufleuchtet. Der Leser wird sofort in den Bann des frisch erzählten Lebens gezogen. Obwohl es da auf den ersten und zweiten Blick noch und noch Unerfreuliches zu berichten gibt. Es herrschen Armut, Elend, Hunger, Geldnot immerfort, Krankheit, Demütigungen. Mit allem macht Frankie Bekanntschaft. Zusammen mit seinen drei Brüdern erduldet er die Exzesse des betrunkenen Vaters, der die Söhne patriotische Lieder absingen läßt, die vom Ende der Tyrannei aller Iren künden. Ein Gequälter, der, in der Hoffnung auf Erlösung, quält. So sind alle verstrickt, nur im Herzen des Erzählers lodert die größere Hoffnung, aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Schon auf der ersten Seite macht McCourt klar, daß es hier nicht um die Sonnenseiten des Lebens geht. Doch nicht aus der Klage, sondern aus deren heiterer Verwandlung in Poesie, nimmt dieser Roman seinen Reichtum, seine Energie, seinen Stoff. Der Erzähler beginnt so: „Mein Vater und meine Mutter hätten in New York bleiben sollen, wo sie sich kennengelernt und geheiratet haben und wo ich geboren wurde.“

Ohne diesen hinreichenden Grund wäre aber der Roman nicht geschrieben worden. Und McCourt setzt schon ein Resümee, noch bevor die Handlung beginnt: „Natürlich hatte ich eine unglückliche Kindheit; eine glückliche Kindheit lohnt sich ja kaum. Schlimmer als eine normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit.“ Im Ernst die Komik sehen, darauf kommt es hier an. Und so hängt das Glück des Lesers, es ist bitter und wahr zugleich, vom Unglück des Erzählers und seiner Kindheit ab. Aus solcher Spannung entsteht gute Literatur. Heftig erlebt, intensiv beobachtet: der träge, redselige und trunksüchtige Vater neben der frommen, vom Schicksal besiegten Mutter. Die am Herdfeuer stöhnt, aber sonntags Geschichten von den Leuten in Limerick erzählt, komisch, liebevoll, trotzig das Lachen der Mithörenden hervorkitzelnd.

Mr. O'Neill, der Lehrer, ist kein Menschenschinder, er lehrt, daß jeder, der die Theoreme des Euklid nicht versteht, ein Idiot ist. Die Tragik von Denken und Träumen gefällt Frankie an diesem Mann, der wässrige Augen bekommt, wenn er von seiner Liebe zu Euklid schwärmt, und zugleich eingesteht: „Euklid lieben heißt allein sein auf dieser Welt.“ Das Leben läßt die Spielräume für Phantasie wachsen, auch in der Armut läßt sich alles, was möglich ist, denken. Das Haus, in dem die Familie lebt, ist naß und kalt. Wer es etwas besser haben will, weicht ins obere Stockwerk aus, wo die Sonne scheint. Das heißt dann ein für allemal Italien. Afrika hingegen nennen die Brüder Garten und Hinterhof in der nächsten Behausung, wo ein Fahrrad steht, „das einem Riesen gehört haben muß“. Als Frankie vierzehn ist, rät ihm der amerikabesessene Schulleiter Hoppy O'Halloran: Verlaß dieses Land, geh nach Amerika. Vorläufig aber muß der Erzähler als Telegrammbote Geld verdienen. Mit der ersten Pfundnote möchte er der Welt zuwinken, doch er weiß, dies ist erst der Anfang vom langen Weg raus aus dem Elend.

Limerick ist immer gegenwärtig, es ist, als sei das Erzählte ein unmittelbar ablaufender Film. Ein Geschehen von allergrößter Nähe, oft von derb-komischer Direktheit, erfüllt mit hintergründiger Lust, sich auch auf schauerliche Szenen noch einen ironesken Reim zu machen. Im Krankenhaus liest Frankie ein Buch, in dem es um einen sonderlichen Englänger geht, „der es satt hat und nicht weiß, was er jeden Tag mit sich anfangen soll, obwohl er so reich ist, daß er sein Geld nicht zählen kann. Er kann seine Zeitung nicht lesen, er kann sein Ei nicht essen, und er kümmert vor sich hin. Sein Arzt sagt, leben Sie unter den Armen im East End von London, dann lernen Sie das Leben lieben, und das macht er auch.“

Dieses von der ersten bis zur letzten Seite sinnlich erzählte Buch ist die Geschichte einer Kindheit, in der das Schreckliche schon den Keim des Wunderbaren gebiert. Im Sprachwitz findet Überwindung statt, wird nachvollziehbar, daß mit Lust erzählte Leiden und Freuden erst das ganze, reiche, wirkliche Leben sind. Der Rezensent empfiehlt dieses, von Harry Rowohlt exzellent übersetzte Buch ausdrücklich. Es kostet zudem keine Mark zuviel.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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