Eine Rezension von Helmut Hirsch

Visionen und Nöte eines gestrandeten Genies

Hans Henny Jahnn: Briefe. Band I: 1913-1940, 1376 Seiten
Band II: 1941-1959, 1466 Seiten
Herausgegeben von Ulrich Bitz, Jan Bürger, Sandra Hiemer,
Sebastian Schulin, unter Mitarbeit von Uwe Schweikert.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1994

Er gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Erzählern dieses Jahrhunderts, immer ein schwieriger Mensch, dessen Bücher einen besessenen Leser verlangen. Von sich hat er einmal gesagt: „Ich war der schlechteste Schüler. Ich beherrschte keine der leichten Regeln der Syntax.“ Hans Henny Jahnn: 1894 geboren, von einer „hanebüchenen Unbeholfenheit“ zeitlebens begleitet, stirbt 1959. Er hat Stücke wie „Thomas Chatterton“ und „Medea“ geschrieben, Tagebücher und Essays, vor allem aber hat er Furore gemacht mit den Romanen „Perrudja“ (1930) und der 1952 beendeten Trilogie „Fluß ohne Ufer“. Daß Jahnn außerordentlich viele Briefe geschrieben hat, zeigt diese Ausgabe, daß er außerdem noch Orgelbauer, Herausgeber barocker Orgelmusik, Pferdezüchter, Bauer und Hormonforscher war, spricht für seine Genialität.

Der Literatur verschreibt er sich eher mißtrauisch. Er nennt sich gern unbelesen und attackiert die bekannten „Großschriftsteller“. In jungen Jahren gründet Jahnn die utopische Glaubensgemeinschaft „Ugrino“, von der wenig mehr als ein kleiner Musikverlag übrigbleibt. Am ehesten entsprechen die Expressionisten noch seiner Vorstellung vom erfahrungs- und erlebnissüchtigen Leben. Er beschreibt die Nachtseiten des Menschen, lockt das Unerforschliche heraus, setzt als Erzähler auf die „Anarchie der Abläufe“. Naturexperimenteller Mystik steht er näher als abgewogener Poesie. Auch entwirft er gewaltige Sakralbauten, Krypten und Gruften, die alle unausgeführt bleiben.

Mit diesen beiden Briefbänden setzt der Verlag Hoffmann und Campe die Schlußsteine der Hamburger Ausgabe von Jahnns Werken. Die Herausgeber haben nahezu 15000 Briefe, die sich im Nachlaß befinden, gesichtet und daraus ausgewählt. Zwei voluminöse Bände von mehr als 2800 Seiten, eine Fundgrube für Jahnn-Leser. Doch wird auch der „Neuling“, wenn er nur wissen will, wie einer intensiv gelebt hat, sich rasch mit dem ungewöhnlichen Temperament Hans Henny Jahnns anfreunden.

Ein Leseabenteuer zwischen Traum und Wirklichkeit. Zur „einzig möglichen weltlichen Lebensform“, die Jahnn erträumte, gehören utopische Entwürfe, ein Wust von alltäglichen Schwierigkeiten, Demütigungen, Geldsorgen, Ängste und immerfort Selbstzweifel. Die allesamt kühnen Gedanken- und Schreibarbeiten sind unablässige Versuche, „das Geschick zu überlisten“. Viele Orte (norwegisches und dänisches Exil), die Mühsal auch praktischer Tätigkeiten. Wenn etwas stockte, die Zeit es zuließ und der Zustand der Welt ihn gehörig niederstreckte, schrieb er oft ungeheuerlich lange Briefe an die Freunde in Deutschland. Wütende Monologe oder anschauliche Sprachbilder, aber auch nüchterne Bittbriefe, manchmal pikant und dunkel. Während des Ersten Weltkrieges lebte Jahnn in Norwegen, entzog sich der Einberufung und saß über seinen Stücken. An den Freund Jürgensen schreibt er 1917, daß er sich „nicht vor dem Grauen verkrochen“ habe, obwohl ihm gerade wieder ein „Zeitungslappen“ in die Hand geraten sei. Solche Blicke versetzten ihn in „Wutekstasen“, und der degenerierenden Welt will er sein „Gelächter ins Gesicht brüllen“. Noch fühlt er sich auserwählt, „die Erde wieder in ihre Angel zu heben“, doch er weiß bald: „Der Mensch wird nicht als bekannt vorausgesetzt. Man kennt ihn nicht.“

Die Briefe dienen Jahnn als Mittel für seine unerbittliche Rechtfertigung des Lebens, erfüllt von Welterlösungs- oder Errettungsphantasien, weiß er dennoch, daß alles auf Zerstörung hinausläuft. Doch er kennt seine Möglichkeiten, weiß, wo seine Inseln liegen. Gebaut hat er keine Orgel, aber viele entwirft er. Und wirbt unermüdlich für seine Klangprojekte. An den berühmten Theaterkritiker Herbert Ihering schreibt er 1930 nach Berlin, gerade ist sein erster großer Roman fertig, doch „Perrudja“ unbedingt und möglichst bald zu rezensieren. Dem Schweizer Literarhistoriker Walter Muschg, mit ihm verband ihn eine lange Freundschaft, berichtet Jahnn im Frühjahr 1933 von seiner abermaligen „Flucht“ nach Kopenhagen: „Bitte lassen Sie in der Öffentlichkeit nicht verlauten, daß ich etwa geflohen oder dergleichen. Ich bin auf Geschäftsreise. Muß auch nach Deutschland zurück, weil meine Familie dort weilt. Es ist also alles ungeklärt. Ich bin einer jener, die von der Tatsache des Faschismus schwer betroffen sind. Meine Existenz ist ins Wanken geraten.“

Als ihm im Frühjahr 1939 Hanns Johst, der Präsident der Reichsschrifttumkammer in Berlin, die Entlassung als Mitglied aus dieser inzwischen dubiosen Kammer mitteilt, setzt er sich zaghaft zur Wehr. In Berlin hat man den Autor Jahnn so gut wie gestrichen, und nun wird ihm unterstellt, er sei Geschäftsmann als Orgelsachberater. Verblüffend ist, daß Jahnn diesen Brief aus dem Exil mit „Heil Hitler“ (!) unterzeichnet.

Zeitlebens tobt der Kampf um die regelmäßig rasch „zusammengeschrumpften“ Einkünfte. Brief um Brief geht an Verlage oder an die Beförderer seiner Prosa, doch etwas für ihn zu tun. Oft genug hört er das Wort „abwarten“, noch häufiger aber gar nichts. Mitte der dreißiger Jahre, die deutschen Verlage schweigen noch immer, und in einem Exilverlag will er nicht veröffentlichen, schreibt Jahnn, nun werde er auf seinem dänischen Hof „den periodischen Bewegungen der ausgebreiteten Schöpfung“, also der Viehzucht, Genüge tun. Wenig später gesteht er schon wieder resignierend der Freundin Judit Kárász: „Mein Leben ist einfach über die Kraft. Mein Hirn arbeitet seit Jahren mit Überlastung. Ich habe das Empfinden, ganze Abteilungen sind, wie nach Deichbrüchen Land, überschwemmt.“

Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kommentiert er so: „Helfen könnte der Menschheit nur noch das Unmögliche, jener Zufall, den unser Verstand ins Gebiet der Wunder verweist.“ Kurz vor Kriegsende bietet sich Jahnn im Bornholmer Landleben sogar eine ungewöhnlich groteske Situation: „Der Stall ist bei uns voller junger Schweine. Europa hungert. Wir müssen soviel wie möglich produzieren, für wen auch immer.“ Freilich täuscht dieser „Wohlstand“ nicht über die geistige Kalamität des Erzählers hinweg.

Der Nachkrieg bringt für Jahnn heftige Wirren. An Werner Hellwig schreibt er im März 1946: „Die Gleichgültigkeit ist fürchterlich. Aber keiner von uns weicht der Bestimmung aus, Opfer eines oder vieler Experimente zu werden. Diese Experimente versuche ich zu beobachten und teils zu beschreiben. Dabei wird mir die Durchschnittseinstellung der Menschen immer unfaßbarer.“ Gegenüber Gustav Gründgens nennt er sich einen „Besiegten“, in anderen Briefen apostrophiert er häufig sich und sein Werk als Strandgut. In seinem Vortrag „Gestrandete Literatur“ von 1946 meint Jahnn, sich selbst ein Genie nennend, „daß die Werke der Genies inzwischen wie ein Wal sind, der in zu flaches Wasser kam und strandete“.

Mancher Brief wird gar nicht erst abgeschickt, denn „sein Inhalt ist für die Literaturmotten nach meinem Tode bestimmt“.

Erich Kästner berichtet er, der Querelen mit dem PEN-Club müde, er wolle als „Zurückgekehrter“ nicht mehr „Anlaß zu irgendwelchen Mißhelligkeiten“ geben. Doch nicht alles bleibt Traum. Die Theater spielen wieder seine Stücke, zögerlich wenden sich die Verlage seinen gestrandeten „Walen“ zu. Doch wird die Entfernung zu seinen Visionen mit den Jahren größer, Jahnn diagnostiziert immer häufiger „Schöpfungsfehler“: „Das Denken und Rechnen übernehmen die Maschinen. Es ist nur sinnvoll, daß Luft oder Meer die Kettenerzeugung von Atombomben übernehmen. Dann ist vorläufig Schluß. Da aber der Mensch trotz allem ein Stümper bleibt, so werden wir uns wahrscheinlich nur auf ein sehr großes Unglück vorzubereiten haben, das bereits an allen Ecken angezündet ist; aber es wird ein wenig übrigbleiben, und deshalb schreiben wir, solange wirs können.“

Der Leser begegnet in Jahnns Briefen einer außergewöhnlichen individuellen Leistung, einem Traum, das Unmögliche möglich zu machen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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