Eine Rezension von Hans-Rainer John

Verfolger und Verfolgte - Masken und Gesichter

Wolfgang Hegewald: Der Saalkandidat
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1995, 216 Seiten

Nicht einfach, über dieses Buch zu referieren, das die Erzählung Verabredung in Rom, 1987/88 entstanden, und die Novelle Der Saalkandidat aus den Jahren 1993/94 enthält.

Zunächst der Plot der Erzählung: Ein Stasi-Mitarbeiter wird nach Rom entsandt, um drei DDR-Flüchtlinge zu observieren. Er verkleidet sich als Hermaphrodit und hockt sich schlafend auf eine Bank vor der Mariengrotte, wo die drei sich täglich treffen, um ihre Lebensgeschichten auszutauschen. Es handelt sich um eine Saxophonistin aus Leipzig, die nach einem Gastspiel beim Jazzfestival Moers im Westen blieb, um einen Reiseschriftsteller aus der Mark Brandenburg, der auf dem Surfbrett über die Ostsee nach Travemünde entkam, und um eine Ärztin aus Guben, die ihre Ausreise erzwang, indem sie die Behörden mit dem Wunsche nervte, einmal in ihrem Leben vom süßen Ohrenschmalz der Affen kosten zu wollen. (Pläne für die Zukunft kommen nicht zur Sprache, und worin das besondere Interesse der Stasi an diesen Leuten wurzelt, bleibt rätselhaft.) Der Spitzel fühlt sich beobachtet, spürt den Chef im Nacken, begegnet einem Mitarbeiter seiner Dienststelle. Schließlich greifen ihn sieben vermummte Gestalten auf. Sie schleppen ihn zu einer Bank, „und sie vermieden dem Augenschein nach jede unnötige Brutalität. Sachlich wie Chirurgen gingen sie zu Werke ... Zwei preßten die Arme des Delinquenten auf die Lehne der grünen Bank, zwei hielten die zappelnden Beine fest. Wieder zwei öffneten dem verstockten Dienstreisenden mit sanfter Gewalt das sabbernde Maul ... Der siebente Vermummte begann, in der Mundhöhle des Erzählers zu suchen. Allein die sich aufbäumende Zunge schien ihm nicht zu genügen.“

Der makabre Schluß gibt Rätsel auf, selbst wenn man weiß, daß die drei Ausgereisten, verzweifelt über den Versuch, die italienische Sprache zu erlernen, den Plan verfolgten, ihrem Sprachlehrer die Zunge abzuschneiden und diese zur Steigerung des eigenen Sprachsinns zu verspeisen. Überhaupt: Die Figuren sind alle merkwürdig überzogen, manche Details sind sehr präzis und lebensecht erfaßt, im Ganzen aber entspricht nichts so recht der Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit. Begriffe wie Stasi oder DDR werden nicht benutzt, sondern stets umschrieben, und überhaupt scheint es, als ob sich der Autor über die Erwartungshaltung, die mit dem Thema verbunden ist, lustig machen, sie zumindest unterlaufen wolle.

Der Text ist leicht und launig geschrieben, mit subtilem Humor und Gefühl für Atmospährisches, und er liest sich rasch und amüsant, sofern man der tieferen Bedeutung nicht allzu lange nachgrübelt. Der Saalkandidat dagegen ist literarisierend verfaßt, jeder dritte Satz überfrachtet mit Sprachbildern von zwanghafter Originalität und verfremdender Künstlichkeit. Da ziehen sich zum Beispiel aus einem Buchladen „terrassierte Massive nach draußen, Ausläufer eines vielgipfligen Taschenbuchgebirges, Paletten aufsteigender Formationen billiger Bücher“, da spürt der Held „leises Mißbehagen in den Haarrissen seiner Zufriedenheit“, die DDR wird definiert als „eine vom Hohn zehrende Provinz voll nuschelnder Verlierer“ und daß man „das Territorium des Windes passiert“, erkennt man „im Vorüberfahren an den heftigen Gesten alleinstehender Bäume und an den flackernden Chiffren des Vogelfluges“: viel rhetorischer Redeschmuck, verbaler Flitterkram, wie der Autor selbst formuliert.

Das Thema Stasi wird beibehalten, aber variiert, denn inzwischen ist die Wende eingetreten. Worum geht es in der Novelle? Siegmund Wenz, ehemaliger Stasi-Mitarbeiter in der sächsischen Landeshauptstadt D., wird von seinem ehemaligen Chef mit Geld (woher) versorgt und zu einem Tapetenwechsel gedrängt (warum?). Statt dem vorgeschlagenen Ibiza wählt Wenz für den Ausflug die Nordsee-Hafenstadt B. (wieso?), die er heruntergekommen vorfindet. Was er nicht weiß: B. ist inzwischen Wohnsitz von Roland Hector, mit dem er einst dienstlich in D. zu tun hatte. Der damalige Lehrer hatte nämlich zu schriftstellern begonnen, und Wenz sollte bewirken, daß er sich von seinem Essay „Die Ungewißheit der Erscheinungen“ distanziere. Das Bemühen war erfolglos, Hector wurde für den Schuldienst als untauglich erklärt und - nachdem er einige Zeit als Totengräber beschäftigt war - in den Westen abgeschoben. Hector entdeckt Wenz zufällig in B. und spielt ihm eine Karte für die Spielshow „Nonsens nonstop“ zu, in der Showmaster Harry „eine große Tüte voll Spaß“ über der Stadt B. ausschütten will. In der Stadthalle erscheinen Wenz die Zuschauer wie Zugeführte, „als Internierte des organisierten Schwachsinns, in einer geschlossenen Anstalt aus Sensationslust und Schadenfreude gewaltlos verwahrt“. Hector bewirbt sich als Saalkandidat mit dem Wettangebot, im Publikum zehn Stasi-Mitarbeiter ausfindig zu machen. Wie der Showmaster den Saalkandidaten danach inquisitorisch interviewt, das läßt die einstigen Verhörmethoden von Wenz antiquiert erscheinen. Hector gerät ins Stottern und wird irritiert. Ob er trotzdem gewinnt und welche Wirkung das auf Wenz hat, erfährt der Leser nicht. Die Novelle endet nach der Aufforderung des Showmasters, mit der Wette zu beginnen, hintersinnig mit dem Satz: „Geblendet hob Roland Hector den Arm und wies mitten in die Finsternis.“

Auch hier werden reale Begriffe verfremdet: Die Staatssicherheit wird zu einer „Akademie“, Observationen werden zu „Forschungsaufträgen“, Aufklärer und Spitzel zu „anonymen Erzählern“. Neun Zehntel der Novelle macht die Reise von D. nach B. und die Besichtigung von Hafen und Strand von B. aus - winzige Zwischenfälle werden notiert, zufällige Begegnungen oder Erinnerungen, die für das Thema wenig bedeuten, kaum etwas erhellen. Der Baustellen-Unfall, Zigarettenkippen und Kronenkorken, die Erinnerung an den Totenschädel des „Vorfahren“, die Erscheinung von Johann Gottfried Seume, der Mann mit der Plastiktüte, der Mann mit der Platzwunde, der Mann mit den beiden Hunden, der Mann, der Waffenstillstände sammelt - man vermutet Zusammenhänge und Bezüglichkeiten, wird jedoch stets enttäuscht. Es wäre gut, handelte es sich um unscheinbare Details, die sich plötzlich in ein changierendes Muster aus Bedeutung und Trivialität verwandeln. Ich wollte, hier wäre gestaltet, wie die vermeintlichen Gewißheiten des Alltags hinter einem Gewimmel von Wahnelementen zu verschwinden drohen. Aber ich sehe nichts als ein Puzzle, bestimmt von Zufälligkeiten, äußere Erscheinungen ohne die Logik inneren Zusammenhalts.

Die Biographie von Wolfgang Hegewald (44) schimmert überall durch. Der Autor ist Dresdner, studierte Informatik, später Theologie, begann zu schreiben und arbeitete - da ihm Veröffentlichungen in der DDR verwehrt wurden - in der Industrie und als Friedhofsgärtner, bis er 1983 nach Hamburg übersiedelte; auch lebte er 1987 als Stipendiat der Villa Massimo ein Jahr in Rom. Haß und Rache jedenfalls haben ihm die Feder nicht geführt. Die kleinen Stasi-Mitarbeiter werden bei ihm Opfer fast, auf jeden Fall erscheinen sie als Gehetzte ihrer Chefs; tiefere Schichten ihres Charakters werden freilich nicht bloßgelegt. Im „Saalkandidaten“ tritt die Vergangenheitsbewältigung sogar hinter aktueller Medienkritik zurück: Das Täterbild wechselt, Stasi-Wenz tritt in den Schatten, Showmaster Harry dafür ins Rampenlicht. Hector wird zum zweiten Mal das Opfer, und Opfer wird diesmal auch das Saalpublikum - gewaltsam zugeführt zwecks Volksverdummung.

Hegewalds Anliegen entschlüsselt sich vielleicht durch einen Satz, den er Hector in den Mund legt: „Hinter den rasch wechselnden Gesichtern leben Masken. Deshalb fürchten sie ihre Entlarvung nicht, ihre Gesichter wachsen rasch nach. Ich aber will die Ungewißheit der Erscheinungen gelten lassen: ich bewerbe mich um ein Mandat für die Wahrheit.“ Das erklärt möglicherweise die seltsame Ambivalenz, die merkwürdige Undeutlichkeit, die leichte Absurdität der Geschichten, die es dem Leser selbst anheim stellen, Schlüsse zu ziehen. Sicher geht auch Hegewald davon aus, daß Literatur verstören, beunruhigen, am äußeren Schein kratzen soll. Aber seine Darstellungsmethode zwingt den Leser nicht, sich auf sein Vexierspiel einzulassen. Betroffenheit ist nicht unabdingbar, es bleibt viel Raum, auszuweichen in die Unverbindlichkeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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