Eine Rezension von Horst Wagner

Rückblick ohne Bitternis und Nostalgie

Klaus Schlesinger: Die Sache mit Randow
Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 318 Seiten

Was für eine Art Roman ist dieses neue Werk Schlesingers, des wegen seiner kritischen Haltung aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossenen, zeitweilig in den Westen gegangenen und seit 1992 wieder im Osten Berlins lebenden Autors? Ist es ein Krimi, wie Titel und Einstieg vermuten lassen? Oder ein Berlin-Buch, worauf das Foto auf dem Schutzumschlag sowie die präzise Beschreibung der Dunckerstraße und ihres Umfeldes auf dem Prenzelberg schon auf den ersten Seiten hindeuten? Ist es vielleicht so eine Art Wende-Roman? Darauf kommt, wer - auf den Ausgang des vermuteten Krimis neugierig geworden - das Buch von hinten aufschlägt und dort erfährt, wie der Chefredakteur einer großen illustrierten Wochenzeitung im Herbst '89 davongejagt, der an seiner Stelle Neugewählte aber bald darauf wegen Verlagsverkaufs in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wird.

Wer einen Krimi vermutet, wird erst einmal enttäuscht sein. Die Sache Randow will und will sich nicht entfalten. Erst im letzten Teil erfährt man so richtig, worum es eigentlich geht. Der junge Randow hat, sechs Jahre nach dem Krieg und so um seinen 18. Geburtstag herum, sich eine Waffe von der VP beschafft, damit einen Juwelier, der sich Randows Einbruch in seinen Laden entgegenstellte, sowie einen Kriminalpolizisten, der ihn festnehmen will, erschossen und ist darauf zum Tode verurteilt worden. In der Wendezeit möchte die schon erwähnte große illustrierte Wochenzeitung den Fall neu aufgreifen, weil vermutet wird, daß hier von der DDR-Justiz ein Nazigesetz angewandt wurde. Anders hätte es keine Todesstrafe gegen den Jugendlichen Randow geben dürfen. Ganz geklärt wird die Geschichte nicht. Aber der Leser hat längst gemerkt, daß die Sache Randow dem Autor bzw. dem Ich-Erzähler nur als Ausgangspunkt, als Erinnerungsanstoß dient, als eine Art Rahmen, in dem er vielerlei Geschichten zu einem Mosaik zusammenfügt.

Ja: Die Sache mit Randow ist vor allem ein Buch, in dem Berliner Leben zwischen Kriegsende und Mauerfall erzählt wird, Leben im Prenzlauer Berg, aber auch im Westteil der Stadt - kommt man doch aus der Dunckerstraße schnell in die Bernauer, und auf der ist es vor 1961 nur ein Schritt in eine andere Welt. Man spürt, daß der Autor selbst ein Urberliner ist, einer, der in der Dunckerstraße gelebt und heute noch dort seine Freunde hat. Stimmig die Schilderung der Berliner Atmosphäre. Da werden die „von Frost und schwefliger Säure geschundenen Fassaden“ ebenso deutlich wie die Schriften am Milchladen um die Ecke. Vergnüglich oder nachdenklich stimmend die Typen um den Ich-Erzähler Tommi, den späteren Fotojournalisten Thomale: Die Freunde Berni und Benno, mit denen er über die Tour de France und über Frauen redet und schnell mal ins Kino geht zum Kurs 5:1. Der Schwager Hotta, der aus dem Notaufnahmelager Marienfelde zurückkehrt und aus seiner „vergeblichen Arbeitssuche im Baugewerbe der freien Marktwirtschaft ... das Wort ,konjunkturschwach‘ mitgebracht“ hat. (S. 127) Tommis Schwester, „die schönste Frau der Duncker“, die von Bubi Marschalla, dem heimlich Geliebten, zu kleinen Schiebergeschäften über die Grenze angestiftet wird. Charakteristisch und entlarvend die Geschichte um „das Lager in Hohenschönhausen“, das sich als so eine Art frühes Mini-Koko herausstellt. Jedenfalls soll es dazu dienen, der „durch die Einführung der Spaltermark sich ständig verschärfenden Devisenknappheit zu begegnen“, wie Tommi vom Genossen Westphal, dem Parteisekretär seiner Chemiebude, auf Anfrage erklärt wird. (S. 158) Westphals Vorgänger Lahner, der „das Konzentrationslager überlebt hatte, und, wie er bei jeder Gelegenheit betonte, ein Herz für die Jugend besaß“ (S. 128), war nach dem 17. Juni 1953 abgelöst worden, weil er an diesem Tag vor den aufbegehrenden Arbeitern „mit einem Sprung über die Blumenrabatte“ getürmt war. (S. 120)

Es ist ein Berlin-Buch und ein Buch der Erinnerungen, in dem aus dem Blickwinkel der Nachwendezeit Rückschau gehalten wird auf politische Knotenpunkte, vor allem aber auf Alltagsleben in der DDR. Eine Rückschau ganz ohne Nostalgie, aber auch ohne Bitterkeit, zu der der Autor sicher Anlaß gehabt hätte. Freilich, an einigen Stellen scheinen einem für einen Moment neue Schablonen angeboten zu werden. So, wenn Nachbar Landberg (der einzige im Buch, der ausdrücklich als Kommunist bezeichnet wird) mit „verkniffenem Gesicht“ zum Fenster herunterbrüllt (S. 65) oder wenn der Mitschüler Ullrich auftaucht, der „als einziger in der Klasse“ das blaue FDJ-Hemd trägt und den deshalb „niemand wirklich ernst“ nimmt (S. 92). Aber alles in allem ist es ein differenzierter und stimmiger Rückblick, den der Ich-Erzähler da unternimmt, und man möchte ihm auch zustimmen, wenn er das Leben in der DDR als eine schwer zu beschreibende Mischung von Fatalismus und Einverständnis charakterisiert. (S. 243)

Ein besonderer Reiz des Buches ist seine Sprache, sind Sätze, die auf knappem Raum Atmosphäre und Situationen nacherlebbar machen. Oder andere, die man als Aphorismen herausnehmen möchte, als lapidare philosophische Abschweifungen, als Minizeitgemälde. Ich jedenfalls habe noch nie auf nur 18 Zeilen so wesentliches über „diese unwirkliche Novembernacht“ der Maueröffnung, mit ihrer Atmosphäre, ihren Ursachen und Folgen gelesen wie hier auf Seite 268. Und eigentlich bin ich am Schluß des Buches neugieriger als am Anfang, wie es weitergeht in der Dunckerstraße und in der „Dimitroff, die schon bald wieder Danziger heißen soll“. (S. 272) In der „neuen Zeit“, von der Thembrock, der inzwischen in Ruhestand geschickte Wende-Chefredakteur, jeden Morgen denkt: „... ich bin in einer falschen Zeit aufgewacht“ und erst beim Kaffee merkt, „es ist die richtige“. (S. 276)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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