Eine Rezension von Kurt Wernicke

Schuster Wilhelm pur

Winfried Löschburg: Ohne Glanz und Gloria
Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick.
Morgenbuch Verlag, Berlin 1996

Das 1978 in erster Auflage erschienene Werk von Löschburg liegt nun schon in 6. Auflage vor - übrigens immer noch im Buchverlag Der Morgen, der jetzt allerdings dem Berliner Verleger Volker Spiess gehört. Ihm ist es zum nicht geringen Teil zu danken, daß die neue Auflage noch pünktlich im Vorfeld des bevorstehenden 90. Jahrestages des Köpenicker Rathaussturms den Buchmarkt erreichte - ihm und der „Theatergesellschaft Köpenick“, die mit Rückenwind aus dem Köpenicker Rathaus das Jubiläum mit gesteigerter Öffentlichkeitsarbeit vorbereitet. Gegenüber den vorhergehenden (DDR-)Auflagen präsentiert sich das Werk jetzt in einem Outfit, das seiner Bedeutung als zäsursetzende Publikation in der Hauptmann-von-Köpenick-Literatur eher gerecht wird: Es ist nicht nur ansehnlicher geworden, sondern es macht auch mit Harald Juhnke als der Zuckmayerschen Theaterfigur des Wilhelm Voigt auf dem Umschlag gerade in Berlin mehr her als ein noch so gelungenes grafisches Ensemble von Hannelore Teutsch. Besonders während der Festivitäten rund um den Jahrestag - bekanntlich auch mit der Aufstellung eines Wilhelm-Voigt-Denkmals auf der Köpenicker Rathaustreppe verbunden - wird sich die neue Auflage mit Sicherheit regen Zuspruchs erfreuen. Ob Löschburgs Arbeit auch im Foyer des Maxim Gorki Theaters zu haben ist, wenn auf der dortigen Bühne Harald Juhnke Triumphe als Köpenicker Hauptmann feiert, bleibt abzuwarten. Für Geschäftssinn spräche ein Angebot an diesem Ort jedenfalls.

Allerdings birgt diese Verbindung zwischen Zuckmayers Drama und Löschburgs solider wissenschaftlicher Recherche ihren Konfliktstoff in sich. Denn das Bild, das sich vom Hauptmann von Köpenick in deutschen Großhirnrinden festgesetzt hat, ist eben von dem Zuckmayerschen Bühnenstück aus dem Jahre 1931 und dessen gelungenen Verfilmungen von 1932 und 1956 geprägt - zusätzlich noch verankert durch die Erinnerung an die großen schauspielerischen Leistungen eines Werner Krauss bzw. eines Heinz Rühmann. Dabei ist ganz verdrängt worden, daß Zuckmayer seiner gegen das freche Sich-wieder-Spreizen des deutschen Militarismus (gerade einmal ein Jahrzehnt nach seiner gewaltigen Niederlage im Ersten Weltkrieg) gerichteten dramatischen Satire den Untertitel „Ein deutsches Märchen“ gegeben hatte. Zuckmayer war sich des zweifelhaften Wertes seiner hauptsächlichen literarischen Vorlage vollauf bewußt: benutzte er doch des Wilhelm Voigt eigene Darstellung der Ursachen und Vorgänge im Zusammenhang mit dem Köpenicker Raubzug - die Voigtsche Autobiographie von 1909 „Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde“ . Dieses Zeugnis (das wahrscheinlich nicht einmal von Voigt selber ist, sondern sehr wahrscheinlich von dem Berliner Kriminalschriftsteller Hans Hyan) wimmelt von leicht durchschaubaren Ausreden, Verwischungen, Auslassungen und Überheblichkeiten, strickt aber natürlich mit Eifer an der gerichtsnotorischen Legende, die ganze Köpenicker Aktion habe nur der Erlangung eines Passes gegolten. Mit dem Buch unter seinem eigenen Namen hätte Wilhelm Voigt sich zweifellos nicht über Jahrzehnte das von ihm gewünschte Image verschaffen können - aber auf dem Umweg über Zuckmayer hat sich Voigts überhebliche Selbstdarstellung zum allgemeingültigen Bild von der „Köpenickiade“ gemausert. Damit ist der Gewaltverbrecher Wilhelm Voigt in eine Reihe mit dem Grafen Egmont, dem Infanten Don Carlos und dem Freiheitshelden Tell gerückt, deren dichterische Wiedergabe mit den realen Personen der Geschichte bekanntlich nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

Mit der allseits präsenten populären Sicht auf die Köpenicker Vorgänge vom 16. Oktober 1906 und deren Haupt-Protagonisten räumt nun der Historiker Löschburg gründlich auf - übrigens dank seines flüssigen Stils nicht weniger amüsant, als die Zuckmayersche Version der Dinge sich ins öffentliche Bewußtsein gedrängt hat. Obgleich Löschburg ausdrücklich mit seinen Forschungsergebnissen keine Gegendarstellung zu der literarischen Leistung Zuckmayers liefern will, impliziert sein auf breiter Quellengrundlage erarbeitetes Werk doch eine Richtigstellung des literarisch so massenwirksam verzeichneten Bildes des falschen Hauptmanns und ist damit geeignet, die persönlichen Motive eines gerissenen Gauners von der gesellschaftlichen und historischen Bedeutung des „Falles“ zu trennen. Im Schlußsatz seines Resümees zieht der Autor das Fazit, es gelte „doch zu unterscheiden zwischen den Motiven der Handlung und den Auswirkungen der Tat ...“ (S. 310) Diese Differenz herauszuarbeiten ist das eigentliche Anliegen des Buches. Durch genauen Vergleich der Presseberichte, der Polizei- und Gerichtsakten - viele davon erstmals durch ihn wissenschaftlich benutzt - kann sein Verfasser ein minutiöses Bild der Vorgänge um das und in dem Köpenicker Rathaus nachzeichnen. Damit wird auch die Legende um den gesuchten Paß bis zum letzten ad absurdum geführt; übrig bleibt ein mißlungener Anschlag auf das „große Geld“, bei dem es um Hunderttausende, ja wohl sogar um zwei Millionen Mark gehen sollte - ein Gangsterstück, das nur infolge der Verkettung mehrerer Zufälligkeiten ganz und gar danebenging. Dabei handelte es sich der Absicht nach nicht nur um Gelder der öffentlichen Hand, sondern auch um die Spargroschen der „kleinen Leute“: Sehr richtig bemerkt Löschburg, daß das Lachen über die Blamage des Militarismus die Tatsache überdeckte, daß Voigts Überfall auch ein Raubzug zum Schaden der Bevölkerung war. (S. 75)

Akribisch wird dann nachgewiesen, wie mittels raffinierter Methoden im Zusammenspiel von Rechtspresse, Ermittlungsbehörden und Justiz fleißig an dem Rettungsseil gesponnen wurde, mit dem angesichts der Blamage des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaats der mehrfach vorbestrafte Schwerverbrecher Voigt dem nackten Tatbestand des bewaffneten Raubüberfalls entkam und zum unschuldsvollen Opfer von Beamten- und Polizistenwillkür mutieren konnte, der bloß der Amtsanmaßung, Freiheitsberaubung und Urkundenfälschung anzuklagen war: Es durfte doch einfach nicht sein, daß der preußische Staat von einem rückfälligen Zuchthäusler blamiert worden war! Und so wurden dann die Köpenicker beflissen zu besonders großen Blödianen gestempelt, Voigts eindeutige kriminelle Vergangenheit zu einer Irrfahrt eines intelligenten, im tiefsten Herzensgrunde doch anständigen Opfers der Verhältnisse umfrisiert und alle Institutionen kritisiert, die es nur zu kritisieren gab: frühere (natürlich frühere!) Gerichtsverfahren, Zuchthaus- und Paßbehörden, Polizei- und Ortsgewaltige - bloß, um eine Institution außen vor zu lassen, nämlich das Militär. Und Löschburg kratzt auch an dem Geheimnis, was denn der Staatsmacht einschließlich der Justiz so höchst unangenehm auf den Nägeln brannte, das unter der Decke zu halten war (S. 46): Das Verhalten der zuerst vom „Hauptmann“ aufgegriffenen Truppe durfte nicht coram publico breitgetreten werden, weil es mit einem Schwachpunkt der preußischen Militärdoktrin kollidierte - dem nötigen Vertuschen „unwürdigen“ Verhaltens seniler Offiziere! Löschburg ist zu wenig Militärhistoriker, um die Tragweite dieses Faktors in seiner ganzen Bedeutung ausbreiten zu können. Wer aber in der Berliner Militärgeschichte zu Hause ist, kann das Abkommandieren einer unter Waffen stehenden Soldatengruppe auf offener Straße durch einen etwas senil wirkenden Offizier schon richtig einschätzen: Das konnte nur funktionieren, wenn Soldaten des 1. Gardefüsilier-Regiments angesprochen wurden. Warum? Weil sich ihre Kaserne in der Chausseestraße in ziemlicher Nähe zum Invalidenhaus in der Scharnhorststraße befand, und den Gardefüsilieren daher schonender Umgang mit den etlichen hundert Bewohnern des Invalidenhauses eingetrichtert wurde. (Da kamen schon, was Löschburg übergeht, manchmal auch anstößige Zwischenfälle vor, wie man sie noch von dem hochbetagten Generalfeldmarschall Wrangel hinter vorgehaltener Hand erzählte: Der hatte in seinen letzten Lebensjahren im Tiergarten kleinen Jungen gelegentlich sein Geschlechtsteil vorgewiesen.) Voigt muß von dieser Vergatterung der Gardefüsiliere gewußt und daher gezielt zunächst ein solches Detachement abkommandiert haben! Einmal mit einer Truppe ausgestattet, war die Attachierung einer anderen dann kein Problem mehr, die neu Heranbefohlenen sahen ja die militärische Aktion schon ablaufen ... Aber in der Gerichtsverhandlung kam man mit keinem Wort auf diesen Umstand zu sprechen, wenngleich sich vielleicht das auf „Zu Befehl - ja!“ und „Zu Befehl - nein!“ beschränkte Aussageverhalten der als Zeugen vor Gericht geladenen Gardefüsiliere mit einer entsprechenden Einstimmung durch deren Vorgesetzte erklären ließe.

Von größtem Interesse ist Löschburgs Buch durch jenen Teil, der dem Lebensweg Wilhelm Voigts nach seiner durch Allerhöchste Kabinettsorder vorzeitig erfolgten Entlassung aus der Strafanstalt Tegel nachgeht. Mit vollem Recht nennt der Autor diese Ereignisse „der Köpenickiade zweiter Teil“, in der sich der vorher vom Leben so ungerecht Gebeutelte als kaltschnäuziger, geschäftstüchtiger Egozentriker voller Geltungssucht, Selbstgerechtigkeit und - wo es ihm angebracht schien - Devotheit erwies. So setzt sich Löschburg natürlich auch äußerst kritisch und schlüssig mit Voigts Autobiographie auseinander.

Bei der Fülle des von Löschburg ausgebreiteten Materials fällt es schon schwer, halbwegs berechtigte Wünsche nach Ergänzungen vorzubringen. Dennoch sei bemerkt, daß dem Leser auch die Bekanntschaft mit jener Rede zu gönnen wäre, die Köpenicks Bürgermeister Langerhans vor seiner Stadtverordnetenversammlung in deren Sitzung vom 26. Oktober hielt und worin die Geschehnisse des 16. Oktober aus der Sicht des neben dem „Hauptmann“ Meistbeteiligten analysiert und die Motive des bürgermeisterlichen Verhaltens dargelegt werden. Auch die spontane Solidarität aller politischen Kräfte der Stadt mit dem außerhalb so hämisch abqualifizierten Stadtoberhaupt dürfte der Nachwelt ins Gedächtnis gerufen werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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