Eine Rezension von Irene Knoll

Nicht grade höflich, aber schnell

Walter Kiaulehn: Der richtige Berliner
Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1996, 270 S.

Das ist ein Buch, das den gebürtigen Berliner mit fröhlichem Mut gegen all die gepflegte ei- und au-Lautung der zugezogenen Zungen erfüllt. Sie haben zwar gewissen „Schangsen“, sich zu assimilieren, die Gefahr, die fürs Berlinische von ihnen ausgeht, ist aber genausogroß. Das Berlinische ist ja nicht ein Dialekt schlechthin, es ist Ausdruck einer Geisteshaltung und einer Lebensart. Art können Sie hier ruhig als Kunst begreifen. Und die ist in den letzten Jahrzehnten ganz schön uff'n Hund jekomm. Was die Westberliner sind, die haben sich dünne gemacht, will sagen, sie sind in beträchtlicher Zahl nach dem Mauerbau aus der umgrenzten Stadt weggezogen, dem Osten wurde die fünfte Besatzungsmacht aufgezwungen - „Sachsenhausen in Berlin“ sagten die Eingeborenen dazu. Aber es gibt ihn noch, den richtigen Berliner. Erst gestern ist mir einer begegnet, ein etwas älterer Mann, der in der anruckenden Straßenbahn ins Stürzen kam, nach der Haltestange angelte und den Schreck kommentierte mit dem Satz: „Opa, halt dir fest.“ Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Man kann nur hoffen, daß der Opa viele Enkel mit Standesbewußtsein hat, dann gibt es eine Perspektive fürs Berlinische. Es hat ja schon andere Krisensituationen überlebt. Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten ist das Produkt einer solchen Krise. Er erschien vor fast 120 Jahren, 1878, im Verlag H. S. Hermann in Berlin als Reaktion auf die Notlage, in die das Berlinische geraten war, nachdem die Einwohnerzahl der Stadt in wenigen Jahrzehnten um das Vierfache gewachsen war und nach der Reichseinigung noch sprunghaft stieg. Hans Meyer, Professor am Grauen Kloster, einem für die Pflege der Altsprachen berühmten Gymnasium in Berlin, unternahm diesen Rettungsversuch, und zwar nicht bloß aus Lokalpatriotismus, sondern auch aus wissenschaftlicher Akribie. Es grämte ihn, daß die Sprache der Stadt von den gebüldeten Ständen zum Komischen hin mißdeutet wurde, Sie sei ein „natürlich erwachsener Dialekt mit eignem Charakter und eignen Gesetzen. Mit ihr, wie mit jeder deutschen Mundart, verglichen, ist unsere hochdeutsche Bildungssprache ein künstliches Erzeugnis“, so schrieb er ins Vorwort der fünften Auflage von 1904. Sechs Auflagen bearbeitete und revidierte er selbst, drei weitere Nachauflagen wurden von dem ihm befreundeten Professor Mauermann besorgt. Meyer war der erste, der die historische und theoretische Sachlage wahrnahm, das Berlinische also vom Vorwurf, ein Jargon zu sein, reinigte. Daß dir und dich - Opa, halt dir fest! - bzw. mir und mich verwechselt würden, ist nicht richtig, mich kommt im Berlinischen nicht vor. Wissenschaftlich begründete Professor Meyer den Zusammenfall von Dativ und Akkusativ mit der Herkunft aus dem niederdeutschen mi. Die Grammatik des Berlinischen, Lautungen, die eigenwillige Konjugation, Betonungen, die Aussprache, die Einfärbungen aus anderen Sprachen, die Bedeutung der Wörter und die Redensarten bilden den größten Teil des Büchleins. Man liest ihn mit größtem Vergnügen und mit Gewinn, falls man bereits zu den Ungereimtheiten des Berlinischen vorgedrungen ist. Warum kommt es mir unecht vor, wenn jemand Oojen sagt, wenn es doch nach meiner Muttersprache Ooren zu heißen hat? „Dit paßt wie die Faust uffs Oore!“ Weil in den Berliner Kiezen verschiedene Mundarten gesprochen werden. Wer dit sagt, wurde woanders geboren als der, der det sagt.

Der alte Fritz sprach ganz gut Berlinisch, vom Vater her, jedenfalls besser als Deutsch. Erst unter seinem Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., wurde die alte Stadtsprache abqualifiziert. Sie hat es aber überlebt, das Originelle sammelte sich in den unteren Volksschichten, und der wirklich gebildete Berliner benutzte den Dialekt bewußt, er spricht nun mal schneller und pointierter. Auch die Dichter, von Glaßbrenner bis zu Tucholsky, haben sein Eigenes bewahrt.

Walter Kiaulehn, der den „Richtigen Berliner“ in der Nachfolge Mauermanns bearbeitet und ergänzt hat, läßt ein Engagement erkennen, daß man auch Liebe nennen könnte. Er folgt treulich und uneitel den Ansprüchen seiner Vorgänger und rühmt deren Verdienste. Dazu gehört die wohlbegründete Unterscheidung zwischen dem kiezigen Berlinisch und dem sogenannten Hochberlinisch, das weltstädtische Weite hat. Was im Kapitel über „Sprache und Witz des Berliners“ kurz, liebenswürdig und prägnant mitgeteilt wird, öffnet Herz und Verstand für die Eigentümlichkeiten der Sprache und ihren Ausdruckswert.

Womit die Nichtberliner am meisten zu tun haben, das ist wohl die berlinische Ironie. Diese Art, das Gegenteil zu sagen von dem, was man meint, wird nicht selten als Ungezogenheit betrachtet. Man hält die Berliner, und natürlich vor allem die Frauen, für schnippisch, wenn sie aus einer Situation den Witz ziehen, den andere nicht erkennen, und ihn auch noch aussprechen. Der Berliner lebe in einer ironischen Grundstimmung, wird im „Richtigen Berliner“ gefolgert. Überliefert ist ein Wortwechsel zwischen dem Maler Liebermann, der auch ein Beispiel gibt für das gewissermaßen parteiische Berlinisch des aufklärerisch gesonnenen Intellektuellen, mit Professor Sauerbruch. Liebermann hatte zum Entsetzen des bekannten Charité-Arztes dessen schon fast fertiges Porträt wieder abgekratzt. „Aber warum denn, es war so sehr schön!“, sagte der. „Et war eben nich scheen, et war falsch“, entgegnete Liebermann. „Na, ich hätte es so gelassen“, meinte der Professor. Und Liebermann: „Tja, Ihre Irrtümer, Herr Jeheimrat, deckt der jrüne Rasen, aber meine, die hängen an de Wand!“

Die antithetische Redeweise, die den Berliner Witz auszeichnet, so sagen die Autoren, ist dem Neuen Testament abgelauscht. Das aufklärerische Berlin war protestantisch belesen, und solche Redeweisen wie „Die Ersten werden die Letzten sein!“ sollen den Lakonismus des Berlinischen außerordentlich befruchtet haben. „Dir wer ick helfen“ oder „Noch wat jefällig?“ wären etwa Verkehrungen solcher Art. Andere Attribute der Sprache sind ihre Bildhaftigkeit, die Übertreibung und eine gewisse Derbheit. Damit werden die schönsten Effekte erzielt. „Kennste die Mehrzahl von Turm? ... Na, denn türme!“ All die Elemente, die aus anderen Sprachen aufgenommen und gewissermaßen organisch ins Berlinische eingefügt worden sind, beweisen schon die Beweglichkeit des Denkens in der Stadt. Jüdisches, Französisches, Englisches, Polnisches wird nachgewiesen. Redensarten machen auch heute noch schnell die Runde. Allerdings scheint mir, daß die Kritikfähigkeit der Berliner gegenüber fremden Einflüssen nachgelassen hat. Die Genitivapostrophe, die sich besitzanzeigend tummeln, von Kayser's Verbrauchermarkt bis zu Christa's Schmuckschatulle und all die anderen gleichmacherischen Amerikanismen, dazu die Sprechblasensprache in den Comics lassen Befürchtungen aufkommen. Aber Meyer, Mauermann und Kiaulehn meinten, jede Sprache brauche die Begegnung mit dem Primitiven und mit der nackten Roheit, nur so bleibe sie frisch.

Das läßt uns hoffen. Und natürlich Regine Hildebrandt, die das Berlinische politikfähig gemacht hat. Wer weiß, wenn sie noch öfter im Bundestag auftritt, spricht der vielleicht schon ganz gut berlinisch, wenn er wirklich mal in die Hauptstadt umzieht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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