Eine Rezension von Kurt Wernicke

Berlin - schwierige Metropole

Werner Süß (Hrsg.): Hauptstadt Berlin
Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1995, Bd. 1 und 2, 490 bzw. 623 S.

Es war eine glückliche Idee des als berlinspezifisches Unternehmen ausgewiesenen Verlags Arno Spitz, das Hin und Her um die Hauptstadtfindung im wiedervereinten Deutschland durch eine Publikationsreihe zu begleiten, die späteren Geschlechtern Einblick in die Sicht der Betroffenen auf die - dann sicher nicht mehr verständlichen - Probleme und Problemdebatten der Zeitgenossen vermittelt: So blicken z. B. die einschlägigen Spätergeborenen voller wissenschaftlichen Interesses auf die deutsche Verfassungsdebatte der Jahre 1848 bis 1850, für deren zeitgenössische Relevanz die Nachwelt auch kaum noch Einfühlungsvermögen aufbringen kann. Bis jetzt liegen zwei Bände vor, ein dritter mit dem Titel Berlin im Umbruch ist bereits angekündigt, seine Beiträge sind schon benannt. Daß schon in der Gegenwart der Bedarf an sachgemäßer Argumentation zum Thema groß ist, beweist der Umstand, daß Bd. 1 kaum ein Jahr nach seiner Erstveröffentlichung im Sommer 1994 in dritter Auflage vorliegt.

Dieser Bd. 1 weist sich mit dem Bandtitel Nationale Hauptstadt - Europäische Metropole als ein Aufsatzwerk aus, in dem zunächst einmal grundsätzliche Positionen abgesteckt werden: Braucht angesichts der langsam Gestalt annehmenden europäischen Dimensionen überhaupt noch über das Gewicht nationaler Regierungszentren hin- und hergewichtet zu werden? Welche Rolle spielen denn Hauptstädte überhaupt für das politische, wirtschaftliche, kulturelle Umfeld im Rahmen dessen, was gängig - aber nicht unumstritten - nationale Identität genannt wird? Berlin hatte ja spätestens seit 1945 einen eklatanten Verlust an realer nationaler Leitfunktion (im Kalten Krieg durch eine hypertrophierte symbolische Leitfunktion in etwa ausgeglichen) aufzuweisen und war seiner einstmals innegehabten Metropolenfunktion bis aufs letzte entkleidet. Erfreulicherweise gehen die 30 Autoren der 29 Beiträge des Bds. nicht vorrangig davon aus, daß der Mythos des einst Gewesenen einen selbstverständlichen Anspruch darauf schaffe, nun wieder, als sei nichts gewesen, in das einst gefeierte bzw. kritisch gesehene Ambiente zu schlüpfen; obgleich in beiden Bänden nicht ein einziger der Berlin-Gegner zu Worte kommt, werden deren Argumente (die letztlich auf „Angst vor einer Entwestlichung oder Verostung Deutschlands“ /S.41/ hinauslaufen) im Vorfeld des Berlin-Beschlusses des Bundestags vom 20. 6. 1991 wie auch bei dem nachfolgenden Verschleppungsfeldzug doch aufgegriffen - und durchaus nicht in jedem Falle hochmütig abgestraft. In drei Komplexen wird untersucht, wie denn der Weg zur Spree-Metropole als einer führenden europäischen Adresse seit 1990 verlief (die Bilanz ist relativ mager) und wie sie weiter verlaufen könnte. Ein erster Komplex („Hauptstadtfindung“) gibt eine Darstellung des vom Ausland mit Verwunderung registrierten Hin und Hers um die deutsche Hauptstadt bis zum Beschluß vom 20. 6. 1991 und analysiert diesen und die zähe Verschleppung seiner Umsetzung. Der zweite Komplex behandelt „Berlin in der europäischen Dimension“. Er schätzt den Bedeutungsgehalt einer metropolen Region in der Mitte Europas als denkbare Drehscheibe zwischen einem nicht mehr in Ost und West getrennten Europa ein und malt ein hoffnungsvolles Zukunftsbild; hier wird auch mit wenigen Zeilen von einem in Moskau angesiedelten Autor auf etliche Vorleistungen Ost-Berlins im deutsch-osteuropäischen und deutsch-südosteuropäischen Verhältnis in vier Nachkriegsjahrzehnten seit 1949 verwiesen. Problematisch scheint aber die optimistische Übertragung von geographischer Mittellage auf die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen der östlich der Oder und entlang der Donau sich vollziehenden Umbrüche nichtsdestotrotz - denn dort sind auch ganz andere Ausrichtungen denkbar als auf Berlin zielende! Um die angepeilte Attraktivität Berlins für Investoren und Marktkunden geht es folglich im dritten Komplex, der „Entwicklungsdynamik und Profil Berlins“ auslotet. Da ist viel von k ü n f t i g e m Finanzplatz und künftiger Dienstleistungsmetropole die Rede, auch wieder von der enormen Anziehungkraft einer vielbeschworenen Berliner Multikulturalität - aber zwei junge Finanzwirtschaftler mahnen dringlich nüchternen Realismus an angesichts des „spezifischen Modernisierungsschocks, den die (Berliner) Stadtbevölkerung durchlebt ... Die Aufhebung der Insellage, die radikale Umorientierung Ost-Berlins sowie das unvermittelte Aufeinandertreffen beider ehemals getrennter Stadthälften bedarf einer Zeit der Gewöhnung.“ (S. 454) Und sie fragen besorgt, ob und inwieweit denn die Institutionen des Senats und des Stadtmanagements imstande sind, der politischen Rhetorik entsprechende Leitbilder der Stadtplanung auch zu realisieren (geschrieben ist dies im Frühjahr 1994, lange vor dem „Kassensturz“ der wiederaufgelegten Großen Koalition!!).

Bd. 2 trägt den Untertitel Berlin im vereinten Deutschland und läßt 42 Autoren (z. T. in Gemeinschaftsaufsätzen) zu Worte kommen. Die Einleitung des Herausgebers benennt mit „Die ,Vollendung der Einheit‘. Die Hauptstadt zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ den Spannungsbogen, in dem die Berliner Selbstdarstellung sich themenreich ausbreitet. Der Regierende Bürgermeister, vier Senatoren und der Senatsbaudirektor der 1991-1995 regierenden Großen Koalition legen dort u. a. ihre Sicht auf die Bewältigung der unter ihrer Ägide vorgefundenen und anfallenden berlinspezifischen Probleme dar. Das ist im Einzelnen nicht ohne Reiz, aber in der Tendenz läuft es letztlich (vielleicht mit Ausnahme von Kultursenator Roloff-Momin, der den strapazierten Begriff „Kulturmetropole“ nachdrücklichst in Frage stellt) auf vorauseilenden (wenn schon nicht „verordneten“) Optimismus hinaus, der die überall sichtbaren Problemfelder schönredet. Ist Bd. 1 dreigeteilt, so ist Bd. 2 in vier Komplexe untergliedert: 1. „Perspektiven. Entwicklungschancen und Hemmnisse“; 2. „Bundeshauptstadt. Politik zwischen Berlin und Bonn“; 3. „Wirtschaftsstandort. Auf dem Weg zur Hauptstadtregion“; 4. „Metropole. Zwischen Vergangenheit und Neubeginn“. Der 1. Komplex untersucht den Prozeß der Entwicklung Berlins zur Bundeshauptstadt, wobei generelle Einschätzungen das Schwergewicht bilden und vieles mitgeteilt wird, was man genauso bereits im 1. Bd - wenn auch nicht aus so prominenter Feder wie der eines Bundesministers (Töpfer) bzw. eines Ministerpräsidenten (Schröder) oder eines stellvertretenden Parteivorsitzenden (Thierse) - lesen konnte. Im 2. Komplex werden Gedanken hin und her bewegt, die mit der Analyse der künftigen Berlin-Bonner Arbeitsteilung in der Wahrnehmung der politischen Leitfunktionen der Bundesrepublik zu tun haben. Der Normalbürger nimmt hier staunend zur Kenntnis, welche kaum erahnten Implikationen der Bundestagsbeschluß vom 20. 6. 1991 mit seinen Kompromiß-Zugeständnissen zur Befriedigung Bonner Befindlichkeiten für die zentralen Institutionen des bundesrepublikanischen politischen Systems hervorgerufen hat - und ihm wird bestürzend klar, daß das unentwirrbare Ineinander von parlamentarischer Legislative und bürokratischer Exekutive am Beispiel der Verwirklichung des Hauptstadtbeschlusses jeden das Fürchten lehren kann, der auf die erfolgreiche Inangriffnahme dringender globaler Probleme auf Regierungsebene hofft ...

Der 3. Komplex widmet sich der ökonomischen Abschätzung der Metropolenperspektive und bemüht sich um eine Klärung der Frage, ob und wie sich bei der bemerkbaren Herausbildung eines neuen Wirtschaftsterritoriums (Berlin plus „Speckgürtel“) eine noch steuerbare Gesamtregion abzeichnen könnte. Dabei wird übrigens im - 1995 noch weiten - Vorfeld der Volksabstimmung zur Fusion Berlin-Brandenburg übereinstimmend zwar der Vorteile einer fusionären Entwicklung gedacht, aber auch das Potential alternativer Steuerungsinstrumente als noch lange nicht genügend ausgebaut eingeschätzt! Dieser 3. Komplex ist der bei weitem kontroverseste der insgesamt sieben Unterthemen beider vorliegender Bände, denn neben den euphorischen Huldigungen an die „größte Baustelle der Welt“ und Edzard Reuters Vision von der „Megastadt“, die zu den weltweit dreißig Megazentren aufschließen könnte (gesetzt den Fall, das wäre überhaupt erstrebenswert ...), äußern sich hier auch wesentlich nüchternere Stimmen, die zwar einen Gründungsboom reflektieren, ihn aber hinsichtlich der großen Erwartungen auf eine selbsttragende wirtschaftliche Leistungs- und Ausstrahlungskraft ohne Euphorie sehen. Stirnrunzelnd muß der Historiker übrigens zur Kenntnis nehmen, daß keiner der Autoren die reichlich vorhandene wissenschaftliche Literatur zum Ablauf früherer Randwanderungen und Verflechtungen in und um Berlin herangezogen hat. Da breitet sich doch ein beträchtliches Unbehagen an des Geschichtswissenschaftlers Selbstverständnis um seine Leistungen für die Gesellschaft aus!

Der 4. Komplex bemüht sich in nicht weniger als dreizehn Beiträgen (den Wirtschaftsproblemen müssen fünf genügen ...) um die Frage, welches Kapital Berlin an geschichtlichem Erbe in eine wiederzuerlangende Metropolenstellung einzubringen habe, wie damit umzugehen sei und wie es möglichst sinnvoll in die Anforderungen der sich abzeichnenden modernen Medien- und Kommunikationsgesellschaft hineinzutransportieren sei. Da machen sich durchaus ausgewiesene Kenner (wie der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Prof. Knopp) ernsthafte Gedanken über die möglichen Potenzen, die Wissenschaft und Kultur (besonders auch kulturelles Erbe, zu dem ja auch Bausubstanz und Stadtbild gehören) zur Attraktivität einer normalen europäischen Metropole Berlin beizusteuern imstande sind. Die Größenordnung solcher Aufgabenstellung schreit aber verständlicherweise nach einem Finanzrahmen, der aus der gegenwärtigen öffentlichen Hand nicht zu erwarten ist; der Ruf nach den Mäzenen klingt daher an vielen Stellen hörbar durch die Zeilen. Nur: Die Ausformung eines attraktiven Ambientes bedarf einerseits offensichtlich des privaten Geldgebers; aber der kommt andererseits nur dann, wenn noch vorhandene Funktionsdefizite (Infrastruktur! Eigentumsverhältnisse! Antragsverschleppungen im Behördendschungel!) beseitigt sind und Berlin den vollen Anschluß an die Dienstleistungsökonomie gefunden hat. Daß das stadtzivilisatorische Niveau durch ein sichtbares Beieinanderliegen von Höhen und Tiefen (das Wort „Graffiti“ taucht in beiden Bänden nicht ein einziges Mal auf!) charakterisiert ist, symbolisiert der letzte aller Beiträge, der von Innensenator Heckelmann stammt und „Berlin - Hauptstadt der Kriminalität?“ (sie ist es natürlich mitnichten!) betitelt ist.

Nach dem Studium der (inclusive der beiden Einleitungen) 66 Beiträge beider vorliegender Bände fragt sich der unbefangene Leser, wie Herausgeber und Verlag es wohl bei einem solch anspruchsvollen Unternehmen vor der Nachwelt - die ja nach den Bänden als dem Standardwerk zur Umsetzung des Bundestags-Hauptstadtbeschlusses von 1991 greifen wird - wissenschaftlich verantworten wollen, daß auf insgesamt über 1100 Seiten das Kunststück fertiggebracht wird, zu verschweigen, daß ohne die 17 bzw. 18 Stimmen der PDS-Bundestagsgruppe die ganze Abstimmung am 20. 6. 1991 trotz aller bewegenden und beschwörenden Redeleistungen von Wolfgang Schäuble (CDU) und Wolfgang Thierse (SPD) zuungunsten von Berlin ausgegangen wäre! Dagegen erfährt die Nachwelt (Bd. 1/S. 84) von MdB Kansy, daß der Antrag der Bundestagsgruppe PDS/Linke Liste vom 20. 6. 1991 zur sofortigen Verlegung von Regierung und Parlament nach Berlin als deutscher Hauptstadt keine Chance hatte: „Er war zu kompromißlos.“ Dabei verschweigt MdB Kansy, daß MdB Gysi vor der Abstimmung zum Antrag den Antrag der PDS/Linke Liste zurückzog, um alle Stimmen für Berlin zu bündeln. Zwei Aufsätze in Bd. 2 (SPD-Urgestein Hans-Jochen Vogel: „Die Hauptstadtentscheidung in ihrer Wirkung auf die Parteien“; und „Hauptstadt Berlin und die Parteien. Zur sozialräumlichen Dimension der postmodernen Politik“ von zwei Politologen der Uni Bochum) beschäftigen sich dann auch mit CDU, SPD, FDP und GRÜNEN, ja selbst mit der CSU (Vogel scharfsinnig: „Hingegen wird die CSU als eine bayerische Landespartei sicher auch künftig ihren Sitz in München haben.“ [S. 199]), aber damit hat sich dann die deutsche Parteienlandschaft auch schon. Auf solche Art kann mittels einer Verschwörung des Schweigens auch in den dickleibigsten Kompendien die historische Wahrheit auf der Strecke bleiben.

Unbeantwortet bleibt auch das Problem, ob nun 337 oder 338 Abgeordnete für Berlin als Hauptstadt gestimmt haben: Es werden sowohl 337 (z. B. Bd. 1/S. 77) als auch 338 (Bd. 1/S. 45) benannt - für ein künftiges Nachschlagewerk eine etwas problematische Auskunft. (Vgl. zu der verschiedenen Anzahl von Stimmen BM 6/1996, S. ff.)

An ganz versteckter Stelle gibt die Publikation übrigens Aufklärung über ein brisantes Problemfeld, dessen Ansprechen man im Zusammenhang mit der Bonn-Berlin-Problematik nicht erwartet hätte - das aber nichtsdestoweniger verdient, an die große Glocke gehängt werden: Igor F. Maximytschew, heute Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften zu Moskau, 1989/90 aber als Diplomat Gesandter an der Sowjet-Botschaft in der DDR (und damit Zweiter Mann nach Botschafter Kotschemassow!), äußert sich aus seiner intimen Kenntnis heraus in dem Beitrag „Berlin - deutsche Hauptstadt in der Mitte Europas“ zur Lage in der sich rasant wandelnden DDR im Winter 1989/90. „Zweimal, im Dezember 1989 und im Januar 1990, ging das Gespenst bürgerkriegsähnlicher Zustände um. Da alle staatlichen Ordnungsinstanzen (Stasi, Armee, Polizei) im Zerfallen waren, ist es wahrscheinlich, daß hier die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen involviert waren. Hätte man sich ihre Untätigkeit vorstellen können, wenn es daneben (soll heißen: neben ihnen. K. W.) zu Blutbädern und Lynchjustiz gekommen wäre?!“ (Bd. 1/S. 328). Bei eventuellen nochmaligen Albernheiten einer frustrierten Wendepolitikerin über die verpaßte Gelegenheit, der DDR-Novemberrevolution mehr Elan zu verleihen, weil es in der Wendezeit daran gefehlt habe, „etliche“ aufzuhängen, sollte man zur Abkühlung Maximytschews Erinnerungsreflexionen zur Hand haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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